Hans Georg Bone
Am 25. 10. 2011 wurde überraschend mitgeteilt,
dass die Firma Eli Lilly das Medikament Xigris® (Drotrecogin
alfa (activated), rekombinantes humanes aktiviertes Protein C) international
vom Markt nimmt [1]. Am 26. 10. 2011
folgte dann in Deutschland ein entsprechender „Rote Hand“-Brief,
in dem die Lilly Deutschland GmbH mitteilte, dass auf Grund neuer klinischer
Daten, die eine mangelnde Wirksamkeit von Xigris zeigten und das
Nutzen-Risiko-Profil des Medikamentes in Frage stellen würden, Xigris mit
sofortiger Wirkung zurückgezogen würde. Schon begonnene Therapien mit
Xigris sollten abgebrochen werden und neue Therapien mit der Substanz nicht
mehr begonnen werden. Die neuen Daten, die dieses unerwartete Ende von Xigris
verursachten, waren die Ergebnisse der PROWESS-SHOCK-Studie, bei der die
28-Tage Mortalität von mit Xigris behandelten Patienten
(n = 846) 26,4 % betrug, die der
Placebo-Kontrollgruppe (n = 834) dagegen
24,2 % (p = 0,31,
RR = 1,09 [0,92 – 1,28])
[2]. Auch beim sekundären Endpunkt der Studie,
der 28-Tage Mortalität von Patienten mit septischem Schock und schwerem
Protein C-Mangel, fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen der
Behandlungs- und Kontrollgruppe [1]. Allerdings gab
es in der PROWESS-SHOCK-Studie auch keine Hinweise auf eine erhöhte
Nebenwirkungsrate durch die Gabe von Xigris. Die für die meisten
intensivmedizinisch Interessierten überraschende Marktrücknahme von
Xigris stand am Ende einer seit 10 Jahren lebhaft und emotional geführten
Diskussion um den Sinn, die Effektivität und das Marketing dieser Substanz
– oder wie Peter Suter in einem aktuellen Editorial schrieb, am Ende
einer 10-jährigen Odyssee [3]. Schon der
klinische Start des aktivierten Protein C, das antiinflammatorische,
antithrombotische und profibrinolytische Eigenschaften aufweist, war
außergewöhnlich. Für die klinische Zulassung lag nur eine
große multizentrische Studie (PROWESS-Studie) vor, die allerdings eine
deutliche Reduktion der 28-Tage-Mortalität (6,1 % absolute
und 19,4 % relative Mortalitätsreduktion) bei Patienten mit
schwerer Sepsis zeigte [4]. Auf Grund dieser
signifikanten Mortalitätsreduktion wurde die Studie schon nach der 2.
Interimsanalyse gestoppt, nachdem 1690 und nicht wie initial geplant 2280
Patienten eingeschlossen wurden. In den USA wurde die Substanz 2001 durch die
FDA zugelassen, obwohl im externen Expertengremium 10 Stimmen für und 10
Stimmen gegen eine Zulassung gestimmt hatten [5].
Im Jahr 2002 erfolgte auch die europaweite Zulassung durch die europäische
Arzneimittelbehörde (EMA). Allerdings war diese europäische Zulassung
auf Grund der anfänglich nur dünnen Datenlage mit der Auflage einer
erneuten jährlichen Prüfung durch ein entsprechendes
europäisches Expertenkomitee verbunden [1].
Anders als in der PROWESS-Studie konnten die mortalitätssenkenden Effekte
von Xigris in 2 weiteren randomisierten Studien nicht gezeigt werden
[6]
[7]. Die
Sinnhaftigkeit der Gabe von aktiviertem Protein C bei Patienten mit schwerer
Sepsis oder septischem Schock blieb deswegen immer in der Diskussion
[8]
[9]. Wegen dieser
Unklarheiten in Bezug auf Effektivität und Nebenwirkungsspektrum forderte
die EMA 2007 im Rahmen der jährlichen Zulassungsprüfung eine
Wiederholung der PROWESS-Studie bei Patienten mit septischem Schock. Diese
PROWESS-SHOCK-Study wurde 2008 gestartet und ihre ersten Ergebnisse
(s. o.) führten dann zum klinischen Ende von Xigris. Auch wenn die
Publikation aller Daten der PROWESS-SHOCK-Study erst in den nächsten
Monaten zu erwarten ist, so hat die Überraschung über die
Marktrücknahme dieses Medikaments schon zu einigen nachdenklichen
Editorials Anlass gegeben [2]
[3]
[10]. Auch von mir 3
Gedanken zum „Ende“ von Xigris:
-
Neben berechtigtem Enthusiasmus, weil erstmals ein spezifisches
Sepsismedikament auf den Markt gekommen war, haben sich viele Intensivmediziner
rund um die Welt (u. a. auch ich) von einem aggressiven Marketing
einfangen lassen. Sepsisleitlinien und die zugehörigen Experten wurden
z. T. im erheblichen Maße von Lilly gesponsert
[11]. Die Marketingstrategie bei Xigris hatte
schon in den letzten 10 Jahren für erhebliche Diskussionen gesorgt
[11] und die Kritik daran hat hoffentlich
besonders jetzt nach dem Scheitern des Medikamentes auch weitere Auswirkungen
auf das Verhalten der pharmazeutischen Industrie und auch auf unseren Umgang
mit aggressivem pharmazeutischem Marketing.
-
Sepsis ist kein homogenes Krankheitsbild mit immer gleichen
einfachen pathophysiologischen Vorgängen. Phasen der Hyperinflammation
wechseln sich mit Phasen einer ausgeprägten Immunsuppression ebenso ab,
wie Phasen einer extremen Vasodilatation und Phasen mit einer Vasokonstriktion
[12]. Diese z. T. widersprüchlichen
pathophysiologischen Vorgänge kommen nicht nur im zeitlichen Verlauf einer
Sepsis nacheinander vor, sondern auch zeitgleich an verschiedenen Stellen des
Körpers. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, warum in
den letzten 2 Jahrzehnten mehr als 20 unterschiedliche Substanzen in klinischen
Sepsisstudien gescheitert sind. Es bleibt zu hoffen, dass trotz dieser vielen
gescheiterten Hoffnungen noch weiter klinische pharmazeutische Forschung auf
dem Gebiet der Sepsis erfolgt.
-
Weltweit nimmt die Inzidenz der schweren Sepsis zu
[13]
[14].
Gleichzeitig sinkt in fast allen Studien zu diesem Thema die Mortalität
der schweren Sepsis [13]
[15]. In der initialen PROWESS-Studie lag die
Mortalität in der Kontrollgruppe bei 30,8 und in der Behandlungsgruppe bei
24,7 % [4]. Zehn Jahre später
lag schon in der Kontrollgruppe der PROWESS-SHOCK-Studie die Mortalität
nur noch bei 24,2 % [1]. Die
z. Zt. vorhandene wissenschaftliche Evidenz spricht dafür, dass
diese phantastische Mortalitätsreduktion bei der schweren Sepsis
ausschließlich durch das schnelle und richtige Anwenden einfacher
klinischer Behandlungsstrategien (frühe Antibiotikatherapie, frühe
hämodynamische Stabilisierung, Lungen-protektive-Beatmung u. a.)
erreicht werden konnte [15]. So hat die
u. a. durch Xigris ausgelöste Sensibilisierung für die
klinischen Probleme der Sepsis, das entsprechende aggressive Marketing und die
nachfolgenden Kampagnen und Leitlinien doch zu einer deutlichen Reduktion der
Sepsissterblichkeit geführt. Zumindest indirekt rettet Xigris also weiter
Leben.