physiopraxis 2011; 9(9): 35-37
DOI: 10.1055/s-0031-1289156
physiotherapie

Therapie nach lumbaler Bandscheiben-OP – Verstaubte Ansichten

Joachim Schwarz
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Publication Date:
16 September 2011 (online)

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    Die Behandlung von Patienten nach Bandscheibenoperation an der LWS ist oft geprägt von pauschalen Verboten zum Beispiel, nicht zu beugen. Diese Verbote sind wissenschaftlich nicht haltbar, meinen Volker Sutor und Frank Diemer. Sie plädieren für den progressiven Weg.

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    Frank Diemer und Volker Sutor sind Physiotherapeuten, Autoren der Bücher „Praxis der medizinischen Trainingstherapie“ und Mitinitiatoren der Weiterbildungsgruppe „Fortbildungen für orthopädische Medizin und manuelle Therapie“ (FOMT).

    Frank und Volker, was sind eurer Meinung nach die drei größten Fehler, die momentan in der Therapie von Patienten nach Bandscheiben-OP gemacht werden?

    Frank Diemer: Zu viele pauschale Verbote, zu wenig Aktivität, zu wenig oder falsche Infos.

    Während meiner Ausbildung vor 15 Jahren war die Behandlung von Patienten nach Bandscheiben-OP immer mit Angst und großer Vorsicht von Seiten der Therapeuten verbunden: nicht drehen, nicht sitzen, nicht beugen, ja nichts kaputtmachen. Wie ist das heute?

    Volker Sutor: Einige Ausbildungsstätten gehen inzwischen progressiver vor, aber es wird auch immer noch viel Angst verbreitet.

    Worauf basiert diese Angst?

    VS: Wahrscheinlich darauf, dass biomechanische Untersuchungen irgendwann einmal falsch interpretiert und diese falschen Interpretationen immer weitergetragen wurden. Nehmen wir das Flexionsverbot: Historisch gesehen basiert es auf einer Studie von Alf Nachemson aus den 60er Jahren. Nachemson selbst kam darin allerdings nie zu dem Ergebnis, dass Flexion problematisch ist. Er fand lediglich anhand von drei Probanden heraus, dass der Druck in der Bandscheibe beim Vorneigen im Stand größer ist als im Sitzen und Liegen. Aber was bedeutet schon ein höherer Druck? Viele solcher Ängste und Verbote beruhen auf Thesen, die falsch aus Studien abgeleitet werden. Sie vermitteln beispielsweise die scheinbare Sicherheit, dass man „weiß“, wann die Bandscheibe viel belastet ist und wann wenig. Doch de facto kann man das gar nicht sagen. In Extension ist eben ein anderer Teil belastet als in Flexion, und der Druck ist mal höher und mal niedriger. Man kann daher auch nicht pauschal sagen, dass bestimmte Bewegungen „schädlich“ sind. Und deswegen versagt auch ein Konstrukt wie: „Ich verbiete bestimmte Dinge und bin deshalb auf der sicheren Seite.“

    Bleiben wir bei diesen Belastungen. Ein Flexionsverbot nach einer Bandscheiben-OP könnte ich aufgrund der Narbe eventuell nachvollziehen. Aber woher kommen beispielsweise die Restriktionen gegenüber Rotationen?

    FD: Auch dafür gibt es eigentlich keine rationale Grundlage. Henry Farfan konnte 1970 in einer Studie interne Bandscheibenrupturen über Rotation auslösen - allerdings im Modell. Im Modell hast du in Rotation auch Scherbelastungen, weil sich die Rotationsachse verlagert. Aber aufgrund solcher Studien kann man nicht sicher sagen, wie die Bandscheibenbelastung „in vivo“ tatsächlich ist.

    Denn man untersucht mit solchen Modellstudien kein stabilisierendes Muskelsystem, kein Muskeltiming, nichts - bloß blanke Mechanik, die „in echt“ so wahrscheinlich gar nicht existiert.

    FD: Genau. Die oben genannte Studie ermittelte bionegative Wirkungen auf die Bandscheibe durch Rotation. Nikolai Bogduk konnte das Gleiche mit Lateralflexion nachweisen, Susan Gordon mit Flexion, Michael Adams mit Extension. Das heißt: Wenn du willst, bekommst du mit jeder Bewegungsrichtung einen Bandscheibenschaden hin - wenn die Frequenz hoch genug und die Kraft groß genug ist.

    Aufgrund von Wirbelsäulenmodellen kann man nicht sicher sagen, wie hoch die Bandscheibenbelastung „in vivo“ tatsächlich ist.

    VS: Peter Goerttler hat 2004 in der Zeitschift „manuelletherapie“ ein Review veröffentlicht, in dem er untersucht hat, ob Bewegungsrestriktionen nach einer Bandscheiben-OP notwendig sind. Da kam ganz klar raus, dass das nicht so ist. Im Gegenteil: Patienten, die sich viel bewegen, geht es tendenziell besser.

    Wenn ein Patient nach Bandscheiben-OP schnell fit ist und schmerzfrei - wann beginnt ihr mit ihm mit aktiver LWS-Mobilisation?

