Zeitschrift für Komplementärmedizin 2012; 4(1): 12-17
DOI: 10.1055/s-0031-1298186
zkm | Wissen

© Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Prävention und Therapie demenzieller Erkrankungen mit Ernährung?

Rainer Stange
Weitere Informationen

Zoom Image
Dr. med. Rainer Stange

Abteilung für Naturheilkunde der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Immanuel Krankenhaus

Königstraße 63

14109 Berlin

eMail: r.stange@immanuel.de

Rainer Stange ist Internist mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren und Physikalische Therapie. 1989–1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Naturheilkunde des Klinikums Benjamin Franklin in Berlin, 1994–2003 Oberarzt der Klinischen Abteilung des Lehrstuhls für Naturheilkunde. Seit 2003 Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde – Immanuel-Krankenhaus Berlin-Wannsee und Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin, seit Besetzung der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde 2009 leitender Arzt.

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. Februar 2012 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Je besser der sozioökonomische Status einer Gesellschaft ist, desto höher ist das Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Gibt es einen Zusammenhang mit der (westlichen) Ernährungsweise? Und könnte diese daher zur Prävention eingesetzt werden? Der Artikel fasst die aktuelle Datenlage zusammen und gibt praktische Hinweise für die Patientenberatung und -betreuung.

Zoom Image

„Nervennahrung“ – Prävention für Demenz?

Unter neurodegenerativen Erkrankungen versteht man insbesondere alle Formen der Demenz, den Morbus Parkinson, der ja zu in einem hohen Anteil zur Parkinson-Demenz führt, und die Polyneuropathie.

Für die Polyneuropathie sind ätiologisch 2 begünstigende Stoffwechsel- bzw. alimentäre Einflüsse klar gesichert und für den weit überwiegenden Teil aller Erkrankungen verantwortlich: der Diabetes mellitus jeden Typs sowie der Alkoholkonsum. Ausreichende Kontrolle des Kohlenhydratstoffwechsels sowie Aufgabe des Alkoholkonsums können zwar kaum zu einer Besserung des Krankheitsbilds führen, ein Fortschreiten jedoch verhindern.

Protektive Faktoren aus der Ernährung etwa als Sekundärprävention für Diabetiker sind dagegen kaum bekannt. Die früher propagierte Gabe von B-Vitaminen über das für den Gesunden als erforderlich gehaltene Ausmaß hinaus hat sich nicht als wirksam erwiesen und wird heute praktisch nicht mehr durchgeführt. Dagegen ist für die manifeste Erkrankung die Therapie mit α-Liponsäure in der peroralen wie der parenteralen Gabe ebenso üblich wie weiterhin umstritten. Diese ist ein potentes Antioxidans und grundsätzlich ein Naturstoff, der sowohl mit der Nahrung aufgenommen als auch im Körper synthetisiert wird. In den heute üblichen Dosierungen wird er jedoch ausschließlich als Medikament betrachtet und deshalb gesondert abgehandelt (Beitrag S. 45). Es erscheint naheliegend, dass metabolische Gegebenheiten für die Begünstigung oder Verhinderung der Entwicklung wie auch die Therapie demenzieller Erkrankungen verantwortlich sein könnten.

Patienten stellen im medizinischen Alltag die Frage nach Empfehlungen für Ernährung und Demenz meist aus 3 Motivationen:

  • Sie sind symptomfrei, befürchten jedoch aufgrund einer genetischen Belastung das spätere Auftreten einer Demenz.

  • Sie spüren Symptome, die sie für eine Frühform einer Demenz (z. B. „mild cognitive impairment“, MCI) halten, und suchen progressionsverlangsamende Therapien.

  • Angehörige, die sie im Haushalt versorgen, leiden an Vorstufen oder dem Vollbild.

Derzeit ist hierzulande selten von möglichen Zusammenhängen zwischen Auftreten und Verlauf demenzieller Erkrankungen und Ernährung die Rede. Die führende S3-Leitlinie „Demenzen“ (2009, Deutsche Gesellschaft für Neurologie u. a.) sowie die Leitlinie „Demenz“ (2008, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) wurden ohne Beteiligung von Ernährungswissenschaftlern erstellt und enthalten auch nicht andeutungsweise einen Hinweis darauf, dass begünstigende oder verhindernde Momente in Nahrungsbestandteilen in Prävention und Therapie der Demenz vorstellbar seien. Lediglich für eine aufgrund des Verhaltens des Demenzkranken bzw. mangelnder Pflege eingetretene Kachexie gibt die Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin übliche Empfehlungen über Sondennahrung an, die jedoch keine Spezifität bezüglich demenzieller Erkrankungen beanspruchen.

