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DOI: 10.1055/s-0031-1298944
EPaNIC Trial – alles Panik oder was?
EPaNIC Trial − Much a Panic about Nothing?Publication History
Publication Date:
14 February 2012 (online)
Die Arbeitsgruppe um Greet Van den Berghe fokussiert in dieser Originalarbeit auf die Frage, ob bei Intensivpatienten eine parenterale Ernährung früh oder eher spät begonnen werden soll [1] [2]. Darüber hinaus wird aber auch die lang anhaltende Diskussion „parenterale versus enterale Ernährung“ erneut aufgegriffen, wie Fragen nach der Dosierung und Zusammensetzung der beiden unterschiedlichen Ernährungsformen. All dies mündet ein in einen scheinbar kontroversen Vergleich zwischen europäischen Leitlinien [3] auf der einen Seite und amerikanischen [4] und kanadischen [5] auf der anderen Seite.
Zu den Fakten: Es handelt sich um eine randomisierte multizentrische Studie, der ein bereits früher publiziertes Studienprotokoll zugrunde liegt [2]. Die Fallzahlen in beiden Studienarmen sind hoch. Es wurden Patienten eingeschlossen, die gemäß dem „Nutritional Risk Screening“ (NRS) [6] einen Score von mindesten 3 oder mehr aufwiesen.
Das Design der Studie wirft einige Fragen auf:
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Ist das von der Arbeitsgruppe gewählte Patientenkollektiv repräsentativ?
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Entsprechen die Ernährungsregime den Empfehlungen der ESPEN bez. Energiezufuhr und Zusammensetzung?
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Ist das Zielfenster der Tight Glucose Control von 80 – 110 mg/dl uneingeschränkt akzeptiert?
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Sind die Kriterien für die Verlegung eines Intensivpatienten valide?
Zu 1. Gemäß NRS Screening (NRS 2002) erhält ein Intensivpatient automatisch 3 Punkte. Der NRS-Score ist somit kaum geeignet, um kritisch Kranke herauszufiltern, die Zeichen einer Mangelernährung aufweisen. Zudem hat die Arbeitsgruppe um Greet Van den Berghe im überwiegenden Maße kardiochirurgische Patienten in die Studie mit einbezogen (Late PN Group 1408 [60,5 %] versus Early PN Group 1410 [61 %]), die in der Regel nur einer kurzfristigen Intensivtherapie bedürfen.
Zu 2. Die Ernährungsregime entsprechen in mehreren Punkten nicht den Empfehlungen der europäischen Leitlinien. So ist die Energiezufuhr, insbesondere in der Gruppe mit früher parenteraler Ernährung, zweifelsfrei zu hoch, teilweise haben die Patienten bis zu 30 kcal/kg KG/Tag und mehr erhalten. Die europäische LL empfiehlt eine tägliche Energiezufuhr von maximal 25 kcal/kg KG/Tag, eine Obergrenze, die innerhalb von 2 – 3 Tagen schrittweise zu erreichen ist [3]. Zudem wird eine komplette parenterale Ernährung unter Einbeziehung von Aminosäuren und Fettemulsionen empfohlen, in der vorliegenden Studie wurden in der frühen parenteralen Gruppe in den ersten beiden Tagen nur 20 %ige Glukoselösungen (Tag 1 400 kcal, Tag 2 800 kcal) verabfolgt. Die hohe und zudem einseitig auf Kohlenhydrate fokussierte Energiezufuhr in den ersten beiden Tagen führte zwangsläufig zu einer höheren Insulinzufuhr, um die Blutzuckerspiegel zu „normalisieren“.
Zu 3. Offen bleibt, ob der von Greet Van den Berghe im Rahmen der „Tight Glucose Control“ vorgeschlagene Targetbereich von 80 – 110 mg/dl tatsächlich sinnvoll ist. Expertenbasierte Meinungen gehen eher von einem Bereich von 150 ± 15 mg/dl aus, um die Gefahr von Hypoglykämien zu vermeiden. So konnten Duncan u. Mitarb. [7] in einer retrospektiven Analyse an 4300 kardiochirurgischen Patienten zeigen, dass die Mortalität, Gesamtmorbidität, die Dauer der Beatmung, die Häufigkeit von Nierenversagen sowie die Zahl schwerer Infektionen in dem Kollektiv mit einem mittleren Blutzuckerspiegel von 141 – 170 mg/dl am niedrigsten waren.
