Aussatz war im Mittelalter in Europa überall verbreitet. Nach heutigen Maßstäben ursächlich
wirksame Behandlungsmöglichkeiten existierten bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht [1]
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[9]. Dies war bei vielen anderen Krankheiten nicht anders. Aber der Aussatz unterschied sich von den meisten durch unausweichliches langjähriges Siechtum, Verstümmelung und religiös fixierte soziale Ausgrenzung [10]. Diese war auf das Alte Testament gegründet (3. Mose 13, 45 – 46). Ihre Handhabung durch kirchliche und politische Instanzen weist darauf hin, dass viele Verantwortliche sich damals mehr oder weniger über die Übertragbarkeit der Krankheit im Klaren waren. Seit Orleans (511) war Aussatz auf der Tagesordnung aller kirchlichen Konzile und Synoden. 643 wurde im „Edictus Rothari“ des langobardischen Königs erstmals die Ausgrenzung auch durch weltliches Gesetz festgeschrieben. Leprosorien gab es im Frankenreich schon im 5. Jh. in St. Oyand, im 6. Jh. in St. Châlon sur Sâone, 636 in Metz, Verdun und Maastricht, 720 St. Gallen, 992 Echternach. Nach Beschlüssen des 3. Laterankonzils sollten überall Hospitäler eingerichtet werden. Vor allem die damals aufblühenden reichen Städte kamen dem in rascher Folge nach. Damit übernahmen bald auch bürgerliche Stiftungen einstige Aufgaben adeliger Gründer und kirchlicher Verwalter beim Unterhalt der Hospitäler, während Kranke sich oft ähnlich den Pflege-Orden in der Art religiöser Bruderschaften organisierten [11]
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[28]. Erwähnt sind in Deutschland relativ frühe Leprosorien in Köln 1180, Leipzig 1213, Speyer 1223, Aachen 1230, Ulm 1246, Soest und Dresden 1250, Breslau 1260, Mainz 1261, Trier 1283 [2]
[12]. Zu einem Leprosorium gehörte möglichst eine eigene Kapelle [2]
[25]. Einzelne hatten Kirchen und dabei besondere Kapellen für die Sondersiechen, wie die Georgikirche in Mühlhausen. Ärmere Hospitäler hatten manchmal offene Straßenkapellen, deren Spuren bisweilen in späteren Ausbauten erkennbar geblieben sind, z. B. in Wernigerode. Gelegentlich stand Sondersiechen auch ein abgesperrter Teil der örtlichen Pfarrkirche zur Verfügung, wie in Sonthofen [29]. Auf dem „flachen Land“, wo Lepröse vielfach in eigenen Hütten für sich abgeschieden lebten, sowie für Sieche ohne feste Wohnung gab es an vielen Orten Hagioskope. Solche in Kopfhöhe auf den Altar ausgerichteten Öffnungen der Kirchenwand ermöglichten den durch festgelegte Riten als „im Leben schon Tote“ aus der Gemeinde der Lebendigen ausgegrenzten Kranken, vom Friedhof aus [25]
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[32] die Handlung am Altar mitzuverfolgen ([Abb. 1]).
Abb. 1 Hagioskop der Dorfkirche zu Brodersby an der Schlei.
Die gleiche Kirche, die einerseits weiterhin Asylierung und Ausgrenzung Kranker forcierte, entwickelte andererseits noch während des frühen Mittelalters eine entgegengesetzte Tendenz im Umgang mit der Krankheit. Auch diese stützte sich auf die Bibel: Im NT wird mehrfach über Heilung Lepröser durch Christus berichtet (Matthäus 8, 1 – 4; Markus 1, 40 – 45; Lukas 4, 12 – 15; Lukas 17, 11 – 19). Deshalb untermauerten Päpste das propagandistische Bild von sich als Nachfolger Christi mit Legendenerfindungen [33] wie die der Heilung Konstantins von der Lepra durch Silvester I. ([Abb. 2]).
Abb. 2 Heilung Konstantins durch Silvester I. Oratorio di S. Silvestro, nach 1246, in SS. Quattro Coronati, Rom.
