Dr. Angelika Pillen - Leiterin Institut für Fort- und Weiterbildung der Alexianer
Bezugspflege in der Psychiatrie
Bezugspflege in der Psychiatrie
Die strukturelle Verankerung einer reflexiven Ebene regt dazu an, implizites
Erfahrungswissen explizit und so einer systematischen Überprüfung und Abwägung zugänglich zu
machen. Dies stellt hohe Anforderungen an die psychiatrische Pflege. Denn die in der
Kommunikation und Interaktion mit den Patienten stattfindenden Prozesse sind oft subtil und
entziehen sich einer eindeutigen Objektivierung. Die über die psychiatrische Krankheitslehre
vermittelten Wahrnehmungsraster können zwar eine grobe Orientierung geben, werden der
konkreten Individualität des Patienten jedoch nicht gerecht. Unter Umständen können sie
sogar kontraproduktiv für die Gestaltung der Beziehung sein, denn sie engen den Blick auf
den Patienten, weil sie ihn vorstrukturieren, stets ein Stück weit ein.
Aktivitäten des täglichen Lebens
Als Bezugspunkt für ihre Interventionen dienen der Pflege bekanntlich die Aktivitäten des
täglichen Lebens. In der damit gegebenen Verwobenheit mit der Sphäre des Alltäglichen
finden wir einen weiteren Grund dafür, dass es Pflegenden oft schwer fällt, ihre
Interventionen explizit zu machen. Denn die Handlungen, die zur Bewältigung des
Alltäglichen erforderlich sind, sind in ihrer Unmittelbarkeit so selbstverständlich und
nah, dass es einer gewissen Mühe bedarf, sich in eine Distanz zu ihnen zu bringen. Dies
ist jedoch die Voraussetzung dafür, sie wahrnehmen und explizit vergegenwärtigen zu
können.
Bezugspflegende in der Psychiatrie haben die Aufgabe, die Beziehung zu den ihnen
zugeordneten Patienten so zu gestalten, dass eine Vertrauensbasis hergestellt wird. Damit
schaffen sie die Voraussetzung für die Bearbeitung der Probleme, die den Patienten daran
hindern, sein Leben so zu führen, dass er in hinreichender Weise Wohlbefinden und
Zufriedenheit erfahren kann.
Beziehung als Lern- und Übungsfeld
Die Beziehungsgestaltung dient dem Ziel, den Patienten bei der Bewältigung seiner
Probleme zu unterstützen bzw. dabei, einen besseren Umgang mit diesen Problemen zu finden.
Zu diesem Zweck bieten Bezugspflegende ihm die Möglichkeit an, die Beziehung zu ihnen als
Lern- und Übungsfeld zu nutzen. Sie unterstützen ihn bei der Entwicklung einer
angemessenen Selbst- und Fremdwahrnehmung und helfen ihm dabei, in der Beziehung zu sich
selbst und zu anderen Menschen Achtsamkeit zu entwickeln und destruktive Impulse zu
regulieren. Sie sind für ihn zugleich Modell, Resonanzboden und Coach.
Mit den soeben beschriebenen Aufgaben ist die Bezugspflege integraler Bestandteil des
therapeutischen Angebotes des jeweiligen Versorgungsbereiches. Während die Therapien die
Probleme des Patienten vorwiegend diskursiv und somit auf einer Metaebene angehen,
begegnet die Bezugspflege den Problemen auf der Ebene des konkreten Alltagshandelns.
Strategien, die in der Therapie entwickelt und geplant werden, werden in der Bezugspflege
auf der Ebene des Alltagshandelns erprobt und auf ihre Tauglichkeit hin überprüft. So
erfolgt mittels der Bezugspflege die Realitätsprüfung für das, was in der Therapie
erarbeitet worden ist.
Therapie und Bezugspflege sind wechselseitig aufeinander verwiesen, die Therapie kommt
bei Menschen, deren Fähigkeit zur Bewältigung des eigenen Lebens erheblich eingeschränkt
ist, nicht ohne das Lernfeld der Bezugspflege aus, umgekehrt bedarf die Begleitung des
Alltagshandelns durch die Bezugspflege der reflexiven Durchdringung der Therapie, da die
Betroffenen ihren Problemen ja in diesem Bereich begegnen.
