Z Orthop Unfall 2011; 149(06): 613-614
DOI: 10.1055/s-0031-1299612
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zeitmanagement – Prokrastination – Was Du heute kannst besorgen …

Simone Gritsch
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Publication Date:
20 December 2011 (online)

 
 

Jeder fünfte Mitbürger schiebt unangenehme Aufgaben gerne auf. Steuererklärung, Prüfungsvorbereitung, sich im Fitnessstudio anmelden – man kann vielen Dingen aus dem Weg gehen. Es ist ja auch viel attraktiver, an seinem freien Abend einen lange vernachlässigten Freund anzurufen als den Steuerberater. Im Extremfall handelt es sich um eine Arbeitsstörung, der es zu begegnen gilt.

Sonntagabend. 20.15 Uhr. Eigentlich wollte ich dieses Wochenende endlich meine Steuererklärung machen. Ich bin drei Jahre im Verzug. Ich hatte die Unterlagen sogar schon einmal beisammen und war damit beim Finanzamt, um mich zu vergewissern, dass sie vollständig sind. Doch die Dame am Schalter ließ diesen Traum platzen: "Da fehlt noch die Anlage für Einkünfte aus Kapitalvermögen. Einfach ergänzen und in den Briefkasten werfen. Es eilt nicht." Damit war mein Elend besiegelt. Das war vor 2 Jahren. Bis zu diesem Briefkasten bin ich nie gekommen.

Und jetzt sitz ich mal wieder da an einem Sonntagabend. Ich habe mir das Wochenende sogar extra für den Papierkrieg freigehalten und meiner besten Freundin feierlich erklärt: "Keine Zeit für Kaffeekränzchen. Sonntagabend will ich mit meinem Papierkram durch sein." Meine Unterlagen hatte ich bis jetzt natürlich nicht in der Hand. Man kann aber nicht sagen, dass ich untätig war. Ich habe viel geschafft. Die Küche, den Müll, das Bad, die Fenster, alles tipptopp. Nur die Unterlagen liegen immer noch da wie ein Häufchen Elend. Dabei habe ich es mir so fest vorgenommen. Jetzt läuft aber erst mal Tatort. Und danach ist es zu spät, ich muss morgen schließlich früh raus…

Das Kind hat einen Namen

Ich dachte immer, ich sei für Papierkram einfach nicht geschaffen, und das gehöre zu meiner Persönlichkeit. Ich bin schließlich Therapeutin, praktisch veranlagt und keine Steuerfachgehilfin. Diese Erklärung ist aber nur bedingt tröstlich. Hilfreicher ist: Damit bin ich nicht alleine. Offensichtlich leidet jeder Fünfte unabhängig von Nationalität und Bildung unter dem Phänomen, unangenehme Dinge chronisch aufzuschieben. Dabei unterscheiden sich Frauen nicht von Männern [4]. Das Kind hat sogar einen Namen: Prokrastination.

Prokrastinierer sind nicht faul oder willensschwach, trotzdem haben sie ein echtes Problem, auch wenn es keine eigene Diagnose ist. Unzählige Studien beschäftigen sich weltweit mit dem Thema. In London findet sogar alle 2 Jahre ein Prokrastinations-Kongress statt. Und in Münster wurden eine Prokrastinationsambulanz sowie 3 Module eingerichtet, die betroffenen Studenten helfen sollen, pünktlich anzufangen, realistisch zu planen und effektiv zu lernen [4].