Dazu stellten auch Heiligenlegenden (Franziskus, Martin, Elisabeth von Thüringen) den engen Umgang mit Kranken als eine Probe der Humilitas dar [21]
[26]. Diesen Beispielen eiferten selbst Königinnen wie Mathilde von England, Frau Heinrichs I., nach. So bekam Lepra ein „Doppelgesicht“ in der christlichen Vorstellungswelt [21]
[25]
[26]: Einerseits erschien sie als Sünden-Strafe, andererseits aber als Probe der Unterwerfung unter den göttlichen Willen. Heilung wurde als Gnade dargestellt, wie im „Armen Heinrich“ des Hartmann von Aue um 1150 [33]. Hier erweist sich der Held erst dadurch des göttlichen Heilungswunders würdig, dass er auf eine sonst nur durch Herzblut einer freiwillig sich opfernden Jungfrau zu erreichende Heilung verzichtet [21].
Im späteren Mittelalter wird die Krankheit schließlich manchmal fast ein Zeichen des Auserwähltseins. Ihr Träger rückt in die Nähe eines Hiob, Rochus oder gar Christus, durch sein auf Erden schon erlittenes extremes Leid dem Himmel nah. Andererseits wird sie aber weiter als Lohn der Sünde dargestellt, erworben durch Ausschweifungen, auch durch solche sexueller Art [7]
[21]. Die könnten zwar aus heutiger Sicht im Prinzip durch kürzere Wege der Tröpfcheninfektion die Übertragung der Erreger zur primär befallenen Nasenschleimhaut begünstigen [35]. Aber das rechtfertigt noch keine Spekulationen darüber, ob solchen Vorstellungen entsprechende Kenntnisse zugrunde gelegen haben könnten: Zwar kommen unter mittelalterlichen Lepra-Medicamina z. B. bei Bernard von Gordon Nasentropfen und eine Art Niespulver aus Bibergeil, Pfeffer und Nieswurz vor. Ihre Anwendung erfolgte aber mit der Vorstellung, damit schlechte Säfte bzw. kalten Schleim abzuleiten und das Hirn zu reinigen. Blut sollte durch die ihm zugeschriebenen Eigenschaften „warm“ und „feucht“ „temperierend“ wirken. Und wenn für mittelalterliche Lepra-Mittel z. B. Klettenkraut (Arctium tomentosum, A. lappa, A. minus etc.) oder Quendelseide (Cuscuta epithymum), Schlangenknöterich (Polygonum bistorta), Erdrauch (Fumaria officinalis) verwendet wurden, dann nicht wegen einiger heute bekannter, gar nicht gegen Mykobakterien wirksamer Inhaltsstoffe, sondern wegen ihrer rauen Oberflächen oder geschlängelten Form [7]
[36].
Die „Signaturenlehre“ war schon in älterer chinesischer Literatur bekannt, im Mittelalter überall verbreitet, besonders auch in der arabischen Heilkunde, z. B. bei Abulkasim um 1000 n. Chr. Auch im Lorscher Arzneibuch um 795 finden sich entsprechende Angaben. Zugrunde lagen simile-magische Vorstellungen. Danach sollten Ähnlichkeiten im Aussehen Hinweise auf Anwendungsmöglichkeiten geben. Ein Beispiel: Weil Schlangen ihre alte Haut abstreifen können, sollten Schlangengift oder Schlangenfleisch gut gegen Hautkrankheiten sein. Auch Schlangenwein wurde in verschiedenen Varianten gegen Lepra empfohlen. Wegen Schlangenmangels vor allem nördlich der Alpen wurde schließlich auch anderes geschlängeltes genommen, wie Pflanzen – eine sozusagen „potenzierte“ Simile-Magie.
