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DOI: 10.1055/s-0032-1304759
Okuläre Dysfunktionen bei WAD: Behandlungsmöglichkeiten und Effekte neuromuskuloskelettaler Therapie[ 1 ]
Systematischer ReviewOcular Dysfunctions in WAD: Treatment Modalities and Effects of Neuromusculoskeletal TherapySystematic Review- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Methode
- Ergebnisse
- Diskussion
- Schlussfolgerungen
- Literatur
Zusammenfassung
Whiplash-associated Disorders (WAD) sind häufig vorkommende Symptomenkomplexe. Diese können akut wie chronisch vielerlei Symptome in verschiedensten Gewebetypen und Körperregionen hervorrufen, ohne dass die dahinter steckenden Mechanismen genau bekannt sind.
Dieser Artikel behandelt die Frage, ob bei WAD-Patienten auch okuläre Dysfunktionen vorkommen, und falls dies der Fall ist, um welche Störungen es sich handelt und ob neuromuskuloskelettale Therapie – im Speziellen Manuelle Therapie der kraniozervikalen Region – die Dysfunktionen positiv beeinflussen kann.
Aus den durch systematische Literatursuche in mehreren Datenbanken gefundenen Artikeln lässt sich der Schluss ziehen, dass es zu verschiedensten okulären Dysfunktionen bei WAD kommen kann. Dabei besteht momentan schwache Evidenz für Effekte neuromuskuloskelettaler Therapie bei okulären Dysfunktionen von WAD-Patienten.
Daher kann derzeit nur eine vorsichtige Empfehlung für neuromuskuloskelettale Therapiemaßnahmen zum Erkennen und Behandeln von okulären Dysfunktionen bei WAD-Patienten gegeben werden. Die Behandlung umfasst alle wichtigen Teilaspekte, wie z. B. Balance, Kopf-Augen-Koordination, Bewegungs- und Körpersinn, Schmerzmanagement und zervikale Range-of-motion-Übungen.
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Abstract
Whiplash-associated disorders (WAD) are a common symptom complex. It can cause a variety of acute and chronic symptoms in various tissue types and body regions although the underlying mechanisms are not exactly known.
This article deals with the question whether ocular dysfunctions also occur in WAD patients and if so which dysfunctions are concerned and whether neuromusculoskeletal therapy – especially manual therapy in the cervico-cranial region – can positively influence these dysfunctions.
The articles found by using a literature research in several databases support the conclusion that various ocular dysfunctions may occur related to WAD. To date there is poor evidence concerning the effects of neuromuscular therapy on ocular dysfunctions of WAD patients.
Therefore only a careful recommendation for the use of neuromuscular physiotherapy in the assessment and treatment of ocular dysfunctions in WAD patients can be given. Treatment may include aspects such as balance, head-eye-coordination, movement and body sense, pain management and cervical range of motion exercises.
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Schlüsselwörter
WAD - okuläre Dysfunktionen - okulomotorische Störung - posturales Kontrollsystem - neuromuskuloskelettale TherapieKey words
WAD - ocular dysfunction - oculomotor disorder - postural control system - neuromusculoskeletal therapyEinleitung
Die Literatur beschäftigt sich schon seit mehreren Jahrzehnten mit der Frage, ob bei Whiplash-associated Disorders (WAD) neben den allgemein bekannten Kurz- und Langzeitsymptomen wie Schmerz, HWS- Dysfunktionen, Radikulopathien und Schwindel auch Störungen im okulomotorischen System entstehen. Die 1. Veröffentlichung zu dieser Fragestellung stammt von Billig aus dem Jahr 1953 [1].
Der Begriff WAD umfasst die klinischen Manifestationen von Whiplash-Verletzungen [7], [30]. Die Quebec Task Force beschreibt Whiplash als einen Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus mit einem Energietransfer zum Nacken [7], [39] der hauptsächlich als Folge eines Auffahrunfalls oder sonstiger Verkehrskollisionen, aber auch beim Tauchen oder anderen Unglücken entstehen kann. Die Kräfteeinwirkung kann sowohl knöcherne Strukturen als auch Weichteile verletzen, was sich in vielfältigen klinischen Manifestationen zeigen kann. Die Einteilung von WAD erfolgt in Grad 0–IV ([Tab. 1]).