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Menschen brauchen Belohnungen

Im Grunde bedeutet Prokrastination das chronische Aufschieben unangenehmer Aufgaben, darum umgangssprachlich auch oft "Aufschieberitis" genannt. Sie verschont weder private Aktivitäten noch akademische oder berufliche Tätigkeiten. Betroffene zögern Dinge hinaus, die erledigt werden müssen. An diesem Umstand ist erst einmal nichts verwerflich, denn warum sollte man sich gerne mit unangenehmen Aufgaben beschäftigen? Da müsste sich schon eine direkte Belohnung anschließen. Oft liegt diese, so wie bei der Steuerrückzahlung, aber so weit in der Ferne, dass es für den Moment keinen wirklichen Anreiz darstellt, sich durch die Unannehmlichkeit zu quälen. Darum putze ich lieber das Auto oder taue meinen Kühlschrank ab. Dabei bin ich nicht untätig und habe direkt ein Ergebnis: klare Sicht oder einen Kühlschrank wie neu. Ein Buch würde ich stattdessen nicht lesen, weil es mein schlechtes Gewissen verstärken würde. Auch das ist typisch für Prokrastinierer: Zu angenehm darf die Ersatzhandlung nicht sein.


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Jeder schiebt auf, nur anders

Im Prinzip prokrastiniert jeder hin und wieder. Man will einerseits unangenehme Dinge vermeiden, andererseits aber auch die unangenehmen Folgen, z. B. eines verpassten Abgabetermins. Je näher die Deadline kommt, desto mehr überwiegt eine Seite. Die Schmerzgrenze ist bei jedem anders. Dieses Verhalten lässt sich keiner speziellen Personengruppe oder sozialen Schicht zuordnen. Besonders gefährdet sind allerdings diejenigen, die ihre Zeit frei einteilen können [1]. Darunter fallen auch Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, einen erfolgreichen Job haben, aber bei bestimmten Erledigungen kapitulieren. Das scheint absurd und unverständlich, darum versuchen sie auch meist, ihr Leiden zu verbergen [10].

Nicht nur die Schmerzgrenze ist bei jedem anders, das Aufschieben selbst unterscheidet sich ebenfalls. Der eine prokrastiniert aktiv und erledigt alles andere, nur nicht das, was er eigentlich sollte. Er empfindet Zeitnot sogar als Anreiz, in letzter Sekunde noch alles zu schaffen [12]. Von ihm hört man oft: "Ich brauche den Zeitdruck, um effektiv arbeiten zu können" [4]. Die andere Form der Prokrastinierer sind passive Vermeidungsaufschieber. Sie gehen einer unangenehmen Verpflichtung aus dem Weg, sind am Ende aber so gestresst, dass sie scheitern. Hinter dem Warten bis zum richtigen Zeitpunkt stecken oft Minderwertigkeitsgefühle oder Versagensängste, die zur Aufgabe des Vorhabens führen können [12].


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Wann wird es pathologisch?

Über die genauen Gründe für Prokrastination streiten sich die Wissenschaftler noch [6]. Höchstwahrscheinlich entsteht sie nicht durch einen bestimmten Charakter, sondern ist eine Angewohnheit. Solange man mit ihr leben kann, ist sie kein Problem. Was aber, wenn die Betroffenen ihre Aufgaben nicht mehr nur vertagen, sondern Entscheidungen vermeiden, weil sie sich gelähmt fühlen? Dann löst das schlechte Gewissen aufgrund der unerledigten Aufgaben Stress und Nervosität aus [1, 12]. Das liegt nicht an mangelnder Intelligenz – im Gegenteil. Diese Prokrastinierer können ihre Ziele klar definieren, nur die notwendigen Schritte nicht ausführen. Weil ihnen das bewusst ist, nehmen die Minderwertigkeitsgefühle zu, eine Abwärtsspirale beginnt [11]. Die Folgen können ganz unterschiedlich sein. Sie reichen von Schlafstörungen über Panik bis hin zur Suizidalität [10]. An diesem Punkt ist die Prokrastination pathologisch, und für die Betroffenen können Nachteile wie ein verlorener Arbeitsplatz entstehen. Das zu verhindern, wären sie eigentlich sowohl körperlich als auch geistig in der Lage gewesen [8, 10]. Diese Arbeitsstörung bedarf professioneller psychologischer Hilfe, denn hier kommen die Betroffenen mit Selbstdisziplin nicht mehr weiter. Sie können den Impuls, etwas aufzuschieben, nicht mehr kontrollieren [6]. Prioritäten zu setzen, wird für sie unmöglich, sie können sich nicht richtig konzentrieren und entwickeln eine wachsende Abneigung gegen die anstehende Aufgabe. Weder die Aufgabe noch die eigene Leistungsfähigkeit können sie noch realistisch einschätzen, und die Angst, zu versagen oder kritisiert zu werden, steigt [9].