Kompetentes Handeln in einer professionellen Beziehung
In konkreten Einzelsituationen der Praxis ist es immer wieder schwierig, zuweilen sogar
unmöglich, Bezugspflege und Therapie klar voneinander abzugrenzen. In beiden Bereichen
finden Prozesse statt, die therapeutische Wirkfaktoren enthalten. In der Therapie
geschieht dies vorwiegend im Medium der Reflexion, in der Bezugspflege vorwiegend im
Medium des Alltagshandelns, das in einem therapeutischen Prozess indessen stets mehr ist
als einfaches Alltagshandeln. Da die Probleme des Patienten hier gegenwärtig werden,
bietet das Alltagshandeln zahlreiche Anlässe zu ihrer Bearbeitung. Pflegekräfte sind mit
der Art und Weise, wie sie die Aktivitäten des täglichen Lebens gemeinsam mit dem
Patienten gestalten, ihn bei der Nutzung seiner Ressourcen unterstützen und ihm helfen,
neue Ressourcen zu entwickeln, therapeutisch wirksam. Allerdings können sie ebenso durch
unbedachte Formen der Interaktion maligne Entwicklungen begünstigen.
Da die diffuse Zuständigkeit des gesamten Pflegeteams im Bezugspflegesystem zugunsten
einer Individualbetreuung aufgehoben ist, wird die Beziehung zwischen der Pflegekraft und
den ihr zugewiesenen Patienten sehr viel dichter. Damit erweitern sich die Möglichkeiten
therapeutischer Wirksamkeit, zugleich aber auch die Risiken einer malignen Entwicklung bei
ungünstigen Formen der Interaktion. Umso wichtiger wird es, dafür zu sorgen, dass die als
Bezugspflegende arbeitenden Pflegekräfte mit den für ihre verantwortungsvolle Aufgabe
erforderlichen Kompetenzen ausgestattet werden.
Eine neue Sicht auf das Gegenstandsgebiet der Psychiatrie
Eine neue Sicht auf das Gegenstandsgebiet der Psychiatrie
Es ist ein günstiger Zufall, dass die Etablierung der Bezugspflege in der Psychiatrie
zeitlich mit einer anderen Entwicklung zusammenfällt, von der wertvolle Impulse für die
Kompetenzentwicklung der psychiatrischen Pflege ausgehen können.
In den letzten Jahren ist die zentrale Bedeutung von traumatischen Erfahrungen für die
Entwicklung von psychischen Störungen immer mehr in den Fokus der psychiatrischen
Aufmerksamkeit gerückt. In diesem Zusammenhang hat sich eine neue Form der Vermessung des
psychiatrischen Gegenstandsgebietes herausgebildet.
Psychotraumatologie
Die Psychotraumatologie setzt sich mit den Formen auseinander, in denen traumatische
Erfahrungen das Seelenleben und die Entwicklung der Persönlichkeit prägen bzw. verändern.
Sie bietet uns damit ein erweitertes Verständnis für viele psychische Störungen und
Symptome an und leistet so einen wichtigen Beitrag, die Nöte der betroffenen Patienten
besser zu verstehen.
Der Fokus der Psychotraumatologie geht dabei weit über die direkt traumatischen
Erlebnissen zugeordneten Krankheitsbilder hinaus. Sie eröffnet neue Zugangsmöglichkeiten
zu vielen psychischen Krankheiten, die bislang mit anderen Konzepten betrachtet werden.
Traumatische Erfahrungen
So wird inzwischen immer deutlicher, dass eine Reihe von psychiatrisch auffälligen
Verhaltensweisen wie etwa der Substanzmissbrauch in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen
mit traumatischen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden kann. Vor allem aber die
Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung steht häufig in einem engen
Zusammenhang mit schweren traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und kann daher als
Folgeerscheinung einer komplexen Traumatisierung angesehen werden [[1], S.46ff.]