Grad |
Symptome |
*Armschmerz alleine reicht nicht für eine Diagnose von WAD Grad III aus |
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0 |
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I |
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II |
Beschwerden im Nackenbereich und muskuloskelettale klinische Zeichen (inkl. verringerte Range of motion und Triggerpunkte) |
III |
Beschwerden im Nacken und neurologische Zeichen (inkl. verringerter oder fehlender tiefer Sehnenreflex, Schwäche, Nacken- und sensorische Defizite)* |
IV |
Beschwerden im Nackenbereich und Fraktur oder Dislokation oder Verletzung des Rückenmarks |
WAD ist ein Symptomenkomplex ohne direkte pathologische und radiologische Korrelation (außer WAD Grad IV; [Tab. 1]). Die meisten lang anhaltenden Symptome sind Nackenschmerzen und -steifheit, Kopfschmerzen, Benommenheit und ausstrahlende Schmerzen in Arme und Hände, visuelle Störungen, Schwindel, Tinnitus sowie verschiedene Arten emotionaler und kognitiver Störungen [40]. WAD-Patienten nehmen häufig okulomotorische Störungen wahr, die in der Literatur systematisch beschrieben werden [3]–[5], [14], [18], [19], [31], [35]. Diese okulomotorischen Dysfunktionen äußern sich in der Regel als verschwommenes Sehen und defekte Akkommodation [3], visuelle Störungen [4], Konvergenzstörungen [31] sowie neurophysiologisch gestörte Reflexaktivitäten und deren veränderte Verschaltungen mit der zervikalen Wirbelsäule und dem vestibulären und visuellen System ([Abb. 1]; [5], [14], [18], [19], [35]).



In der Mehrzahl der Fälle korrelieren die Symptome nicht mit den klinischen Befunden von Knochen oder Weichteilverletzungen, die vor allem mithilfe von Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) gefunden werden [32]. Manche Symptome sind auch objektiv nicht (gut) messbar wie etwa Flecken vor den Augen oder Übelkeit.
Unfallmechanismus
Der Unfallmechanismus ist viel untersucht, aber es ist immer noch unklar, welche Verletzungen durch die freiwerdenden Kräfte auftreten. Diese Verletzungen können zu den schon oben erwähnten Beschwerdebildern führen, liefern aber keine Erklärung für eventuell anwesende okuläre Dysfunktionen.
Beim Postural Control System (PCS [34], [35]; [Abb. 1] u. [Abb. 2]) kann die Funktion der zervikalen Mechanorezeptoren durch ein direktes Trauma erhöht sein [35]. Außerdem können Schmerzen die Sensitivität der Muskelspindeln verändern und die kortikale Repräsentation und Modulation von zervikalen afferenten Impulsen erhöhen [6]. Auch psychosozialer Stress kann durch Aktivierung des sympathischen Nervensystems (SNS) zu erhöhter Aktivität von Muskelspindeln führen [23]. Unter normalen Umständen agieren die Stabilisationsreflexe wie zervikookulärer (COR), vestibulookulärer (VOR) und optokinetischer-Reflex (OKR) simultan, um die Stabilisation der Augen zu gewährleisten ([35]; [Abb. 1]). Ist einer dieser Reflexe z. B. durch Trauma oder Alter erhöht [13], können andere Reflexe eventuell noch kompensieren, um so eine optimale okulomotorische Kontrolle zu erhalten.



Aufgrund der in der Literatur und von Patienten immer wieder erwähnten okulären Dysfunktionen bei WAD, die sich klinisch vielfältig manifestieren können, versuchte die vorliegende Literaturstudie folgende Fragen zu klären:
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Gibt es okuläre Dysfunktionen bei WAD?
-
Welche Effekte erzielt neuromuskuloskelettale Therapie der kraniozervikalen Region bei okulären Dysfunktionen im Falle von WAD?