World Alzheimer Report

Der regelmäßig erscheinende World Alzheimer Report gibt u. a. die geschätzte Prävalenz für M. Alzheimer in % der Bevölkerung über 60 Jahre in sämtlichen Regionen der Erde an. Danach bestand 2010 zwischen dem südlichen Lateinamerika (8,2 %) und Afrika südwestlich der Sahara (2,0 %) der größte Unterschied der Prävalenzen, um etwa den Faktor 4. Mitteleuropa rangierte mit 5,8 % im oberen Drittel ([Abb. 1]). Für Europa und Nordamerika kommen verschiedene Erhebungen und Metaanalysen zu sehr gut übereinstimmenden Daten für die jeweiligen Verhältnisse [14], sodass dort Messungen von Inzidenzen bzw. Prävalenzen recht genau zu sein scheinen ([Abb. 2] und [3]).

Wenn zwischen verschiedenen Ländern bzw. Regionen große Unterschiede in der Inzidenz und/oder Prävalenz einer Erkrankung gesichert werden können, nimmt die Epidemiologie neben genetischen vor allem Umweltfaktoren wie Ernährung, Genuss- und Umweltgifte usw. als ätiologisch bedeutsam an. Da zudem eine zeitliche Entwicklung der Inzidenzen parallel zur Annäherung an einen westlichen Lebensstil in Ländern mit initial niedrigem sozioökonomischen Status zu beobachten ist, werden Lebensstilfaktoren, insbesondere die Ernährung, als begünstigend vermutet ([Abb. 3]).

Zoom Image

Abb. 1 Geschätzte Prävalenz für M. Alzheimer in % der Bevölkerung über 60 Jahre der jeweiligen Region. Größter Abstand: Lateinamerika Süd zu Subsahara West 8,2/2,0 bzw. 4,1/1,0. Quelle World Alzheimer Report 2010.

Zoom Image

Abb. 2 Altersabhängige Prävalenz der Demenz nach europäischen und nordamerikanischen Erhebungen und Metaanalysen. © [14].

Zoom Image

Abb. 3 Zunahme der Prävalenzen für Demenz mit verbessertem sozioökonomischen Status. Schätzungen des World Alzheimer Report 2010.

#

Die Fischhypothese

International wird spätestens seit einer gezielten Analyse von Daten der Framingham-Studie [9] nach Zusammenhängen zwischen der Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren und Demenz geforscht. Hier wurden bei initial nicht dementen 899 Probanden (mittleres Alter 76 Jahre) die Konzentration der Docosahexaensäure (DHA) gemessen sowie über einen Beobachtungszeitraum von 9 Jahren alle 2 Jahre neuropsychologische Tests durchgeführt. Die Ernährungspläne der Probanden wurden sorgfältig auch auf ihren Fischkonsum analysiert. In den folgenden 9 Jahren erkrankten 99 Personen an einer Demenz, davon 71 an Alzheimer. Für die Teilnehmer mit dem höchsten Konsum an DHA errechnete sich ein um 47 % geringeres Risiko für das Auftreten jeder Form der Demenz sowie um 39 % speziell für die Alzheimer-Demenz. Durchschnittlich wurden in der Gruppe mit niedrigem Risiko 3 Fischmahlzeiten pro Woche angegeben bzw. 0,18 g DHA pro Tag daraus errechnet.

In mittlerweile 13 epidemiologischen Studien (einschließlich der oben angeführten) hatte sich in 10 Fällen ein inverser Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Fisch bzw. der Aufnahme von marinen Ω-3-Fettsäuren, insbesondere von DHA, und dem Auftreten demenzieller Symptome bzw. des Vollbilds einer Demenz ergeben. Drei dieser 10 Studien konnten den Zusammenhang nicht nur anhand des erfragten Essverhaltens sondern zusätzlich auch durch Messungen der Konzentrationen von Ω-3-Fettsäuren im Serum bestätigen. In den übrigen 3 der ursprünglichen 13 Studien konnte ein inverser Zusammenhang dagegen nicht sicher bestätigt werden, in keiner ergab sich jedoch ein Hinweis auf eine direkte Beziehung.