Die zunehmende Verbreitung des Ansatzes ist nicht zuletzt deswegen erfreulich, weil sie
eine Rückbesinnung der Psychiatrie auf die Erfahrung in Aussicht stellt (der Begriff der
Erfahrung wird hier im Sinne der Phänomenologie verwendet, die ihn von einem
naturalistischen Verständnis abgrenzt: Erfahrung bezeichnet in dieser Tradition die
Struktur des In-der-Welt-Seins, die als allgemeines Ordnungsschema vorgibt, in welcher Art
und Weise Ereignisse wahrgenommen werden). Gleichzeitig gelingt es dem Ansatz,
verschiedene Denkrichtungen der Psychiatrie, die ansonsten häufig miteinander in Konflikt
liegen, unter ein gemeinsames Dach zu bringen. Sowohl neurobiologische Untersuchungen zur
Physiologie der traumatischen Erfahrung als auch hermeneutische Rekonstruktionen des
inneren Erlebens im Kontext psychodynamischer Ansätze haben in der Psychotraumatologie
einen Platz, ohne sich wechselseitig die Definitionsmacht über das Gesamtgebiet streitig
machen zu müssen. Wegen des darin zum Ausdruck kommenden Synthetisierungsvermögens hat der
Begriff des Traumas beste Aussichten, sich als neues Paradigma der Psychiatrie
durchzusetzen. (Es ist, nebenbei bemerkt, nicht ganz korrekt, von einem neuen Paradigma zu
sprechen. Im Verlaufe der Geschichte der Psychiatrie sind die pathogenen Wirkungen von
schweren traumatischen Erfahrungen wiederholt thematisiert worden. Allerdings haben diese
Einsichten sich nicht durchsetzen können und wurden alsbald wieder vergessen [[2], S.17ff.]
Traumaschema und traumakompensatorisches Schema
Die Psychotraumatologie geht von Erfahrungen aus, die das Selbst- und Weltverständnis von
Menschen in gravierender Weise erschüttert haben. Das psychische Trauma wird dabei als ein
„vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten bestimmt, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser
Preisgabe einhergeht“ [[3], S.395]. Die
Erfahrungsstrukturen, die in diesem Zusammenhang ausgebildet werden, bleiben fortan
prägend, d. h. die Art und Weise, wie Betroffene die Wirklichkeit erleben und sich in der
Wirklichkeit bewegen, wird in hohem Maße von der traumatischen Erfahrung bestimmt. Vor
allem in der emotionalen Reaktion auf Situationen wird das in den Tiefenregionen des
Gedächtnisses eingravierte Traumaschema wieder gegenwärtig. Mit dem Begriff des
Traumaschemas wird das zentrale, in der traumatischen Situation aktivierte Wahrnehmungs-
und Handlungsschema bezeichnet, das im Sinne von Trauma als einem unterbrochenen
Handlungsansatz mit Kampf- bzw. Fluchttendenz die traumatische Erfahrung im Gedächtnis
speichert [3].
In Reaktion auf Angst auslösenden Erinnerungsreize bildet sich in der Folge ein
sogenanntes traumakompensatorisches Schema aus [3].
Traumakompensatorische Schemata funktionieren analog zu den in der Psychoanalyse
beschriebenen Abwehrmechanismen. So wie diese die Funktion haben, unliebsame und
konfliktauslösende Repräsentanzen aus dem Bewusstsein fernzuhalten, um die Integrität des
Ich zu schützen, haben jene die Aufgabe, die im Traumaschema verankerten Gefahren
fernzuhalten, mit der nämlichen Schutzfunktion. Die zwischen den ins Bewusstsein
drängenden Inhalten des Traumaschemas und den Abwehrstrategien des traumakompensatorischen
Schemas sich entspannende Dynamik produziert charakteristische Symptome. Sie prägt die
Beziehung der Betroffenen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur Umwelt nachdrücklich
und kann mit gravierenden Einschränkungen verbunden sein. In diesem Zusammenhang begegnen
wir den Betroffenen als Patienten in der Psychiatrie.
Das Wissen um traumainduzierte Formen des Erlebens und Agierens und um Möglichkeiten, die
Betroffenen bei der Bewältigung der damit einhergehenden Probleme zu unterstützen, ist aus
diesem Grunde für alle Akteure in psychiatrischen Versorgungsstrukturen relevant, die die
Aufgabe haben, eine Beziehung mit den Betroffenen zu gestalten. Dazu gehören auch die
Pflegekräfte, vor allem diejenigen, die im System der Bezugspflege arbeiten.
Psychotraumatologie als konzeptioneller Rahmen für die Gestaltung der Bezugspflege
Psychotraumatologie als konzeptioneller Rahmen für die Gestaltung der Bezugspflege
Da die Pflegekraft-Patient-Beziehung im Bezugspflegesystem sehr viel dichter wird als in
anderen Pflegesystemen, erhält die Gestaltung der Beziehung im Sinne der Möglichkeiten
therapeutischer Wirksamkeit hier ein größeres Gewicht. In diesem Zusammenhang bietet die
Psychotraumatologie neue Zugangswege zum Erleben von Patienten an, die für die
Beziehungsgestaltung fruchtbar gemacht werden können.