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Methode
Suchstrategie
Die Literatursuche im April 2011 erfolgte in den für Physio-/Manuelle Therapie geeigneten Datenbanken (PubMed, Pedro, Cinahl und Cochrane Collaboration). Die gesamte Suche lieferte insgesamt 765 Treffer.
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Einschlusskriterien
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In deutscher, englischer oder niederländischer Sprache verfügbare Artikel.
-
Verfügbarkeit von Abstracts, aus denen hervorgeht, dass es sich um Whiplash-Verletzungen/WAD durch Autounfälle und okulomotorische Störungen im weiteren Sinne handelt.
-
Studien mit Personen ab 18 Jahren.
-
Ab 1985 veröffentlichte Studien (ab diesem Jahr sind die meisten Studien zum Thema Whiplash/WAD nach Unfällen verfügbar, bei denen die Autos mit den aktuellen Standardsicherheitsausrüstungen mit 3-Punktgurtsystem und Airbag ausgerüstet sind, um so eine bessere Vergleichbarkeit der Resultate zu erzielen).
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Ausschlusskriterien
-
Andere Nackenverletzungen;
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Beschwerden im Kopf-Nacken-Bereich.
Nach Anpassung der Ein- und Ausschlusskriterien blieben 23 Artikel übrig. Diese beinhalteten auch 2 durch Reference tracking in den direkt gefundenen Artikeln [2], [12] erhaltene Arbeiten zu Fragestellung 1 ([Tab. 2]). Als Endergebnis lieferte die Literatursuche 22 Artikel zur 1. Fragestellung, die Suche nach Artikeln zur 2. Fragestellung ergab 5 Artikel ([Tab. 2]). 4 Artikel [19], [31], [37], [40] wurden für beide Fragestellungen gewertet.
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Methodologische Bewertung
Alle relevanten Artikel wurden ausschließlich vom Autor gefunden und mithilfe der international gültigen Einteilung der Level of Evidence [25], [26] beurteilt ([Tab. 4]). Sie sind jeweils nach Evidenzstärke von stärker nach schwächer aufgelistet.
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Ergebnisse
Fragestellung 1: Gibt es okuläre Dysfunktionen bei WAD?
In den vorliegenden 22 Studien werden an einer oder mehreren Studiengruppen verschiedene Tests des okulomotorischen und des visuellen Systems sowie der vestibulookulären Reflexaktivität des Nackens (PCS; [35]) ausgeführt, um so Veränderungen oder Störungen zu messen ([Tab. 3]). Außer bei 4 Studien [19], [31], [37], [40]) fanden keine Behandlungen, sondern nur Testungen statt (nähere Beschreibung siehe Fragestellung 2).
Grad der Evidenz |
Studienart |
RCT = randomisierte kontrollierte Studien |
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1 A |
systematischer Review von RCT |
1 B |
RCT mit engem Konfidenzintervall |
1 C |
all or none Fallserien |
2 A |
systematischer Review von Kohortenstudien |
2 B |
Kohortenstudie/RCT von niedriger Qualität |
2 C |
Effektstudie |
3 A |
systematischer Review von Fall-Kontroll-Studien |
3 B |
Fall-Kontroll-Studie |
4 |
Fallstudie, schwache Kohorten-Fall-Kontrollstudie |
5 |
Expertenmeinung |
Messkriterien und -methoden
4 Studien [5], [14], [18], [19] testeten das okuläre Stabilisationsreflexsystem ([35]; [Abb. 1]). Dabei ging es vor allem um die Adaptation von COR [9] und VOR [18], [19] sowie von VOR und Hyperventilation [5]. Die Testung erfolgte unter anderem nach bei Kelders et al. [13] und Montfoort et al. [18] beschriebenen Testverfahren.
Bei 13 Studien [4], [8], [10]–[12], [16], [17], [20], [22], [24], [31], [34], [40] war die direkte Augenbeweglichkeit nach Whiplash-Verletzungen das Hauptthema. Sie wurde meist mithilfe des Smooth Pursuit Neck Torsion Test (SPNT; [35]) und zahlreichen nur teilweise beschriebenen anderen ophthalmologischen und okulomotorischen Testverfahren gemessen.