Die Inhomogenität der Studiendesigns ist in verschiedenen ethnischen Populationen, verschiedenen Lebensaltern, verschiedenen Instrumenten zur Erfassung des Essverhaltens sowie verschiedenen Beobachtungszeiträumen zu suchen. Diese Unterschiede stellen ein häufiges Problem bei der zusammenfassenden Bewertung mehrerer unabhängiger epidemiologischer Studien zur selben Fragestellung bezüglich der Ernährungsabhängigkeit einer Krankheit dar. Um die Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren abschätzen zu können, treten im speziellen Fall Art und Qualität der Fische sowie ihre Zubereitungsart komplizierend hinzu, was nur in einzelnen Untersuchungen abgefragt wurde ([Abb. 4]). Somit sind nur sehr bedingt Rückschlüsse über die tatsächlich aufgenommenen Mengen von Ω-3-Fettsäuren, besonders DHA, möglich. Darüber hinaus können die übrigen Anteile der Ernährung bezüglich Demenz in unterschiedlichem Ausmaß bekannte wie bislang unbekannte positive wie negative Anteile enthalten. Bislang ist insbesondere ein erhöhter Alkoholkonsum als nachträglich erwiesen (s. u.), der in den publizierten 13 Studien zu Ω-3-Fettsäuren in Abhängigkeit vom verwandtem Fragebogen in den meisten Fällen erfragt, jedoch nicht gesondert dargestellt oder diskutiert wurde.

Zoom Image

Abb. 4 Sushi ist nicht jedermanns Sache, aber eine gute Quelle für Ω-3-Fettsäuren. © Photo Alto.

Es ist also grundsätzlich zu erwarten, dass die 13 Studien nicht zu einem einhelligen Ergebnis kommen. Die Relation 10 zu 3 sowie der völlig ausgebliebene Hinweis auf einen direkten Zusammenhang lassen einen inversen jedoch sehr wahrscheinlich werden.

Auch wenn ein die Entwicklung einer Demenz verhindernder Einfluss von Fischkonsum bzw. DHA sehr wahrscheinlich ist, bleiben mehrere Fragen offen:

  • Ist überwiegend eine Einzelsubstanz wie DHA für einen protektiven Effekt verantwortlich oder treten weitere Nahrungsbestandteile, vielleicht sogar ein ganzes Ernährungskonzept hinzu?

  • Über welchen Zeitraum und in welchem Lebensabschnitt muss diese Aufnahme erfolgen, um zur vollen Wirkung zu kommen?

  • Welche quantitativen Aufnahmeempfehlungen etwa für DHA können gegeben werden?

  • Ist DHA durch die vorherrschende pflanzliche Ω-3-Fettsäure α-Linolensäure ersetzbar?

Für die mitteleuropäisch naturheilkundlich orientierte Ernährungslehre bleibt die letzte Frage angesichts ihrer vegetarisch geprägten Tradition sehr wichtig. Deren möglicher Beitrag wird bezüglich Demenz meist ähnlich vernachlässigt wie in der Forschung zur koronaren Herzkrankheit oder chronisch entzündlichen Erkrankungen. Ihr wichtiger Vertreter ist die α-Linolensäure, die selber vermutlich keine biologisch wichtigen Eigenschaften hat, im Körper jedoch durch mehrere Schritte zu EPA wie DHA umgewandelt werden kann. Leinöl (griech. λινοσ, linos, Lein) enthält bis zu 55 % α-Linolensäure (ALA, Summenformel C18 H30 O2, Molekulargewicht 278,4 g•mol−1) und stellt eine leicht zugängliche und für Vegetarier wie Veganer gut akzeptable Quelle für Ω-3-Fettsäuren dar. Die körpereigene Umwandlung der aufgenommenen ALA gelingt jedoch nur zu 6,0 % zu EPA bzw. zu 3,8 % zu DHA, sodass aus einer täglichen Aufnahme von z. B. 10 g Leinöl eine Bioverfügbarkeit von knapp 1 g EPA + DHA resultiert, dies auch erst nach mehrtägiger Gabe aufgrund einer dazu notwendigen Enzyminduktion. In epidemiologischen Studien wird die Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren vegetabiler Provenienz i. d. R. nicht untersucht.