    FD: Nach zwei Tagen, wenn es geht.

    Alle Richtungen?

    FD: Alle Richtungen.

    Wie viele Kursteilnehmer sind überrascht, wenn ihr ihnen erzählt, dass ihr Patienten nach Bandscheiben-OP schon so früh beugen lasst?

    VS: Das schwankt von Kurs zu Kurs sehr stark..., aber es sind fast immer welche dabei, die sagen: „Nein, das haben wir anders gelernt.“

    Obwohl sich die OP-Methoden ja deutlich entwickelt haben. Viele Verfahren scheinen heute schonender zu sein als noch vor ein paar Jahren.

    FD: Ja, das passt nicht zusammen. Die Entwicklung der Nachbehandlungsschemata hinkt der der OP-Methoden hinterher. Viele Nachbehandlungsschemata sind auch heute noch nach Verboten strukturiert. Doch diese Verbote geben eben nur eine scheinbare Sicherheit, weil eine rationale Grundlage dafür fehlt.

    Wie denken Ärzte über die Nachbehandlung?

    VS: Ich glaube, dass Ärzte in der Regel prinzipiell sehr viel wissen, nicht nur über Anatomie, sondern auch über die Klinik. Aber das Problem ist, dass der Übertrag ihres Wissens in die Nachbehandlung nicht stattfindet. Sie richten sich dabei oft danach, was in den letzten 20 Jahren gemacht wurde. Vordergründig scheint ihnen die Nachbehandlung wichtig zu sein, aber letztendlich wird oft wenig darüber nachgedacht.

    FD: Ich habe mal auf einem Ärztesymposium einen KreuzbandOperateur gefragt, wie er mit Verboten nach der OP umgeht. Er sagte sogar: „Das ist mir völlig wurst. Die Entscheidung über Verbote liegt nicht bei mir, sondern in die Hand eines guten Physio-therapeuten.“ Fand ich ganz interessant.

    Wie verhält man sich gegenüber Ärzten, wenn man weiß, dass eine Nachbehandlung eigentlich deutlich progressiver vorangehen könnte, als deren Nachbehandlungsschema es vorgibt?

    FD: Unsere Erfahrung ist, dass unnötige Verbote relativ flott fallen, wenn man mit den Ärzten spricht und seine Meinung begründen kann. Und zwar nicht „Ich hab das gestern auf einer Fortbildung gehört“, sondern: „Ich habe da was gelesen, das erscheint mir sinnvoll. Könnte man das nicht auch so versuchen?“. Wir setzen uns regelmäßig mit Ärzten in Kontakt, wenn uns in der Nachbehandlung etwas komisch vorkommt. Auch bei den Medikamenten. Wenn wir zum Arzt sagen: „Wir würden das Medikament gerne zwei Tage absetzen, sonst wissen wir nicht, wann und wie stark der Schmerz kommt“, haben wir selten erlebt, dass er nein sagt.

    Unnötige Verbote fallen relativ flott, wenn man mit den Ärzten spricht.

    VS: Ärzte sind nach unserer Erfahrung sehr gesprächsbereit. Sie wissen aber oft nicht, dass wir Physiotherapeuten uns so viele Gedanken machen.

    Liegt das möglicherweise auch an der zum Teil fehlenden Rückmeldung seitens der Therapeuten?

    VS: Ja, und an der Art und Weise, wie die Ärzte sie erhalten. Gute Rückmeldungen sind nicht so aufwendig, wie manche denken.

    Wie häufig kommt es vor, dass Operierte mit völlig falschen Vorstellungen bezüglich Schmerzen und Verhalten zur Therapie kommen?

    FD: Sehr oft.

    Woher haben sie die falschen Infos?

    FD: Es gibt immer noch Rückenschulen, Hüftschulen oder Knieschulen, in denen die Patienten erzählt bekommen, wann die Belastung hoch ist, wann sie niedrig ist und wie es richtig geht, damit nichts passiert. Aber schaut man die Studien an, muss man eigentlich sagen: Man weiß in vielen Themenbereichen definitiv zu wenig, um solch eindeutige Aussagen treffen zu können. Auch die Medien sind problematisch: Beispielsweise ist Dr. Wilke in Ulm mit einem Druckmesser in der Bandscheibe in ein Trainingsgerät für den Rückenstrecker gestiegen. Er fand heraus, dass er bei dieser - sehr sinnvollen - Übung den gleichen Druck wie beim vornübergeneigten Tragen einer Getränkekiste hatte. Doch in einer „TV Spielfilm“ oder einer „Hörzu“ habe ich noch nie das Bild eines Menschen in einem Trainingsgerät für den Rückenstrecker gesehen, über dem stand: „Das bitte sein lassen“. Was ich aber sogar mal gesehen habe, ist ein Bild in einem älteren Buch für Trainingstherapie, auf dem ein Mensch vornübergeneigt eine Getränkekiste hebt - und über dem Ausrufezeichen und Blitze abgebildet waren! Aber das ist das, was die Patienten wissen, weil es immer noch in den Zeitungen steht und weil es manche Therapeuten leider immer noch so weitergeben.

