Prof. Dr. Manfred Wildner
Als François de Salignac de La Mothe-Fénelon, Erzbischof von Cambrai, in den Jahren
1693 und 1694 den Erziehungsroman “Die Abenteuer des Telemach“ für den Herzog von
Burgund schrieb, geschah dies nicht ohne persönliche Gefährdung [1]. Da er bereits vom französischen Königshof wegen unbotmäßiger Publikationen unter
scharfer Beobachtung stand, verzichtete er auf eine Publikation. Die Veröffentlichung,
die sich erst 1699 im Ausland vollzog, ist der Untreue eines Kopisten zu verdanken,
der diese Schrift anonym und wie man sagt ohne Wissen des Erzbischofs in Umlauf brachte
– mit großem Erfolg.
Dass ihm 100 Jahre später die Begriffe Liberté, Égalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) im Gefolge der französischen Revolution zugeschrieben
werden würden, konnte Fénelon nicht ahnen. Diese Geschichte gibt jedoch ein beredtes
Beispiel von der Macht der Ideen. Dass die staatliche Autorität letztlich ein Diener
der Freiheit und des öffentlichen Wohls sein sollte, wie Fénelon im 18-ten Buch der
„Abenteuer des Telemach“ schreibt, ist eine dieser Ideen.
Ideen, wenn ihre Zeit gekommen ist, scheinen mehr als einmal geboren zu werden. Im
Jahr 1776 wählte der Geheimorden der Illuminaten – vom Ingolstädter Professor für
Kirchenrecht Adam Weißhaupt gegründet – die Vervollkommnung und den Fortschritt der
Menschheit in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Motto. Der geheime Weisheitsbund wurde neun Jahre später verboten. Die Devise
von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde jedoch während der Französischen
Revolution von Antoine-François Momoro wieder aufgegriffen und im Zusammenhang mit
Veröffentlichungen zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1792) popularisiert.
Momoros ursprüngliche Formulierung lautete „Liberté, Egalité, Indivisibilité ou la mort“ (Freiheit, Gleichheit, [staatliche] Ungeteiltheit oder der Tod). Momoro wurde 2
Jahre später unter der Gulliotine in Paris enthauptet.
Die Sache mit der Freiheit scheint nicht so einfach zu sein. Der Weg bis hin zu einer
Freiheitsstatue auf einer Liberty Island im New Yorker Hafen, als „Freiheit, die die Welt erleuchtet“ am 28. Oktober 1886 als Geschenk des Französischen Volkes an die Vereinigten Staaten
eingeweiht, ist sicherlich lang und ganz sicher nicht ohne Opfer gewesen. Freiheit
wurde insbesondere seit dieser Zeit zu einem Leitthema menschlicher Zivilisation
und Kultur. „Freiheit, die ich meine“, singt Max von Schenkendorf als Liedtexter während der Befreiungskriege wiederum
gegen die napoleonische Herrschaft. „Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit“ formuliert Friedrich Engels mit Verweis auf Hegel: „Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern
in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig
zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen“ ([2]). „Freedom is just another word for nothing left to lose“, (Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts mehr zu verlieren zu haben), singt
Janis Joplin einige Tage vor ihrem Tod im Jahre 1970. Für Bobby McGee und wohl auch
für sich selbst.
Nicht zuletzt die Wissenschaft reklamiert ihre Freiheit, in Forschung und Lehre. Die
Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre sind in Artikel 5, Abs. 3 GG als Grundrecht
geschützt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Klammert man Kunst als eigenständigen Bereich aus, wird die Freiheit der Wissenschaft
als Überbegriff durch die Begriffe von Forschung und Lehre als Forschungsfreiheit
und Lehrfreiheit konkretisiert. Freiheit der Lehre ist eingängig – doch was ist eigentlich
wissenschaftliche Forschung? Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts ist
wissenschaftliche Forschung „jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung
der Wahrheit anzusehen ist“ (BVerfGE 35, 79 – Hochschul-Urteil).