#

Weitere Faktoren

Als weitere Kandidaten für einen Zusammenhang zwischen nutritiven Faktoren und Demenz sind die bereits vor den Ω-3-Fettsäuren diskutierten Vitamine der B-Gruppe inzwischen weitgehend verlassen worden. Einzig ein Folsäuremangel scheint Demenz zu begünstigen. Obwohl im Mausversuch z. B. eine vaskuläre Demenz durch eine bezüglich Vitamin B drastisch künstlich verarmte Ernährung ausgelöst werden konnte [12], blieben die Hinweise aus epidemiologischen Untersuchungen spärlich. Seit sich Homocystein als Endstrecke eines gestörten Vitamin-B12- und Folat-Stoffwechsels etabliert hat, gerät die Hyperhomocysteinämie zusehends in den Brennpunkt. Nachdem mehrere einzelne Arbeiten keine klare Aussage erkennen ließen, kam eine kürzlich erschienene Übersichtsarbeit über 6 epidemiologische Studien zu dem Schluss, dass Hyperhomocysteinämie als Risikokonstellation für die Entwicklung einer Demenz angesehen werden muss [13].

Hoher Alkoholkonsum ist neben vielen anderen schädlichen Effekten mit verminderter Folsäureaufnahme gekoppelt, sodass neben direkten für das ZNS toxischen Wirkungen des Alkohols ein Folsäuremangel begünstigend wirken kann. Insgesamt wird jedoch für Alkoholkonsum derzeit eine J- bzw. U-förmige Abhängigkeit angenommen, sodass sich die regelmäßige Aufnahme kleiner Mengen ähnlich wie auf das Herz-Kreislauf-System protektiv auswirkt.

Vitamin-D-Mangel scheint sich nicht auszuwirken.

#

Mediterrane Ernährung

In den letzten Jahren sind unabhängig voneinander 3 epidemiologische Studien durchgeführt worden, die bei jeweils größeren Bevölkerungsgruppen in den USA (New York [8] bzw. Chicago [11]) und Frankreich [2], [3]) durch standardisierte Fragebögen das Ausmaß untersucht haben, in dem die spontanen Ernährungsgewohnheiten einer idealtypisch vorgegebenen mediterranen Ernährung entsprechen, also der Adhärenz zu diesem Ernährungstyp. Dabei zeigte sich, dass die Gruppen mit der höchsten Adhärenz ein bis 40 % niedrigeres Risiko aufwiesen, eine Demenz vom Alzheimer-Typ zu erfahren. Mit diesen Erkenntnissen machen sich jetzt mehrere Gruppen weltweit an den Versuch, durch prospektive Studien die Minderung der Inzidenz für Alzheimer aufzuzeigen.

Die Frage, ob einzelnen Substanzgruppen bzw. einer oder nur wenigen Verbindungen oder einem ganzen Konzept einer Ernährung die entscheidende Rolle zukommt, kann derzeit am ehesten mit dem Konzept der mediterranen Diät beantwortet werden. In einer Bevölkerungsstudie in New York wurden 1219 nicht demente Bürger über im Durchschnitt 3,8 (1,1–6,6) Jahre beobachtet, in denen 118 Fälle von Alzheimer-Demenz auftraten. Diese Patienten waren im Vergleich zu denen ohne Demenz älter, schlechter ausgebildet, wiesen ethnische Häufungen bei Hispano-Amerikanern sowie erhöhte Nüchtern-Insulinspiegel auf [5]. Zusätzlich ergab sich jedoch eine Risikoreduktion auf 0,66 im Vergleich der Terzile mit der besten vs. der schlechtesten Adhärenz an eine mediterrane Diät.

Die bisherigen Hinweise auf eine manifestations- bzw. progressionsverzögernde Wirkung der mediterranen Kost haben bereits zu einer Empfehlung mit einer „Hazard Ratio“ von 0,72–1,04 und dem Grad B – mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer Evidenz oder bei schwacher Evidenz mit hoher Versorgungsrelevanz – geführt, wenn eine Hypertonie als begünstigende Komorbidität besteht [4].

#

Spezifische Mechanismen

Ω-3-Fettsäuren und hier insbesondere die DHA spielen eine sehr wichtige Rolle für die Integrität der Nervenzelle, insbesondere im Zentralnervensystem. Mit etwa 20 % des Trockengewichts stellt es das Organ mit dem höchsten DHA-Gehalt überhaupt dar. Ferner tritt hier im Vergleich zu Organen und Zellen wie den Erythrozyten oder funktionellen Abläufen wie dem Entzündungssystem die relative biologische Bedeutung der EPA zurück, vermutlich aufgrund der besseren Flexibilität der DHA beim Einbau in Zellmembranen. 97 % der Ω-3-Fettsäuren des Gehirns bzw. 93 % der Ω-3-Fettsäuren in der Netzhaut sind DHA. Sie ist Ausgangsstoff der Biosynthese von Docosatrienen, Resolvinen und Neuroprotectinen, die heute als sog. Docosanoide zusammengefasst werden und sämtlich membranstabilisierende Effekte auf die Nervenzelle ausüben.