Zunächst ermöglicht sie ein tieferes Verständnis für diejenigen, bei denen direkt eine
posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden ist, darüber hinaus jedoch auch ein
besseres Verständnis für viele andere, deren Probleme mit einer anderen Diagnose verbunden
werden (für diesen Zusammenhang hat sich in den letzten Jahren der Begriff der
Doppeldiagnosen eingebürgert).
Dynamik zwischen Traumaschema und traumakompensatorischem Schema
Die von der Psychotraumatologie beschriebene Dynamik zwischen Traumaschema und
traumakompensatorischem Schema erlaubt es, den positiven Sinn vieler Verhaltensweisen und
Reaktionen zu verstehen, die ohne diesen Hintergrund als bizarr oder gestört beurteilt
werden. So wird mit dem Wissen darum, dass eine Frau in ihrer Kindheit von ihrem Vater
sexuell missbraucht worden ist, verständlich, warum sie das Essen verweigert, wenn
Bratwurst auf dem Speiseplan steht oder Joghurt zum Dessert angeboten wird: Pflegekräfte,
die in der stationären Versorgung von Patienten mit PTSD arbeiten, berichten, dass diese
Aversionen häufig bei Frauen mit Missbrauchserfahrungen vorkommen.
Aufgrund ihrer Form oder Konsistenz rufen diese Nahrungsmittel die mit der traumatischen
Kindheitserfahrung verbundenen Affekte des Ekels und der Abscheu wieder wach und machen
diese gegenwärtig. Sie werden – um den für diese Phänomene gebräuchlichen Begriff der
Psychotraumatologie zu verwenden – getriggert.
Übertragungsdynamik
Bezugspflegende werden aufgrund der besonderen Nähe, die sich zwischen ihnen und ihren
Patienten entwickelt, unweigerlich mit Elementen der im [Kasten 1] beschriebenen Logiken
konfrontiert. Zudem besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie im Rahmen der
Übertragung in die Dynamik zwischen Traumaschema und kompensatorischen Abwehrbemühungen
einbezogen werden. Für eine hilfreiche Gestaltung der Bezugspflege ist es aus diesem
Grunde unabdingbar, dass die mit dieser Aufgabe betrauten Pflegekräfte dazu in der Lage
sind, die Übertragungsdynamik zu erkennen und einen Umgang damit zu finden. Zumal dann,
wenn die Traumatisierungen von anderen Menschen ausgegangen sind, ist es hier eine
ständige Herausforderung, eine die gemeinsame Arbeit ermöglichende Vertrauensbasis
herzustellen und zu erhalten.
In unbearbeiteten Zustand kann die traumatische Erfahrung bei Betroffenen zum
organisierenden Zentrum ihrer Existenz werden und so ihr Leben beherrschen. Da gibt es
diejenigen, die die Struktur der traumatischen Situation unbewusst immer wieder selber
herstellen und sich an Versuchen abarbeiten, das Trauma auf diesem Weg zu überwinden.
Diese Dynamik hat bereits Sigmund Freud als Wiederholungszwang beschrieben, allerdings
gibt Freud dem eine triebtheoretische Begründung [[4],
S.229f].
In der Psychotraumatologie wird das Trauma ganz allgemein als Unterbrechung einer
Handlung bestimmt. Im Zurückgehen zu dieser Unterbrechung bemüht sich der Traumatisierte
darum, die unterbrochene Handlung zu ihrem Ende zu bringen [3]. In diesen Fällen gestaltet sich die Welt der Betroffenen als eine mit
Schrecknissen und Gefahren angefüllte Welt, ihr Leben ist von katastrophischen
Ereignissen bestimmt. Auf der anderen Seite finden wir diejenigen, die sich aus allen
Lebensbezügen und sozialen Kontakten zurückziehen, um jede Möglichkeit zu vermeiden,
erneut mit Elementen der traumatischen Erfahrung in Berührung zu kommen. Die Welt dieser
Patienten ist eine sehr reduzierte Welt, in der der lebendige Austausch mit Anderen
verloren gegangen ist. Das geht mit einer Abspaltung von Gefühlen einher mit der Folge,
dass die Betroffenen keine Verbindung mehr zu ihren Gefühlen herstellen können. Während
die zuerst Genannten sich immerzu von der traumatischen Erfahrung überflutet fühlen
(Intrusion) und in der Folge in einen Zustand der Erregung geraten (Hyperarousal), haben
diese den Zugang zu dieser Erfahrung erfolgreich versperrt (Dissoziation), allerdings um
den Preis, sich emotional tot zu fühlen (Numbing).