3 Studien untersuchten anhand einer Reihe von Tests die Augen-Kopf-Koordination und Blickstabilität bei einer WAD- und einer asymptomatischen Gruppe ebenso wie deren Reproduzierbarkeit bei asymptomatischen Versuchspersonen [9], [37], [38]. 3 weitere Studien maßen unter anderem die Akkommodation der Augen [2]–[4].
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Resultate
Bis auf 2 [16], [17] kamen alle Studien zu dem Ergebnis, dass Whiplash-Verletzungen das visuelle System stören und verschiedene okuläre Dysfunktionen zur Folge haben können. Kongsted et al. [16], [17] fanden keine Unterschiede der Smooth-Pursuit-Augenbewegungen bei WAD-Patienten [16] und einer Kontrollgruppe [17].
Die meisten Studien schlussfolgerten, dass die Störungen der okulomotorischen Funktion durch Hirn- oder Hirnstammläsionen [11], [12], [20], [22], [40], eingeschränkte Beweglichkeit der zervikalen Wirbelsäule [4], [5], [10], [14], [19], [24] mit Schmerzen [5] und veränderte Propriozeption des Nackens [8], [10], [14], [18], [22] verursacht werden. Zudem können Störungen der sympathischen Innervation des Auges auftreten [2], [3] und auch Verhaltens- und emotionaler Stress eine Rolle spielen [5].
In 3 Studien wiesen die Autoren bei WAD-Patienten mithilfe verschiedener Tests Störungen der Augen-Kopf-Koordination und Blickstabilität nach [9], [37], [38]. Weitere statistische Werte finden sich in [Tab. 5].
Die Resultate zeigen, dass bei WAD verschiedene okuläre Dysfunktionen auftreten. Dies bestätigt den vermuteten Zusammenhang zwischen zervikaler Wirbelsäule und okulärem System, der wiederum neue Ansatzpunkte für effektive Therapiemaßnahmen bei den betroffenen Patienten bietet (siehe 2. Fragestellung).
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Fragestellung 2: Welche Effekte erzielt neuromuskuloskelettale Therapie der kraniozervikalen Region bei okulären Dysfunktionen im Falle von WAD?
Obwohl in der Fachliteratur in den letzten Jahren zunehmend der Begriff neuromuskuloskelettale Therapie vorkommt, gibt es bislang noch keine allgemeingültige Definition [15]. Verwendet man die Definition für muskuloskelettale Therapie (engl.: Musculoskeletal manipulations) der National Library of Medicine, National Institutes of Health, United States aus dem Jahr 2002 (Musculoskeletal Manipulations: Various manipulations of body tissues, muscles and bones by hands or equipment to improve health and circulation, relieve fatigue, promote healing) und bezieht auch Nervenstrukturen mit in die Beschreibung ein, beinhaltet sie frei übersetzt „verschiedene Therapiemaßnahmen (mit Händen, Hilfsmittels oder Apparaten), die Funktionsverbesserungen sowohl des Nervensystems (Gehirn, Rückenmark und Nerven) als auch der Muskeln, Knochen, Knorpel und Gelenke des Körpers zu erreichen versuchen“. In diese weit gefasste Umschreibung fallen daher viele Therapieformen aus der Schul- und der Alternativmedizin. Die vorliegende Literaturstudie verwendete den Begriff neuromuskuloskelettale Therapie wie von der IFOMPT vorgegeben synonym zu Manueller Therapie.
Für die Fragestellung 2 ergab die Literatursuche 5 passende Artikel ([19], [31], [36], [37]; [Tab. 4]), deren statistische Auswertung in [Tab. 5] dargestellt ist.