Die Konzentration von DHA im ZNS kann derzeit nur autoptisch gemessen werden. Hier ließen sich für Demenzkranke geringere Konzentrationen als bei nicht Demenzkranken nachweisen. Könnte eine unzureichende Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren die Ausbreitung von demenziellen Erkrankungen in Deutschland begünstigen? Diese Frage muss nach dem derzeitigen Stand des Wissens mit einer hohen Wahrscheinlichkeit bejaht werden. Die mediane tägliche Aufnahme von EPA plus DHA lag gemäß Nationaler Verzehrsstudie I 1997–1999 für beide Geschlechter und alle Altersgruppen deutlich unter der damaligen Empfehlung von 350 mg/d, berechnet aus 2 Fischmahlzeiten/Woche mit ca. 1 g Ω-3-FS/100 g Fisch [1]. Die Nationale Verzehrsstudie II hat leider die Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren nicht mehr separat ausgewiesen [7].

#

Praktische Schlussfolgerungen

Als Basis für eine neuroprotektive Ernährung kann derzeit das gesamte Konzept der mediterranen Ernährung empfohlen werden, auch wenn noch viel Forschung zu leisten ist. Für die praktische Ernährungsberatung bzw. -schulung stellt sich als ein relativer Nachteil der bislang unzureichende Konsens darüber dar, was darunter genau zu verstehen sei. Umgekehrt hat das Konzept den großen Vorteil einer hohen Akzeptanz bezüglich Auswahl der Grundnahrungsmittel, Zubereitungstechniken und geschmacklicher Ausrichtungen. Trotz der grundsätzlich mit diesem Konzept erhöhten Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren stellt sich zusätzlich die Frage nach einer optimalen und konstant zu erzielenden Aufnahme, ggf. auch durch Nahrungsergänzungsmittel.

Hierüber besteht noch kein Konsens, der sich aber aufgrund des international ungeheuer großen Interesses an der Bedeutung von Ω-3-Fettsäuren vermutlich bald erstellen lässt. Für die Normalbevölkerung geben derzeit weder die DGE noch die am ehesten angesprochenen wissenschaftlichen Gesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. oder die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin e. V. (DGEM) eine Empfehlung. Die Angabe von Schwellenwerten für eine minimale kritische Aufnahme von Ω-3-Fettsäuren wird sich kaum erbringen lassen, da der Zusammenhang zwischen Aufnahme und Inzidenz vermutlich ein kontinuierlich inverser ist.

#

Wichtige Aussagen für die praktische Beratung

Eine praktische Beratung kann trotz dieser Unzulänglichkeiten zu wichtigen Aussagen kommen. Zunächst lassen sich Konzentrationen für EPA und DHA aus EDTA-Plasma leicht messen. Sie können unter längere Zeit konstanten Ernährungsgewohnheiten als repräsentativ für die biologisch einzig wichtigen, bislang jedoch nur in Forschungsprojekten messbaren Konzentrationen in Zellmembranen, insbesondere im ZNS, gelten. Für DHA wird ein Referenzbereich von 130–230 mg/l, für EPA von 10–85 mg/l angegeben [6]. Diese Bestimmungen sind keine Leistung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM), sondern eine individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) bzw. allenfalls analog zu GOÄ Ziffer 3726 (Fettsäuren, Gaschromatografie) mit 410 Punkten zu berechnen.

Zur Beuteilung einer ausreichenden Veränderung bei etwaiger ungünstiger Ausgangssituation reicht eine Kontrolle frühestens 6 Wochen nach einer Ernährungsumstellung bzw. der Aufnahme einer Therapie mit Ω-3-Fettsäuren.