    Zurück zur Nachbehandlung: Volker, welche Infos sollte ein Patient nach einer Bandscheiben-OP unbedingt bekommen?

    VS: Er muss wissen, was gemacht wurde und dass er in der Regel eine gute Prognose hat. Dann versuche ich zu prüfen, was er über Bewegung und Aktivität denkt und wie viel Angst er hat.

    Wie ist für euch der Stellenwert der passiven Therapie?

    FD: Ich arbeite gerne passiv, mobilisiere zum Beispiel die ans OP-Gebiet angrenzenden Bereiche, falls sie steif sind, um Kompensationsmöglichkeiten zu schaffen. Passive Therapie hat definitiv ihren Stellenwert - nicht zuletzt aus psychologischen Gründen -, aber immer in Kombination mit aktiver Therapie.

    Wie läuft die Nachbehandlung bei euch zeitlich ab?

    VS: Wir richten uns nach den Heilungsphasen und nach klinischen Parametern. Als Erstes wollen wir wissen, ob der Patient noch in der Entzündungsphase ist, ob er also zum Beispiel Ruhe- oder Nachtschmerzen hat. Solange er das noch ist, sollte man unserer Meinung nach möglichst wenig trainieren, denn mit weniger mechanischer Belastung geht es solchen Patienten dann meist besser. Danach beginnen wir mit Ausdauer- und Koordinationstraining.

    Wie lange dauert es etwa, bis die Patienten entzündungsfrei sind?

    VS: Das kann man so nicht sagen. Manchmal dauert es drei Tage, manchmal fünf Wochen.

    Das heißt, die Zeitangabe „akute Phase etwa 6-10 Tage“, danach subakut und so weiter - vergiss es?

    VS: Ja, das funktioniert so einfach nicht, das muss man klar sagen. Es dauert einfach manchmal länger, wenn das intraoperative Trauma größer ist.

    Wie steigert ihr die Belastung der Wirbelsäule?

    FD: Neben der Klinik richten wir uns nach der Biomechanik. Für uns ist logisch, dass Bewegen mit mehr Kompression und mit mehr Scherbelastung unter Umständen mehr Schmerzen verursachen. Das heißt, wir beginnen zum Beispiel bei Flex- und Extension gegebenenfalls in Seitenlage, also mit wenig Kompression. Dann gehen wir über den Sitz in den Stand und dann zur Mobilisation mit Zusatzgewichten. Ansonsten legen wir in allen Richtungen die Schmerzgrenze fest, und dann sollen die Patienten im schmerzfreien Ausmaß bewegen. Konsequenterweise müsste man für die Nachbehandlung sagen: Vollbelastung schmerzabhängig erlaubt.

    Wie häufig machen eure Patienten die Mobilisationsübungen?

    VS: Wenn es geht, alle zwei Stunden zehn Mal. Wenn sich dabei nichts verschlechtert: jede Stunde. Geht auch das, soll der Patient bewegen, so oft er kann. Ist der Rücken noch entzündet, reduzieren wir entsprechend.

    Ein Patient muss wissen, dass er eine gute Prognose hat.

    Frank, hattest du schon Patienten, bei denen eine OP anscheinend nicht notwendig gewesen wäre?

    FD: Ich würde mir nie zutrauen, so etwas zu behaupten. Ich habe in den letzten Jahren nicht mehr mitbekommen, dass ein Patient nicht zuerst konservativ behandelt worden wäre. Es ist vielmehr so, dass die Patienten erst operiert werden, wenn die konservative Therapie versagt.

    Die Vorauswahl ist also ordentlich.

    FD: Würde ich schon sagen. Auch die Ergebnisse sind oft sehr gut.

    Gibt es einen Patienten, der euch im Kopf geblieben ist?

    FD: Es gab einen, der operiert wurde, in einer anderen Einrichtung zur Nachbehandlung war und dann nach Jahren wieder bei mir gelandet ist. Der hatte es geschafft, bis dato nicht zu beugen. Er hatte sich seinen Alltag so eingerichtet, dass Beugung nicht notwendig war. Fünf Jahre lang Sockenanzieher. Nur noch Stehtische und hohe Hocker. Wenn ich ihm gesagt hätte, dass Beugung nicht schlimm ist, wäre er wahrscheinlich gegangen.

    Was hast du gemacht?

    FD: Es akzeptiert. Man kann so einen Patientenglauben nicht von heute auf morgen auslöschen, und man muss über Jahre gewachsene Einstellungen auch respektieren. Er war Gott sei Dank zufrieden und konnte sein Niveau halten. Was man aber sieht: Es gibt Leute, die allein aufgrund von Informationen ihr Leben verändern. Für immer.

    Das Gespräch führte Joachim Schwarz.

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    Frank Diemer und Volker Sutor sind Physiotherapeuten, Autoren der Bücher „Praxis der medizinischen Trainingstherapie“ und Mitinitiatoren der Weiterbildungsgruppe „Fortbildungen für orthopädische Medizin und manuelle Therapie“ (FOMT).