Prokrastination kann sowohl die Folge als auch eine Ursache für eine Depression sein [10]. Wenn das chronische Aufschieben selbst das Wohlbefinden beeinträchtigt, dann kann es zur Ursache für psychische Symptome werden [8, 9]. Vertreter der schwersten Formen, wie dem Messie-Syndrom, kennt man aus Reportagen [13]. Hier werden häufig hoch verschuldete Menschen oder Problemfamilien begleitet. Der Stress lässt sie häufig so verzweifeln, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen können. Ihre Selbstdisziplin reicht häufig nicht mehr aus, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Dann kann meist nur noch eine professionelle Therapie helfen [10].


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Stress: der Weg zur Prokrastination

Wer lediglich unter einer milden Form von Prokrastination leidet, dem können bereits kleine Hinweise weiterhelfen ([ Kasten ] "Hilfe zur Selbsthilfe"). Reichen diese nicht aus und hat man das Gefühl, professionelle Hilfe zu benötigen, sollte man einen Kurs in Zeitmanagement- oder Stressbewältigungsstrategien in Erwägung ziehen. In jedem Fall bringen gute Vorsätze, Zeitdruck oder gut gemeinte Ratschläge wie "Fang doch einfach an" nicht viel [6].

Hilfe zur Selbsthilfe – Wie Sie der Prokrastination ein Ende setzen
  • Erstellen Sie eine Liste mit Dingen, die Sie schon lange machen wollten – inklusive Freizeit und Vergnügen!

  • Streichen Sie Unwichtiges und beschränken Sie sich auf realistische und bedeutungsvolle Ziele – arbeiten Sie nicht auch so mit Ihren Patienten?

  • Identifizieren Sie, warum manche Aufgaben unangenehm sind: Haben Sie Sorge, sie nicht bewältigen oder gut genug erledigen zu können?

  • Unterteilen Sie anschließend die großen Aufgaben in kleine Einzelschritte.

  • Legen Sie einen Anfangszeitpunkt fest, schätzen Sie den Zeitaufwand und verdoppeln Sie ihn.

  • Legen Sie schließlich Belohnungen für sich fest.

Gewohnheiten aufgeben

Letztlich hat Prokrastination erst eine Chance, wenn Stress – bei der Arbeit und privat – überhandnimmt. Dann kommt der Punkt, an dem man nichts mehr ohne Druck erledigt. Aber machen wir uns den Stress nicht selbst? Ihn abzuwenden und bewusst mit sich und seiner Umwelt umzugehen, setzt ein gutes Gefühl für sich selbst und einen starken Willen voraus. Man muss in sich hineinhorchen und aus Gewohnheiten ausbrechen [11]. Wer seine Neigung zum Aufschieben hinterfragt und besser versteht, kann sie auch akzeptieren oder ändern. Beides lohnt sich [5].

Ich habe mich für die Belohnungsvariante entschieden: Wenn ich ungeliebte Bügelwäsche zu erledigen habe, dann darf ich nebenbei Tatort schauen. Letzten Monat habe ich sogar erfolgreich meinen Keller entrümpelt, das war längst überfällig. Der Lohn: Ich habe mir dabei vorgestellt, was ich beim anstehenden Umzug nicht schleppen muss. Warum ich das mit der Steuererklärung nicht schaffe, habe ich noch nicht herausgefunden. Ich schätze, ich habe einfach noch nicht die richtige Belohnung entdeckt.

Literatur beim Verfasser
Simone Gritsch, Stuttgart
Korrespondenz: simone.gritsch@thieme.de


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