Es erscheint ferner hilfreich, darauf hinzuweisen, dass bislang keine toxischen Effekte auch für hohe tägliche Aufnahmen von EPA und DAH (summiert etwa 4 g) bzw. α-Linolensäure (etwa 20 ml bzw. g) beschrieben worden sind. Aufgrund ihrer bei hohen Dosierungen fibrinolytischen Eigenschaften erscheint eine gewisse Vorsicht bei der gleichzeitigen Einnahme von aggregationshemmenden Substanzen bzw. eine vorübergehend engmaschigere Kontrolle bei der Antikoagulation mit Phenprocoumon geboten. Bei initial unauffälligen Gerinnungsdaten und ohne entsprechende Komedikationen ließen sich in Studien mit Dosierungen bis 3 g/d EPA/DHA bei Rheumatikern keine Veränderungen der Gerinnungsparameter nachweisen (z. B. [10]).

Darüber hinaus können die Patienten versichert sein, dass sich eine gute Versorgung mit Ω-3-Fettsäuren Herz-Kreislauf-protektiv, insbesondere in der Tertiärprävention nach durchgemachtem Herzinfarkt und bei Hyperlipidämie, auswirkt. Vier in Deutschland als Arzneimittel zugelassene Präparate weisen diesen Indikationsbereich auf. Die entzündungshemmende Wirkung bei rheumatischen Erkrankungen ist in mindestens 17 kontrollierten Studien belegt, kommt hierzulande jedoch erstaunlich wenig zur Anwendung. Viel schwieriger ist die Beurteilung des Gehalts in käuflichem Fisch verschiedener Provenienzen sowie der Umwandlungsverluste.

Für die besondere Situation von Schwangerschaft und Stillzeit bzw. Babynahrung gilt, dass eine unzureichende Versorgung von Embryo und Kleinkind mit EPA zu schweren bleibenden ZNS-Schäden führt. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) gibt deshalb für Schwangere und Stillende die Empfehlung zur Aufnahme von mindestens 200 mg EPA/Tag aus, ohne dabei das Ziel einer optimalen Ausbildung des ZNS explizit zu nennen. Dieses sollte der Schwangeren im Rahmen einer qualifizierten Ernährungsberatung praktisch verdeutlicht werden.

#

Ernährung bei begünstigenden Komorbiditäten

Neben den noch sehr unsicheren Erkenntnissen zu spezifischen Ernährungsempfehlungen bez. Prävention wie Progressionsverlangsamung der Demenz müssen Komorbiditäten bzw. Risikokonstellationen konsequent angegangen werden.

Als gesichert eine demenzielle Entwicklung begünstigend müssen v. a. Diabetes mellitus jeden Typs, Hypertonie sowie Alkoholkrankheit angesehen werden. Speziell für die Demenz vom vaskulären Typ tritt die Hyperlipidämie, insbesondere mit ungünstigem HDL/LDL-Muster hinzu. Für die Kontrolle all dieser schon weit prädemenziell als Risikofaktoren anzusehenden, oft miteinander vergesellschaftet als Metabolisches Syndrom auftretenden und grundsätzlich günstig durch Ernährung beeinflussbaren Erkrankungen gilt, dass eine optimale Kontrolle gemäß den ihnen eigenen Ernährungsempfehlungen anzustreben ist. Hieraus ergeben sich kaum Widersprüche zu den oben angeführten, möglicherweise spezifischeren Ansätzen.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen bestehen.