Zu 4. Bereits nach 3 Tagen war in beiden Studienarmen die Hälfte aller Patienten von der Intensivstation entlassen worden. Am 7. Studientag waren nur noch 655 respektive 736 Patienten in der Studie verblieben. D. h., nur ein Bruchteil der Patienten wurde „spät“ parenteral ernährt. Inwieweit somit eine statistisch gesicherte Aussage überhaupt möglich ist, bleibt offen. Die Mortalitätsraten (ICU-, Hospital- sowie 90-Tage-Mortalität) waren in beiden Gruppen nicht unterschiedlich, lediglich die Intensivverweildauer war in der spät parenteral ernährten Gruppe im Mittel um einen Tag kürzer. Von der Intensivstation entlassen wurde ein Patient, sobald kein Organersatzverfahren mehr nötig war und 2 Drittel der errechneten Kalorien oral zugeführt werden konnten. Letztgenanntes Merkmal ist aus der Erfahrung der täglichen Praxis kaum einzuhalten, sprich Patienten müssen häufig früher verlegt werden. Die Unterschiede in der Beatmungszeit können u. U. darauf zurückgeführt werden, dass in der früh parenteral ernährten Gruppe die Energiezufuhr zu hoch war und vor allem einseitig mit Kohlenhydraten erfolgte, was die Kohlendioxydproduktion ansteigen ließ. Zudem führte die nicht leitlinienkonforme Ernährung zu hohen Blutzuckerspiegeln in der früh parenteral ernährten Gruppe, was durchaus die beobachteten höheren Infektionsraten erklären kann.
Die Studie von Greet Van den Berghe wirft zahlreiche Fragen auf. Trotzdem verdient sie Beachtung, da sie das kritische Überprüfen tradierter Vorgehensweisen anregt. Allerdings erscheint die Empfehlung, die europäischen Guidelines zu verwerfen und sich den amerikanischen und kanadischen anzulehnen, als nicht gerechtfertigt.
Erst kürzlich hat anlässlich der ESPEN-Jahrestagung 2011 in Göteborg die Arbeitsgruppe um Claude Pichard [8] in einer ähnlichen Studie zeigen können, dass eine die enterale Ernährung früh supplementierende parenterale Ernährung bei kritisch Kranken Vorteile bietet. Patienten, die 5 Tage und länger intensivmedizinisch zu betreuen waren, erhielten vom 1. Tag an eine enterale Ernährung. Ab dem 4. Tag erhielten Patienten, bei denen der indirekt kalorimetrisch gemessene Energieumsatz nur zu 60 % gedeckt werden konnte, entweder eine supplementierende parenterale Ernährung, die den Energiebedarf zu 100 % deckte, oder aber die Patienten wurden weiterhin nur enteral versorgt. In der Patientengruppe, die enterale plus supplementierende parenterale Ernährung erhielten, konnte eine signifikante Reduktion der Infektionsrate und eine Senkung des Antibiotikaverbrauchs ebenso nachgewiesen werden wie eine Verkürzung der Beatmungsdauer.
Diese Studie weist, wie einige andere Untersuchungen, darauf hin, dass ein Defizit in der Energiezufuhr das Outcome von kritisch Kranken nachteilig beeinflussen kann. Allerdings kann auch eine den tatsächlichen Energiebedarf übersteigende Zufuhr, so wie es offensichtlich im Fall des EPaNIC-Trial der Fall war, negative Auswirkungen haben. Dissanaike et al. [9] konnten in einer prospektiven Studie negative Effekte einer energetischen Überversorgung auf den Krankheitsverlauf, nicht zuletzt verursacht durch eine Zunahme von Infektionen, belegen. Ähnliche Tendenzen lässt eine aktuelle Publikation aus der Arbeitsgruppe von Heyland [10] erkennen. Verglichen wurde eine frühe enterale Ernährung mit einer Kombination an früher enteraler und parenteraler Ernährung sowie gegen eine Gruppe, die eine frühe enterale plus einer späte parenterale Ernährung erhielt. Die Mortalität war in der ausschließlich enteral ernährten Gruppe am niedrigsten. Weitreichende Rückschlüsse sind allerdings aus diesem Ergebnis nicht abzuleiten, da es sich um eine reine Observationsstudie handelte, deren Ergebnisse auf einer internationalen Befragung bez. der Ernährungsgewohnheiten in Intensivstationen basierte.
Somit stellt sich die Frage, wie sich das Optimum an Energiezufuhr für den individuellen Patienten definiert bzw. zu berechnen oder aber zu erfassen ist. Dieser Fragestellung widmete sich zuletzt die „Tight Calorie Control Study (TICACOS)“ [11]. In dieser Studie wurde die Energiezufuhr entweder mit der Methode der indirekten Kalorimetrie oder aber per Berechnung über Formeln gesteuert. Die Ernährung begann innerhalb der ersten 48 Stunden nach Aufnahme auf die Intensivstation, war weitgehend enteral basiert, wurde aber parenteral supplementiert, wenn die Zielgröße der Energiezufuhr nicht erreicht werden konnte. In der Gruppe, deren Energiezufuhr aufgrund der Ergebnisse der indirekten Kalorimetrie durch eine Kombination aus enteraler plus parenteraler Ernährung optimiert worden war, konnte eine bessere Hospitalüberlebensrate nachgewiesen werden. Allerdings war in dieser Gruppe die Intensivverweildauer länger, die Zahl der Beatmungstage ebenso etwas höher wie die Infektionsrate.
