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DOI: 10.1055/s-0032-1304610
Rehabilitation: ein Feld für Priorisierungen – Pro & Contra
Rehabilitation: A Field for Priority Setting – Pro & ContraPublication History
Publication Date:
08 May 2012 (online)
Contra
Jedwede Form der medizinischen Rehabilitation ist – völlig unabhängig von der Zuständigkeit und Leistungsverpflichtung eines Rehabilitationsträgers – eine Leistung zur Teilhabe (§ 5 SGB IX) und damit eine Leistung des Rechts der Teilhabe behinderter Menschen. Ziel der medizinischen Rehabilitation ist – wie bei allen Leistungen zur Teilhabe – die Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft sowie die Vermeidung von Benachteiligungen. Nicht nur Aufgabenstellung und Zielsetzung der Teilhabeleistungen unterscheiden sich von den Leistungen des Gesundheitswesens, sondern auch die Organisation der Versorgung, das Leistungserbringungs- und das Vergütungsrecht. Priorisierung von Leistungen wird im Gesundheitswesen als ein Instrumentarium zur Kostenbegrenzung oder -senkung, d.h. als reines Fiskalinstrument diskutiert, dessen Akzeptanz wesentlich von der ethischen und fachlichen Begründung abhängt. Der mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention verbundene menschenrechtliche Anspruch auf Rehabilitations- und Teilhabeleistungen stellt im Teilhaberecht für eine solche Begründung im Verhältnis zum Gesundheitswesen nochmals weitergehende, erhöhte Anforderungen.
Das deutsche Rehabilitations- und Teilhaberecht stellt sich mit verschiedenen Normen der Anforderung, den Inklusionsanspruch der Betroffenen einerseits mit dem Anspruch der Gesellschaft auf den effizienten Einsatz verfügbarer Mittel andererseits in Einklang zu bringen. In keinem anderen Sozialgesetzbuch außerhalb des SGB IX findet sich eine Regelung, die den individuellen Leistungsanspruch in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Wirksamkeit der Leistung stellt. Nach dem Teilhaberecht dürfen Leistungen nämlich nur gewährt werden, wenn damit gesetzlich vorgegebene Teilhabeziele erreicht werden können (§ 4 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Ist dies nach rehabilitationswissenschaftlichen Erkenntnissen nicht zu erwarten, muss die Leistung abgelehnt werden.
Die Effizienz der Mittelverwendung im Teilhaberecht ist u.a. deshalb entscheidend davon abhängig, dass
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der individuelle, funktionsbezogene Leistungsbedarf zum frühestmöglichen Zeitpunkt – und von da an bis zur endgültigen Inklusion des Betroffenen in die Gesellschaft durchgehend – und unabhängig von der Leistungsverpflichtung eines Trägers individuell festgestellt und fortgeschrieben wird,
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auf dieser Grundlage gemeinsam mit den Betroffenen die individuellen Teilhabeziele abgestimmt und
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die Leistungen definiert werden, die – gemessen an Art und Umfang der Teilhabebeeinträchtigung - zur Erreichung dieser Teilhabeziele erforderlich sind,
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von den Rehabilitationsträgern nur solche Rehabilitationsprogramme und -einrichtungen in Anspruch genommen werden, die mit ihrer Struktur- und Prozessqualität zur Erreichung des individuellen Teilhabezieles geeignet sind und die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen im Einzelfall auch auf den individuellen Bedarf beschränken.
Dieses Instrumentarium zur Sicherung eines zielgerichteten und auf den tatsächlichen individuellen Bedarf reduzierten Mitteleinsatzes ist im SGB IX mit einem Bündel an Normen des Leistungserbringungs- und Verfahrensrechts hinterlegt.
Das SGB IX definiert ein einheitliches Teilhaberecht für alle Rehabilitationsträger und indiziert deshalb eine einheitliche Praxis der Träger (auch der Grundsatz Reha vor Rente ist kein besonderes Teilhabeziel eines Trägers, sondern kennzeichnet lediglich eine trägerspezifische Leistungszuständigkeit). Um dies zu gewährleisten, sind die Träger verpflichtet, mit dem Instrument der Gemeinsamen Empfehlungen u.a. die Feststellung des individuellen Leistungsbedarfs, die zielgruppenspezifischen Anforderungen an Gegenstand, Umfang und Ausführungen der Leistungen, aber auch die Kriterien für die Eignung von Rehabilitationsprogrammen und -einrichtungen auf gemeinsame, trägerübergreifende Grundlagen zu stellen.
Im Bereich des Teilhaberechts sind die Ziele und Leistungsperspektiven der Träger – im Gegensatz zum Recht vor dem 1.7.2001 – weitgehend bedeutungslos geworden, ebenso die Ursache für eine Teilhabebeeinträchtigung. Entscheidend ist allein der sich aus der individuellen Teilhabebeeinträchtigung ergebende Bedarf an Leistungen zur Herstellung einer inklusiven Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Diese Individualisierung des Leistungsgeschehens, die sich auch in der Forderung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz nach einer Personenzentrierung der Leistungen der Eingliederungshilfe wiederfindet, kann und darf nicht durch eine Kategorisierung und Priorisierung der Leistungsangebote und -inhalte in Frage gestellt werden. Unter ökonomischen Gesichtspunkten stellt sich sogar die Frage, ob die – bezogen auf den individuellen Bedarf im Einzelfall – mangelnde individuelle Zielgerichtetheit und Wirksamkeit priorisierter – und in der Regel auch kategorisierter – Leistungen nicht in einem erheblichen Maße unwirtschaftlich ist.
Die unter dem Aspekt der „Priorisierung“ von Raspe thematisierten Inhalte und Ansätze (u.a. Bedarfsgerechtigkeit, Wirksamkeit, Zielgerichtetheit, mangelnde Gestaltung und Setzung von Maßstäben durch die Träger) sind als gesetzliche Pflichten zwingende Bestandteile und Maßgaben des deutschen Teilhaberechts. Zur Umsetzung des geltenden Rechts bedarf es daher weder schwedischer Vorbilder aus dem Gesundheitswesen noch des Heranziehens von Maßstäben der Krankenversorgung, die mit Blick auf den individuellen Teilhabeansatz im Zweifel wenig hergeben.
Die Forderung, das geltende Teilhaberecht endlich umzusetzen und – als ultima ratio – die Erwartung an den Gesetzgeber, dies durch entsprechende Bestimmungen im Rahmen der Umsetzung der BRK gegebenenfalls durchzusetzen, dürfte auch zeitnah – im Sinne vieler offensichtlich übereinstimmender Ziele der Verfasser – ergiebiger sein.