Autor/Evidenzlevel/Studiendesign |
Probanden |
Messkriterien/Follow-up |
Ergebnisse |
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Wenngren et al. [40]
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40 Patienten mit WAD Grad II u. III (QTFC) 8 Stunden nach Unfall |
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Kongsted et al. [17]
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245/188 akute WAD-Patienten |
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Montfoort et al. [18]
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Bestätigung von gesteigertem COR bei WAD, VOR und OKR gleichbleibend |
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Heikkilä et al. [10]
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Hildingsson et al. [12]
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8 von 38 WAD nach Follow-up noch symptomatischen und 5 von Baseline noch asymptomatische WAD |
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Prushansky et al. [24]
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Kongsted et al. [16]
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SP-Augenbewegungen bei beiden Gruppen gleich, ungeachtet der Nackenposition |
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Brown et al. [3]
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verkleinerte Amplitude der Akkommodation beider Augen bei WAD und im Alter bei WAD und Kontrollgruppe |
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Storaci et al. [31]
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Burke et al. [4]
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39 WAD-Patienten |
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Mosimann et al. [20]
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Fischer et al. [5]
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32 WAD-Patienten |
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Gimse et al. [8]
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Brown [2]
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Kelders et al. [14]
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COR ist bei WAD erhöht |
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Montfoort et al. [19]
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Hildingsson et al. [11]
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Geschwindigkeit, Genauigkeit u. Muster der Augenbewegungen waren bei 18 von 20 WAD-Patienten gestört |
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Oosterveld et al. [22]
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262 WAD-Patienten |
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Treleaven et al. [34]
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Treleaven et al. [38]
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Grip et al. [9]
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Treleaven [37]
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1 WAD-Patient |
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Treleaven [36]
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4 Probanden, davon 2 WAD-Patienten |
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keine |
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ABR = Auditory Brainstem Response; BDI = Back Depression Inventory; CJPE = Cervical joint position error; COR = zervikookulärer Reflex; CV = Coefficient of variation; DHISF= Dizziness Handicap Inventory Short Form; NDI = Neck Disability Index; OKR = optokinetischer-Reflex; PCT = Pupil cycle time; QTFC = Quebec Task Force Classification of Grades of WAD; SP = Smooth Pursuit; SPVG = Smooth Pursuit Velocity Gain; VAS = Visual Analogue Scale; VOR = vestibulookulärer Reflex; VSI = Visual Symptom Index; WAD = Whiplash-associated disorders |
Messkriterien und -methode
Treleaven [36], [37] beschreibt anhand von 3 (WAD-)Patientenfällen ein maßgeschneidertes sensomotorisches Programm zum Retraining von Balance, zervikaler Propriozeption und Augen-Hand-Bewegungskontrolle bei Nackenbeschwerden. In einer früheren Arbeit hatte der Autor bereits das PCS ([Abb. 1]), das klinische Assessment von sensomotorischer Kontrolle (Joint position sense, JPS), das okulomotorische System und die posturale Stabilität mit eventuellen zusätzlichen Tests sowie das Management sensomotorischer Kontrollstörungen bei Nackenbeschwerden je nach den Ergebnissen des Assessments dargestellt. Diese Inhalte bilden wichtige Basisinformationen für die gefundenen Artikel und müssen daher an dieser Stelle erwähnt werden.
Die Intervention bei Storaci et al. [31] beinhaltete ein okulomotorisches Rehabilitationsprogramm, bei Montfoort et al. [19] das Tragen einer Halskrause und bei Wenngren et al. [40] neben einer Basisbehandlung (Halskrause, Physiotherapie und Schmerzmedikamente) zusätzlich in einem doppelt verblindeten Verfahren Methylprednisolon (entzündungshemmendes Mittel) oder Placebo.
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Resultate
Laut Storaci et al. [31] sollte das Tragen einer Halskrause nur kurzfristig erfolgen und beim Auftreten okulomotorischer Dysfunktionen rasch mit einem okulomotorischen Rehabilitationsprogramm gestartet werden.