Die erwähnten Studien von Heidegger [8] und Singer [11] lassen zusammen mit anderen erkennen, dass eine enterale Ernährung in jedem Fall so früh wie möglich begonnen werden sollte. Allerdings muss bei kritisch Kranken stets mit einer gastrointestinalen Motilitätsstörung gerechnet werden, die eine antrale Hypomotilität ebenso umfasst wie eine verzögerte Magenentleerung und eine deutlich verminderte Zahl sog. migrierender Motorkomplexe [12]. Insofern ist insbesondere bei kritisch Kranken die Kombination einer frühen enteralen Ernährung mit einer supplementierenden parenteralen Ernährung zu empfehlen, um die Versorgung mit Energieträgern und Substraten in jedem Fall sicher zu stellen. Zudem weisen neuere Untersuchungen von Lidder et al. [13] darauf hin, dass postoperativ die kombinierte enterale/parenterale Ernährung im Vergleich zu einer einseitigen parenteralen Versorgung mit niedrigeren Blutzuckerspiegeln einhergeht, die Insulinresistenz verringert ist und gleichzeitig die Synthese von Inkretinen (GIP glucose-dependent insulinotropic polypeptide) zunimmt und sich die intestinale Permeabilität verbessern lässt.
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Literatur
- 1 Casaer MP, Mesotten D, Hermans G et al. Early versus late parenteral nutrition in critically ill adults. N Engl J Med 2011; 365: 506-517
- 2 Casaer M, Hermans G, Wilmer A et al. Impact of early parenteral nutrition completing enteral nutrition in adult critically ill patients (EPaNIC trial): a study protocol and statistical analysis plan for a randomized controlled trial. Trials 2011; 12: 21
- 3 Singer P, Berger MM, van den Berghe G et al. Guidelines for parenteral nutrition: intensive care. Clin Nutr 2009; 28: 387-400
- 4 Martindale RG, McClave SA, Vanek VW et al. Guidelines for the provision and assessment of nutrition support therapy in the adult critically ill patient: Society of Critical Care Medicine and American Society for Parenteral and Enteral Nutrition: executive summary. Crit Care Med 2009; 37: 1757-1761
- 5 Heyland DK, Dhaliwal R, Drover JW et al. Canadian clinical practice guidelines for nutrition support in mechanically ventilated, critically ill adult patients. JPEN J Parenter Enteral Nutr 2003; 27: 355-373
- 6 Kondrup J, Allison SP, Elia M et al. ESPEN guidelines for nutrition screening 2002. Clin Nutr 2003; 22: 415-421
- 7 Duncan AE, Abd-Elsayed A, Maheshwari A et al. Role of Intraoperative and Postoperative Blood Glucose Concentrations in Predicting Outcomes after Cardiac Surgery. Anesthesiology 2010; 112: 860-871
- 8 Heidegger CP, Graf S, Thibault R et al. Supplemental parenteral nutrition (SPN) in intensive care unit (ICU) patients for optimal energy coverage: improved clinical outcome. Clin Nutr 2011; (Suppl. 01) 2-3
- 9 Dissanaike S, Shelton M, Warner K et al. The risk for bloodstream infections is associated with increased parenteral caloric intake in patients receiving parenteral nutrition. Critical Care 2007; 11: R114 doi: DOI: 10.1186/cc6167.
- 10 Kutsogiannis J, Alberda C, Gramlich L et al. Early use of supplemental parenteral nutrition in critically ill patients: Results of an international multicenter observational study. Crit Care Med 2011; 39: 2691-2699
- 11 Singer P, Anber R, Cohen J et al. The Tight Calorie Control Study (TICACOS): a prospective, randomized, controlled pilot study of nutritional support in critically ill patients. Intensive Care Med 2011; 37: 601-609
- 12 Ukleja A. Altered GI. Motility in Critically Ill. Nutrition in Clinical Practice 2010; 25: 16-25
- 13 Lidder P, Flanagan D, Fleming S et al. Combining enteral with parenteral nutrition to improve postoperative glucose control. British Journal of Nutrition 2010; 103: 1635-1641
- 14 Arabi YM, Tamim HM, Dhar GS et al. Permissive underfeeding and intensive insulin therapy in critically ill patients: a randomized controlled trial. Am J Clin Nutr 2011; 93: 569-577