Die Vorstellung, in mittelalterlicher Medizin hätten Mönche vorwiegend pflanzliche natürliche Wirkstoffe gezielt angewendet, wird gegenwärtig wirksam propagiert. Wahrscheinlich fällt den wenigsten dabei auf, wie eng manchmal eine universitäre Forschergruppe einer Firma mit scheinbar klösterlichem Namen verbunden sein kann, hinter der ein internationaler Pharmakonzern steht: Frei verkäufliche Phytotherapeutica und „Naturmittel“ bringen in Deutschland Milliardenumsätze, und so werden in Publikationen „Anerkannte Indikationen“ weit gefasst [vgl. [37]
[38]. Niemand ist im Übrigen ganz frei von subjektiver Interpretation alter Texte [39]. In der Realität waren mittelalterliche Medicamina sehr komplex, und allgemein waren die eigentlichen Wirkstoffe der angewendeten Drogen und ihre Angriffspunkte nicht bekannt. Von in der Antike vorhanden gewesenen Kenntnissen war mit dem Untergang der römischen Zivilisation unvorstellbar viel verloren gegangen. Einiges war zwar, oft von nestorianischen Christen, aus dem Griechischen in orientalische Sprachen übersetzt worden und später über arabische Medizinschulen wieder in den Westen gelangt. Aber Pflanzenbezeichnungen hatten dabei oft Übersetzungs- oder Identifizierungsprobleme aufgeworfen. Manchmal, wie bei den Myrobalanen, wurden exotische Namen auf andere, besser beschaffbare Pflanzen übertragen. Aber auch von volksmedizinischen Vorstellungen der sich neu formenden Völker ging manches verloren, weil es kirchlichen Instanzen hexereiverdächtig schien. Am besten bekannt waren Vergiftungssymptome. Manche Schweiß- oder harntreibenden, purgierenden, laxierenden Effekte wurden als „ausleitend“ für ein Zuviel eines der nach geltender Lehre vorhandenen 4 Körpersäfte interpretiert und genutzt, ebenso wie die äußerlichen Methoden des Aderlassens und Schröpfens oder das Klistier.
Alledem lagen andere Vorstellungen von Krankheit und Krankheitsursachen zugrunde als heute. Es ist deshalb grundsätzlich nicht zielführend, mittelalterliche Mittel aus der Sicht gegenwärtiger pharmakologischer Kenntnis interpretieren zu wollen [7]
[36].
Basis der medikamentösen Therapie des Mittelalters ist die Humoralpathologie. Diese „Säftelehre“ war in der Zeit der Scholastik kompliziert verflochten mit astrologischen, iatro-magischen, simile-magischen Vorstellungen. Die waren gegründet auf spätantike, teilweise auf noch ältere indische und chinesische Konzepte zurückgehende Lehren [41].
Eine gedrängte Übersicht der verschiedenen zueinander in Beziehung gesetzten Inhalte dieses Systems zeigt [Abb. 3].
Abb. 3 Übersicht der zueinander in Beziehung gesetzten Elemente, Körpersäfte, Temperamente in der Vorstellungswelt der Humoralpathologie des Mittelalters.
Die Säftelehre ging aus von der vor allem durch Empedokles (etwa 485 – 430 v. Chr.) propagierten Lehre von den 4 Elementen: Luft, Feuer, Erde und Wasser. Platon und Aristoteles hatten noch „Äther“ hinzugefügt. Claudius Galenus (etwa 129 – 200 n. Chr.) hatte die 4 Elemente übernommen, dazu von Polybos, dem Schwiegersohn des Hippokrates von Kos, die 4 Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim, denen jeweils 2 von den 4 Qualitäten „warm“, „kalt“, „trocken“ und „feucht“ zugeordnet wurden. Galen setzte statt „Äther“ „Pneuma“ hinzu. Verkehrte Mischung („Dyskrasie“) dieser Stoffe wurde als Ursache der Krankheiten angesehen.
Entsprechend den Vorstellungen der Humoralpathologie strebte man bei der Behandlung der Lepra, die durch zu viel schwarze Galle und kalten Schleim bedingt sein sollte, temperierende, die Mischung verbessernde Maßnahmen an, beginnend mit dem Vermeiden von Speisen „melancholischer“ Qualität (kalt und trocken, wie Kohl), mit der Einnahme als „warm“ angesehener Dinge wie Blut, Fett wilder Tiere usw., andererseits mit dem Entfernen überschüssiger Säfte aus dem Körper durch Aderlass, Abführen, Erbrechen, Schwitzbad. Galens Lehren waren von den kirchlichen Instanzen akzeptiert. Was wahr sei, bestimmten in der Zeit der Scholastik weitgehend die Autoritäten [39]. Deshalb blieben die Konstrukte der Humoralpathologie lange Zeit maßgeblich für die Therapie. Die Komplexität dieses Systems ist übersichtlich bei C. Habrich [36] dargestellt.