„Die Wissenschaft, sie ist und bleibt, was einer ab vom anderen schreibt. Und trotzdem
ist, ganz unbestritten, sie immer weiter fortgeschritten“, dichtet Eugen Roth [3]. So ganz leicht möchte man die wissenschaftliche Kultur des Austausches nun doch
nicht nehmen. Dass auch die Freiheit der Wissenschaft, wie jede Freiheit, verteidigt
werden muss, z. B. wenn die Ernsthaftigkeit dieses Versuchs zur Ermittlung der Wahrheit aufgrund anders gerichteter Interessen
gefährdet ist – durch die planvolle Unterdrückung unliebiger Erkenntnis, durch wirtschaftlich
dominiertes Gewinnstreben, durch Ich-bezogene Titelsüchtelei – ist ein beachtenswerter
Aspekt (siehe auch [4]). Im Bereich der Publikationstätigkeit humanmedizinischer Fachzeitschriften wurden
einheitliche Bewertungsmaßstäbe definiert [5]. Sie regeln u. a. die Publikationsethik hinsichtlich Sponsorenschaft, Autorenschaft
und Verantwortlichkeit. Dass derartige Regeln aufgestellt werden, ist nicht nur ein
freier Akt wissenschaftlicher Selbstverwaltung, sondern spiegelt auch das gegebene
Konfliktpotential in diesem Bereich wieder.
Auch gut und detailliert ausformulierte Regeln müssen interpretiert, angewendet und
umgesetzt werden. Von der deutschen Forschungsgemeinde (DFG) wurde auf Empfehlung
der Kommission Selbstkontrolle in der Wissenschaft ein Ombudsman für die Wissenschaft eingerichtet. Diese Institution – ein Gremium – ist im Selbstverständnis eine Beratungs-
und Vermittlungseinrichtung zu Fragen guter wissenschaftlicher Praxis. Sie kann von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unmittelbar und unabhängig von der DFG angerufen
werden. Grundlage ihrer Arbeit ist die DFG-Denkschrift „Sicherung der guten wissenschaftlichen Praxis“ [6].
So wie der Staat im Grundgesetz die Wissenschaftsfreiheit schützt und im Fénelonschen
Verständnis der Sorge um Freiheit und Glück der Bürger auch schützen sollte – kann
er sie nicht auch gefährden? Waren in der Vergangenheit nicht auch Einflussnahmen
staatlicher Repräsentanten auf Prozesse der Wahrheitsfindung zu beobachten, bis in
den besonders geschützten Bereich der Wissenschaftsfreiheit hinein? Welche Spannungsverhältnisse
ergeben sich für staatliche und überstaatliche Behörden mit Kontrollfunktionen innerhalb
von Macht und Interessensgefügen, die bisweilen hierarchisch klar zu benennen, oftmals
nur schwer zu durchschauen sind?
Die Europäische Lebensmittelbehörde (European Food Safety Authority, EFSA) wurde im
Jahr 2002 als unabhängige Körperschaft zum Risiko-Assessment im Lebensmittelbereich
von der Europäischen Union gegründet. In einem frühen Grundsatzdokument wurde die
fundamentale Bedeutung eines unabhängigen Amtes mit einer Rechtspersönlichkeit, welche
von den Institutionen der Europäischen Union getrennt ist, herausgearbeitet [7]. Diese konkretisierte Gewaltenteilung verdient in ihrer Weitsicht und Einsicht der
Selbstbeschränkung aufmerksame Beachtung. Wohl auch auf Grund gemachter Erfahrungen
findet innerhalb der EFSA eine lebhafte Diskussion zur Unabhängigkeit wissenschaftlicher
Stellungnahmen statt. Diese hat in ein weiteres Grundsatzdokument gemündet, welches
sich u. a. mit der Unabhängigkeit und Wissenschaftlichkeit der internen Entscheidungsprozesse,
mit Kernwerten der Behörde, mit diesbezüglichen organisatorischen Fragen, dem wissenschaftlichen
Entscheidungsprozess als solchem, Aspekten der Qualitätssicherung und Organisationskultur
und der Wahrung des öffentlichen Interesses befasst [8]. Das Dokument ist zur Kommentierung freigegeben, ihm sei gewünscht, dass es breit
rezipiert und in angepasster Form auch in anderen Verwaltungszweigen verwendet wird.