Bei Montfoort et al. [19] zeigte sich zwar eine kurzfristige Veränderung der Reflexaktivität von COR und VOR bei der WAD- und der Kontrollgruppe, jedoch ohne langfristige signifikante Beeinträchtigungen. Wenngren et al. [40] fanden keinen Unterschied zwischen den Gruppen aktiv/Placebo und aktiv/Medikamente. Laut Treleaven [36], [37] kann ein multimodaler Therapieansatz gute Erfolge liefern. Die Resultate der 5 Studien zur 2. Fragestellung werden mittels mehr oder minder fundierten Testergebnissen bestätigt (siehe Diskussion).
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Diskussion
Gibt es okuläre Dysfunktionen bei WAD?
Die in dieser Arbeit beschriebenen Studien zeigen mit 2 Ausnahmen [16], [17], dass das visuelle System bei WAD in vielerlei Hinsicht gestört werden kann. Nur Kongstet et al. [16], [17] fanden keine Unterschiede der SP-Augenbewegungen bei WAD-Patienten und einer Kontrollgruppe [16], [17], was zum Teil auf einer anderen Standardisierung des Testverfahrens des SPNT beruht und nur bei Ausführung nach Tjell und Rosenhall [33] mit Einschränkungen als diagnostischer und prognostischer Test bei WAD-Patienten verwendet werden kann.
Auffällig ist, dass bei den Teilnehmern der WAD-Gruppe mehr Frauen als Männer zu finden waren ([Tab. 5]). Dies scheint die in der Fachliteratur beschriebene erhöhte Anfälligkeit von Frauen für WAD und das höhere Risiko der Chronifizierung [29] zu bestätigen. Heikkilä et al. [10] stellten zudem fest, dass okulomotorische Testergebnisse 2 Jahre nach dem Trauma signifikant mehr Symptome bei Frauen als bei Männern zeigten.
Fragestellung 1 |
Fragestellung 2 |
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QTFC = Quebec Task Force Classification of Grades of WAD; WAD = Whiplash-associated disorders |
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Baseline-Testung |
22 Studien |
5 Studien |
Follow-up |
9 Studien [4], [10], [12], [17], [18], [22], [37], [38], [40] |
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Follow-up-Intervall |
1 Woche bis 28 Monate |
6 Monate bis 2 Jahre |
WAD-Patientengruppe |
9 Studien nach QTFC ([Abb. 1]) davon: |
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Studien/Probanden |
WAD- und Kontrollgruppe: 2 Studien [19], [31], wobei 1 Studie [40] mit Unterscheidung der WAD-Gruppe zwischen mit/ohne okulomotorische Dysfunktionen |
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Studien/Probanden/Chronifizierung |
– |
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Berechnung Sample size |
– |
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Probandenzahl |
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Geschlecht |
bei 19 Studien bekannt (nicht: [3], [18], [19]) Verhältnis Frauen zu Männer gerundet 1,85 : 1 (648 Frauen, 350 Männer) |
bei 4 Studien bekannt (nicht bei [19] Verhältnis Frauen zu Männer gerundet 1,5 : 1 (50 Frauen, 33 Männer) |
Vergleichbarkeit der Studien
Die vorliegenden Studien lassen sich nur schwer vergleichen, da sie methodologisch unterschiedlich aufgebaut sind und sich auch darin unterscheiden, was bzw. wie dies gemessen wird und wie die Messergebnisse interpretiert werden.
Versucht man, die Studien hinsichtlich der Evidenzgrade ([26]; [Tab. 3]) zu vergleichen, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass auch dies nur in sehr geringem Maße möglich ist.
Zu erwähnen ist hier der von Treleaven [37], [38] vorgestellte Visual Symptom Index (VSI), der zwar bei WAD-Patienten noch nicht validiert, aber im praktischen Sinne viel versprechend ist. Der Fragebogen betrifft das vestibuläre und visuelle System und ermittelt 15 von WAD- und anderen Nackenpatienten häufig genannte Symptome. Die Symptome werden bezüglich ihrer Häufigkeit (0–3) und Frequenz (0–4) beurteilt, was pro Symptom einen Maximal-Score von 12 und somit einen maximalen Test-Score von 180 Punkten ergeben kann (hoher Score entspricht mehr Störungen).