Als Beispiel für die Interferenz simile-magischer Vorstellungen mit solchen der Humoral-Pathologie folgt hier eine Rezeptur der Hildegard von Bingen (1098 – 1179) gegen Lepra: „Wer vom Fressen und Saufen aussätzig wird, nehme Schwalbenkot und viermal so viel von dem Kraut, welches Klette genannt wird und rötliche Blüten hat, und mache daraus ein Pulver. Auch nehme er Storchfett und etwas mehr Geierfett, schmelze es in einem Tiegel, mische das eben erwähnte Pulver und etwas Schwefel mit diesem Fett und bereite so daraus eine Salbe. Er ordne an, dass er mit dieser Salbe im Schwitzbad gründlich eingerieben wird und lege sich danach ins Bett. So soll er bis zum 5. Tag oder noch mehr Tage verfahren. Werden nämlich die Wärme des Schwalbenkotes und die Kälte der Klette mit der Wärme des Storchfettes, der Kälte des Geierfettes und der Wärme des Schwefels temperiert, so beseitigen sie die faulige Materie des Aussatzes, weil der Schwalbenkot sie auflöst, das Klettenkraut sie zerfrisst und das Fett vom Geier und Storch, mit der herben Wirkung des Schwefels sie aus dem Körper herauszieht. Der Kranke wird gesund werden, es sei denn, Gott will nicht, dass er genese.“
Heilkundliche Texte der heiligen Hildegard sind nur in späten Abschriften und Kompilationen erhalten, von denen in unserer Zeit verschiedene Übersetzungen herausgegeben worden sind. Die Ausflucht „es sei denn …“ erscheint darin regelmäßig.
Die Gedankenwelt, aus der diese Schriften entstanden, prägte jahrhundertelang kaum verändert den Umgang mit Kranken [38]
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[42]. Erst im Beginn der Neuzeit änderte sich daran einiges: Zwar wurden noch nicht etwa im heutigen Sinne wissenschaftliche Methoden zur Überprüfung von Hypothesen entwickelt, aber endlich begann die Überwindung des seit der Scholastik alle Erkenntnis hemmenden Zwanges zum blinden Glauben an alte Autoritäten [36]
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[43]. Zu dieser Wende trug wesentlich Philippus Theophrastus von Hohenheim bei , genannt Paracelsus (Einsiedeln 1493 – Salzburg 1541). Aber in der Therapie trieb er, aus heutiger Sicht, den Teufel mit Beelzebub aus: Paracelsus begann aufgrund alchemistischer Vorstellungen mit der exzessiven Anwendung giftiger Schwermetalle, wie Antimon- und besonders Quecksilber-Verbindungen [43]. Solche Mittel wurden dann zum Teil bis in das 20. Jahrhundert hinein angewendet.
Die Lepra hatte inzwischen aber in Mitteleuropa seit dem 16. Jh. immer mehr an Häufigkeit abgenommen. Die Ursachen dafür kennen wir nicht. Es gibt verschiedene begründete Hypothesen hierzu. Das Klima war kühler geworden. Die Hygiene war möglicherweise vielerorts in der Renaissance besser als im Mittelalter. Vorstellbar sind auch Wirkungen der Hospitalisierung und Isolierung: geringere Krankheitsverbreitung nach außen, weil enge Kontakte mit Gesunden erschwert waren, während gedrängtes Zusammenleben innerhalb von Hospitälern interne Seuchenausbreitung begünstigte [17]. Ergebnisse methodisch verschiedener Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten [44]
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[46] weisen auf immunologische Interferenzen der Lepra mit der Tuberkulose hin. Dafür sprechen auch Befunde Convits in einer über lange Zeit isolierten Auswandererpopulation [47]. Denkbar ist auch die relative Abnahme des Anteils genetisch erkrankungsfähiger Menschen an der Bevölkerung [48]. Schließlich ist sogar vorstellbar, dass durch gegen Mykobakterien nicht wirksame, aber für Menschen unbekömmliche Behandlungen die Anzahl lebender Kranker abgenommen haben könnte. Wie auch immer: 1712 starb der letzte Pfründner im einst für den gesamten Rheinischen Raum maßgeblichen [49] Kölner Leprosorium Melaten. 1787 wurde noch eine Kranke nach Lepraschau in Coesfeld in das Leprosorium Schöppingen aufgenommen, 1830 starb anscheinend noch ein Aussätziger im Leprosenhaus Wurzach [50]. Aber abgesehen von diesen Ausnahmen blieb Mitteleuropa für lange Zeit fast völlig frei von Lepra, bis diese gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland wieder nach Ostpreußen eingeschleppt wurde [9].
Den meisten Menschen gar nicht bewusst, erinnerten später oft nur noch Namen von Ortsteilen, wie „Kinderhaus“ in Münster oder „Gutleutviertel“ in Frankfurt, oder von Straßen, wie vielerorts „Rosenstraßen“ am Rande alter Stadtkerne, an die einst dort lebenden Kranken.