#

Literatur

  • 1 Bauch A, Mensink G B M, Vohmann C, Stahl A, Fischer J, Kohler S, Six J, Heseker H. EsKiMo – Die Ernährungsstudie bei Kindern und Jugendlichen.  Ernährungsumschau. 2006;  53 380-385
  • 2 Féart C, Samieri C, Barberger-Gateau P. Mediterranean diet and cognitive function in older adults.  Curr Opin Clin Nutr Metab Care. 2010;  13 14-18
  • 3 Féart C, Torrès M J, Samieri C, Jutand M A, Peuchant E, Simopoulos A P, Barberger-Gateau P. Adherence to a Mediterranean diet and plasma fatty acids: data from the Bordeaux sample of the Three-City study.  J Am Med Assoc. 2009;  302 638-648
  • 4 Forette F, Seux M L, Staessen J A et al. The prevention of dementia with antihypertensive treatment: new evidence from the Systolic Hypertension in Europe (Syst-Eur) study.  Arch Intern Med. 2002;  162 2046-2052
  • 5 Gua Y, Luchsinger J A, Sterna Y, Scarmeasa N. Mediterranean diet, inflammatory and metabolic biomarkers, and risk of Alzheimer's disease.  J Alzh Dis. 2010;  22 483-492
  • 6 Labor Bayer .Fettsäuren. Im Internet: http://www.labor-bayer.de/untersuchungsprogr/hintergrundinfo-03-fettsaeuren.html Stand: 28.12.2011
  • 7 Max Rubner-Insitut .Nationale Verzehrsstudie II 2009. Im Internet: http://www.mri.bund.de/no_cache/de/institute/ernaehrungsverhalten/forschungsprojekte/die-nationale-verzehrsstudie-ii.html bzw. www.was-esse-ich.de/uploads/media/NVSII_Abschlussbericht_Teil_2.pdf Stand: 28.12.2011
  • 8 Scarmeas N, Stern Y, Mayeux R, Manly J J, Schupf N, Luchsinger J A. Mediterranean diet and mild cognitive impairment.  Arch Neurol. 2009;  66 216-225
  • 9 Schaefer E J, Bongard V, Beiser A S, Lamon-Fava S, Robins S J, Au R, Tucker K L, Kyle D J, Wilson P W, Wolf P A. Plasma phosphatidylcholine docosahexaenoic acid content and risk of dementia and Alzheimer disease: the Framingham Heart Study.  Arch Neurol. 2006;  63 1545-1550
  • 10 Stange R, Dawczynski C, Hackermeier U, Jahreis G, Springer M, Viehweger M, Uehleke B. Randomised controlled trial with Ω-3 polyunsaturated fatty acids and α-linolenic acid in patients with chronic inflammatory joint diseases. 5th International Congress on Complementary Medicine Research Tromsø, Norwegen; 2010. Abstrakt O-051, Abstract book S. 22
  • 11 Tangney C C, Kwasny M J, Li H, Wilson R S, Evans D A, Morris M C. Adherence to a Mediterranean-type dietary pattern and cognitive decline in a community population.  Am J Clin Nutr. 2011;  93 601-607
  • 12 Troen A M, Shea-Budgell M, Shukitt-Hale B, Smith D E, Selhub J, Rosenberg I H. B-vitamin deficiency causes hyperhomocysteinemia and vascular cognitive impairment in mice.  Proc Natl Acad Sci USA. 2008;  105 12474-12479
  • 13 Wald D S, Kasturiratne A, Simmonds M. Serum homocysteine and dementia: meta-analysis of eight cohort studies including 8669 participants.  Alzheimers Dement. 2011;  7 412-417
  • 14 Ziegler U, Doblhammer G. Prävalenz und Inzidenz von Demenz in Deutschland – Eine Studie auf Basis von Daten der gesetzlichen Krankenversicherungen von 2002.  Gesundheitswesen. 2009;  71 281-290

Zoom Image
Dr. med. Rainer Stange

Abteilung für Naturheilkunde der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Immanuel Krankenhaus

Königstraße 63

14109 Berlin

eMail: r.stange@immanuel.de

Rainer Stange ist Internist mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren und Physikalische Therapie. 1989–1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Naturheilkunde des Klinikums Benjamin Franklin in Berlin, 1994–2003 Oberarzt der Klinischen Abteilung des Lehrstuhls für Naturheilkunde. Seit 2003 Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde – Immanuel-Krankenhaus Berlin-Wannsee und Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin, seit Besetzung der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde 2009 leitender Arzt.