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Welche Effekte erzielt neuromuskuloskelettale Therapie der kraniozervikalen Region bei okulären Dysfunktionen im Falle von WAD?
Bei der direkten Literatursuche fanden sich nur 5 Artikel. Bei den beiden Studien von Treleaven [36], [37] handelt es sich um Fallstudien mit kleiner Probandenzahl (1 und 2 Personen) ohne eine Kontrollgruppe und ohne WAD-Klassifizierung.
Storaci et al. [31] führten nur bei der WAD-Gruppe mit okulomotorischen Störungen ein okulomotorisches Rehabilitationsprogramm durch, dessen Ausführung, Dauer und Inhalt wenig beschrieben ist. Aus dem Text geht nicht hervor, wie lange das Follow-up dauerte und es gab keinen Vergleich zur WAD-Gruppe ohne okulomotorische Störungen oder der Kontrollgruppe.
Bei Montfoort et al. [19] trugen 16 gesunde Probanden 2 Stunden lang eine Halskrause. Direkt nach Entfernen der Halskrause war der COR deutlich gesteigert und sank 2 Stunden später wieder auf den Basiswert. Der Test fand in der WAD-Gruppe nicht statt, sodass unklar ist, ob der Effekt hier auch auftritt und sich im gleichen Zeitraum wieder normalisieren kann. Dies wäre sicher interessant gewesen, da in vielen Ländern trotz kontroverser Diskussion [28] als Standardbehandlung bei WAD noch immer eine Halskrause für 2 Wochen oder länger verordnet wird [27].
Bei Wenngren et al. [40] erhielten alle Patienten dieselbe Behandlung mit Halskragen, Physiotherapie und Schmerzmittel, nur die Hälfte der WAD-Gruppe bekam doppelt verblindet Methylprednisolon, die andere Placebo. Die Behandlungsergebnisse sind nicht eindeutig, und es wird nur vermerkt, dass keine Korrelation zwischen Medikamenten- und Placebogabe und den Testergebnissen bestand. Die Schlussfolgerung der Autoren, dass die Gabe von Methylprednisolon zu besseren Testergebnissen führt, ist somit nicht unterbaut.
Bekanntermaßen kann der Pupillenzyklus bei Lichtreaktion (Edge light pupil cycle time, ELPCT) durch High velocity low amplitude manipulation (HVLA) am atlantoaxialen Gelenk zu kurzzeitigen Verlängerungen des Pupillenzyklus führen. Der dahinterstehende Mechanismus ist zwar noch unklar, eine Beteiligung des autonomen Nervensystems (ANS) – speziell des SNS – aber unumstritten [8].
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Schlussfolgerungen
Zum jetzigen Zeitpunkt legt die gefundene Literatur eine Tendenz zu moderater Evidenz nahe, die bestätigt, dass es zu verschiedenen okulären Dysfunktionen bei WAD kommen kann und die möglichen Mechanismen dahinter zum Teil erklärbar sind.
Aufgrund der Ergebnisse der vorliegenden Literaturstudie gibt es jedoch wegen der geringen Anzahl und Evidenzstärke der gefundenen Artikel momentan nur schwache Evidenz für die Effektivität von neuromuskuloskelettaler und besonders Manueller Therapie der kraniozervikalen Region bei eventuell vorhandenen Augendysfunktionen im Falle von WAD.
Laut der existierenden Literatur ist bei bestimmten Beschwerdebildern in Bezug auf WAD ein ausführliches Assessment mit abgestimmtem multimodalen Management zu empfehlen. Dieses können Manualtherapeuten schon mit einfachsten klinischen Messmethoden und Maßnahmen wie dem SPN-Test, Balancetests, Fragebögen (z. B. VSI, NDI), Propriozeptionstestung und -training des gesamten Körpers, der HWS und auch der okulären Funktion in der täglichen Praxis durchführen [9], [34], [38]. Die klinische Wirksamkeit muss aber noch durch weitere qualitativ hochwertigere Fallstudien bestätigt werden.
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Anmerkungen
eingereicht: 22.8.2011 | akzeptiert: 20.10.2011
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Literatur
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