Pflegerische Interventionen
Das durch eine traumatische Erfahrung beherrschte Erleben ist mit einer Reihe von
Pflegeproblemen verbunden, die den Anlass für pflegerische Interventionen bilden. Eine
wichtige Orientierung bildet in diesem Zusammenhang das Ziel, den Zustand des in seinem
Selbst- und Weltverständnis erschütterten Patienten zu stabilisieren. So kommt es im
Rahmen des von Intrusionen bestimmten Erlebens der Wiederkehr des Traumas zu körperlichen
Stressreaktionen wie Schlafstörungen oder Kopfschmerzen. Pflegerische Interventionen
können hier etwa darin bestehen, gemeinsam mit dem Patienten Schlafrituale zu erarbeiten.
Bei den mit Intrusionen einhergehenden psychischen Stressreaktionen wie dem Gefühl
andauernden Bedrohtseins und/oder ausgeprägter Schreckhaftigkeit können die
Bezugspflegenden den Betroffenen Entspannungstechniken vermitteln und deren Anwendung mit
ihnen einüben. Des Weiteren können sie ihm dabei helfen, Trigger zu identifizieren und
gemeinsam mit ihm Möglichkeiten erarbeiten, einen Umgang damit zu finden.
Im Rahmen des von Dissoziationen bestimmten Erlebens, das die Patienten dazu veranlasst,
sich aus sozialen Kontakten zurückzuziehen und Begegnungen mit an das Trauma erinnernden
Begebenheiten oder Dingen zu vermeiden, können die Bezugspflegenden Versuche unterstützen
und begleiten, die Belastung dieser Begegnungen erneut auf sich zu nehmen. Bei dem häufig
auftretenden Grübelzwang können sie ihm Möglichkeiten der Entlastung aufzeigen und ihm
Distanzierungstechniken vermitteln. Nicht zuletzt identifizieren sie bei jedem Patienten
die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen und unterstützen ihn dabei, diese für sich zu
nutzen.
Selbstwirksamkeit
Alle Interventionen dienen dem Ziel, dem Patienten Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit zu
vermitteln. Bezugspflegende begleiten ihn bei seinen Versuchen, die verloren geglaubte und
zuweilen auch wirklich verloren gegangene Kontrolle über das eigene Leben wieder zu
gewinnen. Indem sie dem Patienten Techniken des Umgangs mit den Folgen der traumatischen
Erfahrungen vermitteln und ihm die Gelegenheit geben, diese Techniken zu erproben und
einzuüben, helfen sie ihm, den Bann des erlebten Schreckens, in dessen Zeichen sein Leben
zu stehen scheint, zu brechen, und sich selbst in eine Distanz und Differenz zu diesem
Schrecken zu bringen. Letztendlich dienen ihre Interventionen der Wiederherstellung von
Autonomie.
Fazit
Die in der Behandlung und Pflege von Patienten mit PTSD entwickelten und erprobten Methoden
können gewinnbringend in die Pflege von vielen anderen Patienten eingebracht werden, die
Probleme im Bereich der Selbstregulation haben. Dazu gehören vor allem die Patienten mit
Borderline-Störung.
So erwerben Pflegekräfte mit Kompetenzen im Bereich der Psychotraumatologie viele
Möglichkeiten zu gezielten Interventionen bei Patienten, deren Pflege als besonders
schwierig wahrgenommen wird. In jedem Fall kann die Psychotraumatologie wertvolle Anregungen
für eine gehaltvolle Gestaltung der Pflegekraft-Patient-Beziehung im Rahmen der Bezugspflege
geben. Aus diesem Grunde sei es Pflegekräften empfohlen, sich mit dem Ansatz
auseinanderzusetzen.
Das neu gegründete Alexianer- Institut für Psychotraumatologie bietet seit März 2011 (und
erneut ab März 2012) eine Zusatzqualifikation Bezugspflege Psychotraumatologie an, mit der
Pflegekräfte die beschriebenen Kompetenzen erwerben können. Nähere Auskünfte zu der
Qualifikation erhalten Siebei den beiden Geschäftsstellen des AIfP (Alexianer-Institut für
Psychotraumatologie) in Berlin und Krefeld (www.alexianer.de) oder bei der Autorin.