Das Streben nach (Wissenschafts-)Freiheit verlangt tatkräftige Umsetzung, u. U. auch
Kraft zu Widerstand und Kampf, bisweilen auch zum Opfer und zum Erdulden von Verfolgung.
Dabei ist ja nicht Freiheit alleine gefordert: auch Gleichheit und Brüderlichkeit sind genannt. Während im historischen Kontext die Gleichheit der politischen Freiheiten,
der Würde und des Wertes der Individuen gemeint war, ergibt sich unter dem Blickwinkel
der Fragen von Krankheit und Gesundheit noch ein anderer Aspekt. Gleichheit betrifft
hier auch die nie auszuschließende Verwundbarkeit allen menschlichen Lebens: vor dem Tod sind alle Menschen gleich. Doch halt, hinsichtlich
des Eintrittszeitpunktes des Todes bzw. von Krankheit und hinsichtlich der Umstände
im Vorfeld auf unserem Lebensweg hin zum Tode gibt es wohl doch erhebliche Unterschiede.
Die sozialepidemiologische Forschung hat bedeutsame Anmerkungen zu machen, was die
Chancen und Risiken bezüglich gesunder oder schlechter Gesundheit, Zugang zu Versorgungsleistungen
im Falle von Krankheit und der Versorgung in den letzten Tagen und Wochen vor dem
Tod betrifft. Zu diskutieren sind auch eine (Un-)Gleichheit der allgemeinen Lebensrisiken
unserer „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck), Fragen der Umweltgerechtigkeit und sonstigen
gruppenspezifischen Vulnerabilitäten.
Wissenschaftsbasiert, transparent und unabhängig engagieren sich auch die Autoren
in diesem Heft: mit Beiträgen zum populationsbezogenen Mammographie-Screening in Deutschland
und zu sozialen Ungleichheiten bei der Inanspruchnahme der onkologischen Rehabilitation,
zur Auswirkung von Mindestmengen bei Perinatalzentren, zu Patientensicherheitsindikatoren
der Arzneimitteltherapie und zur epidemiologischen Erfassung unerwünschter Ereignisse
mit dem Harvard Medical Practice Design, zu einem „Aktionsbündnis gesunde Lebensstile
und Lebenswelten“ und zu Bewegung und Ernährung an Oberfrankens Schulen im Rahmen
einer ressourcenorientierten Gesundheitsförderung.
Letztlich ist das „Programm Freiheit“, das sich die modernen Gesellschaften gegeben
haben, mit einer Gleichheit im doppelten Sinne von Gerechtigkeit und Verwundbarkeit und auch mit einer dadurch mit bedingten Notwendigkeit zur Solidarität
(als geschlechtsneutrale Formulierung von „Brüderlichkeit“) eng verbunden. Wenn wir
uns als verwundbare und letztlich sterbliche Wesen begriffen haben, wenn wir gegen
die Unfreiheit ungerechter Verhältnisse rebellieren, wenn wir frei sein wollen von
den Geißeln von Krankheit und unzeitgemäßen Todesfällen, sind wir auch zur Solidarität
gerufen. So sind auch die Fragen zur solidarischen Finanzierung und zur Organisation
eines hochmodernen Gesundheitsversorgungssystems nicht rein ökonomischer Natur, bezogen
auf einen wichtigen Wirtschaftsfaktor, schon gar nicht ein Mittel zum Zweck partikulärerer
Interessen und Interessensgruppen, sondern ein gemeinsames Unterfangen der Daseinsbewältigung
im Dienst an der nur gemeinschaftlich zu schaffenden Wohlfahrt („Glück“) der Bürger.
Auch eine „individualisierte“ Präzisionsmedizin wird neue und eher zunehmende Herausforderungen
an Zusammenarbeit, Zusammenhalt und Mitspracherechten mit sich bringen [9]. Unter diesem Aspekt des Ausgesetzt-Seins menschlichen Lebens in einem langfristigen
auch evolutionsbiologisch mitbestimmten Menschwerdungsprozess, an dem wir zunehmend
nicht nur Erleidende, sondern auch in einer Art Risikogemeinschaft miteinander verbundene
Mitwirkende und Mitschaffende sind, bekommt Momoros Formulierung eine aktualisierte
Bedeutung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – oder der Tod“.