#

Literatur

  • 1 Bauch A, Mensink G B M, Vohmann C, Stahl A, Fischer J, Kohler S, Six J, Heseker H. EsKiMo – Die Ernährungsstudie bei Kindern und Jugendlichen.  Ernährungsumschau. 2006;  53 380-385
  • 2 Féart C, Samieri C, Barberger-Gateau P. Mediterranean diet and cognitive function in older adults.  Curr Opin Clin Nutr Metab Care. 2010;  13 14-18
  • 3 Féart C, Torrès M J, Samieri C, Jutand M A, Peuchant E, Simopoulos A P, Barberger-Gateau P. Adherence to a Mediterranean diet and plasma fatty acids: data from the Bordeaux sample of the Three-City study.  J Am Med Assoc. 2009;  302 638-648
  • 4 Forette F, Seux M L, Staessen J A et al. The prevention of dementia with antihypertensive treatment: new evidence from the Systolic Hypertension in Europe (Syst-Eur) study.  Arch Intern Med. 2002;  162 2046-2052
  • 5 Gua Y, Luchsinger J A, Sterna Y, Scarmeasa N. Mediterranean diet, inflammatory and metabolic biomarkers, and risk of Alzheimer's disease.  J Alzh Dis. 2010;  22 483-492
  • 6 Labor Bayer .Fettsäuren. Im Internet: http://www.labor-bayer.de/untersuchungsprogr/hintergrundinfo-03-fettsaeuren.html Stand: 28.12.2011
  • 7 Max Rubner-Insitut .Nationale Verzehrsstudie II 2009. Im Internet: http://www.mri.bund.de/no_cache/de/institute/ernaehrungsverhalten/forschungsprojekte/die-nationale-verzehrsstudie-ii.html bzw. www.was-esse-ich.de/uploads/media/NVSII_Abschlussbericht_Teil_2.pdf Stand: 28.12.2011
  • 8 Scarmeas N, Stern Y, Mayeux R, Manly J J, Schupf N, Luchsinger J A. Mediterranean diet and mild cognitive impairment.  Arch Neurol. 2009;  66 216-225
  • 9 Schaefer E J, Bongard V, Beiser A S, Lamon-Fava S, Robins S J, Au R, Tucker K L, Kyle D J, Wilson P W, Wolf P A. Plasma phosphatidylcholine docosahexaenoic acid content and risk of dementia and Alzheimer disease: the Framingham Heart Study.  Arch Neurol. 2006;  63 1545-1550
  • 10 Stange R, Dawczynski C, Hackermeier U, Jahreis G, Springer M, Viehweger M, Uehleke B. Randomised controlled trial with Ω-3 polyunsaturated fatty acids and α-linolenic acid in patients with chronic inflammatory joint diseases. 5th International Congress on Complementary Medicine Research Tromsø, Norwegen; 2010. Abstrakt O-051, Abstract book S. 22
  • 11 Tangney C C, Kwasny M J, Li H, Wilson R S, Evans D A, Morris M C. Adherence to a Mediterranean-type dietary pattern and cognitive decline in a community population.  Am J Clin Nutr. 2011;  93 601-607
  • 12 Troen A M, Shea-Budgell M, Shukitt-Hale B, Smith D E, Selhub J, Rosenberg I H. B-vitamin deficiency causes hyperhomocysteinemia and vascular cognitive impairment in mice.  Proc Natl Acad Sci USA. 2008;  105 12474-12479
  • 13 Wald D S, Kasturiratne A, Simmonds M. Serum homocysteine and dementia: meta-analysis of eight cohort studies including 8669 participants.  Alzheimers Dement. 2011;  7 412-417
  • 14 Ziegler U, Doblhammer G. Prävalenz und Inzidenz von Demenz in Deutschland – Eine Studie auf Basis von Daten der gesetzlichen Krankenversicherungen von 2002.  Gesundheitswesen. 2009;  71 281-290

Zoom Image
Dr. med. Rainer Stange

Abteilung für Naturheilkunde der Charité – Universitätsmedizin Berlin
Immanuel Krankenhaus

Königstraße 63

14109 Berlin

eMail: r.stange@immanuel.de

Rainer Stange ist Internist mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren und Physikalische Therapie. 1989–1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Naturheilkunde des Klinikums Benjamin Franklin in Berlin, 1994–2003 Oberarzt der Klinischen Abteilung des Lehrstuhls für Naturheilkunde. Seit 2003 Chefarzt der Abteilung für Naturheilkunde – Immanuel-Krankenhaus Berlin-Wannsee und Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin, seit Besetzung der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde 2009 leitender Arzt.

Zoom Image

„Nervennahrung“ – Prävention für Demenz?

Zoom Image

Abb. 1 Geschätzte Prävalenz für M. Alzheimer in % der Bevölkerung über 60 Jahre der jeweiligen Region. Größter Abstand: Lateinamerika Süd zu Subsahara West 8,2/2,0 bzw. 4,1/1,0. Quelle World Alzheimer Report 2010.

Zoom Image

Abb. 2 Altersabhängige Prävalenz der Demenz nach europäischen und nordamerikanischen Erhebungen und Metaanalysen. © [14].

Zoom Image

Abb. 3 Zunahme der Prävalenzen für Demenz mit verbessertem sozioökonomischen Status. Schätzungen des World Alzheimer Report 2010.

Zoom Image

Abb. 4 Sushi ist nicht jedermanns Sache, aber eine gute Quelle für Ω-3-Fettsäuren. © Photo Alto.

Zoom Image