PD Dr. med. Thomas Reisch
Suizid ist die häufigste direkte Todesursache in der Psychiatrie [1]
[2]. Im Gegensatz zu anderen Todesursachen finden sich relativ viele jüngere Menschen,
die durch Suizid versterben, woraus sich eine hohe Anzahl verlorener Lebensjahre [3] ergibt, in der Schweiz fallen etwa 15 % aller verlorenen Lebensjahre auf den Suizid.
Schon deshalb sollte es ein Bestreben der Politik und Psychiatrie sein, diese Zahl
zu verringern. Die Evidenz für die Suizidprävention ist insgesamt hoch, für verschiedene
Public-Health-Maßnahmen und einige vorwiegend psychotherapeutische Maßnahmen konnte
deren Wirksamkeit wiederholt nachgewiesen werden [4].
Mehrere Autoren haben Modelle zur Suizidalität entwickelt, welche zumeist die Ursachen
eines Suizids zu erklären versuchen. In dem umfassenden Modell von Mann [5] werden verschiedenste prädisponierende Faktoren wie z. B. Genetik, Lebenserfahrungen,
Erkrankungen, Substanzmissbrauch, Nahrung und aktuelle Auslöser wie psychiatrische/medizinische
Erkrankungen, Stress/Krisensituationen mit Störungen zentraler Neurotransmitter, insbesondere
Serotonin, in Beziehung gesetzt [6]. Diese Modelle sind bedingt durch ihre Komplexität in der Praxis der Suizidprävention
häufig schwer vermittelbar. Suizid ist keine Krankheit, sondern in allererster Linie
eine Handlung. In der Vermittlung des Ablaufs eines Suizidversuches arbeiten wir daher
mit einem verhaltens- und ablauforientierten 6-Phasen-Modell, welches für Patienten
und Angehörige häufig eingängiger ist [7]. Natürlich sind die Handlungsabläufe von Menschen, welche sich suizidieren, hoch
individuell und die einzelnen Schritte, welche unser Modell postuliert, werden unterschiedlich
durchlaufen und teilweise übersprungen. Dieses Modell und die Implikationen für die
Suizidprävention sollen hier skizziert werden ([Abb. 1]).
Abb. 1 6-Phasen-Modell des Suizids.
1. Präsuizidale Phase: Wir gehen davon aus, dass die meisten Menschen auf der Basis
einer klinischen oder subklinischen Störung, am häufigsten der depressiven Symptomatik,
eine zwischenzeitlich erhöhte Vulnerabilität haben. Suizidprävention in dieser vorsuizidalen
Phase liegt in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung der psychiatrischen
Grundleiden.
2. Mental-Pain-Phase: Prototypisch kommt es unter diesen Voraussetzungen durch Stressoren
zu einer subjektiv unerträglichen Situation. Zumeist ist dies bedingt durch einen
gemischt externer und interner Stimulus (z. B. das Ende einer Partnerschaft und der
Gedanke, dass die dadurch ausgelöste emotionale Krise unerträglich ist). Es kommt
zu einem äußerst aversiven Emotionszustand, welchen Shneidman [8] als Psychache und Orbach et al. [9] als Mental Pain bezeichnete. In dieser ersten Phase werden die Menschen von der Außenwelt zwar nicht
automatisch als suizidal, aber zumindest als leidend wahrgenommen. In der subjektiven
Notsituation sind Zugriffe auf vergangene positive ebenso wie mögliche antizipierte
positive Erlebnisse nicht möglich. Auch die Verantwortung für das direkte soziale
Umfeld (Was tue ich anderen durch einen Suizid an?) wird nicht mehr wahrgenommen.
Es gibt nur noch den einen Fokus: Wie kann ich dieses Leiden beenden? Das rationale
Denken ist nur erschwert möglich bei deutlich geänderter Hirnaktivität [10], demzufolge greifen Betroffene auf bekannte oder subjektiv naheliegende Lösungen
zurück wie z. B. Zeitungsberichte (Werther-Effekt) oder Suizide von Nahestehenden
oder eigene frühere suizidale Handlungen, welche im Vorfeld des Suizids gedanklich
oder auf der Handlungsebene mehrfach durchlaufen werden. Aus diesem Grunde ist eine
Verhinderung des Werther-Effektes durch Medienguidelines wichtig, daher benutzen Brückenspringer
Brücken, über die sie auch im Alltag gehen, und darum benutzen Menschen nach früherer
Selbstintoxikation wieder die gleichen Medikamente. Die Reduktion der Verfügbarkeit
von Suizidmethoden greift hier an.
3. Erste Suizidhandlungsphase: Ist die vermeintliche Lösungsmöglichkeit zur Aufhebung
des mentalen Schmerzes gefunden, setzt die erste Suizidhandlungsphase ein. Dadurch,
dass das Problem subjektiv gelöst wurde, ist der Schmerz nicht mehr im Vordergrund.
Der suizidale Mensch wird hier als relativ entspannt wahrgenommen und die Gefahr des
Suizids wird verkannt. Klinisch handelt es sich hier um ein dissoziationsähnliches
Zustandsbild, in dem der mentale Schmerz abgespalten wird und die Person in einer
Art „Autopilot“ Vorbereitungshandlungen durchführt. Psychiatriefachkräfte erleben
Patienten, die sich später suizidierten, bei dem letzten Kontakt (z. B. Entlassung
in den Urlaub) häufig als ruhig und entspannt. Ein schneller Wechsel von Anspannung
auf Entspannung sollte daher im klinischen Setting als Alarmzeichen nicht verpasst
werden. Bei genauem Hinsehen gibt es aber sehr wohl Unterschiede zu einer normalen
Symptombesserung. Beschrieben werden häufig eine Wortarmut, der fehlende oder geringe
Blickkontakt und die fehlende konkrete Planung der nahen Zukunft der Betroffenen.
4. Finale Ambivalenzphase: Von Aufzeichnungen in Bahnhöfen und Brücken wissen wir,
dass viele Menschen unmittelbar vor der letzten Handlung noch einmal innehalten und
die angefangene Handlung unterbrechen: Sie lassen Züge durchfahren oder warten am
Brückengeländer. Videoaufzeichnungen von Patienten, welche kurze Zeit später von Brücken
oder im Bahnhof vor den Zug sprangen, zeigen hier ein nahezu uniformes Bild: Die Betroffenen
stehen mit verschränkten Armen nach vorne gebeugt und wirken äußerst gespannt, der
Blick ist nach unten gerichtet. An dieser Stelle gelingt es, Passanten oder Professionellen
immer wieder, die Suizidalen zur Umkehr zu bewegen. Dieses direkte Verhindern der
suizidalen Handlung ist wahrscheinlich sogar die effektivste Suizidprävention. Nur
etwa 5 % derjenigen, welche vom Sprung von der Golden Gate Bridge abgehalten wurden,
suizidierten sich in den nächsten 26 Jahren [11]. Dies impliziert aber auch mehrere Formen der Suizidprävention: Berufsfachkräfte
(Polizisten, Taxifahrer, Zugführer) können geschult werden, Suizidale zu erkennen
und die nötigen Schritte einzuleiten. Eine Förderung der Zivilcourage der Bevölkerung
wäre hier eine sinnvolle Maßnahme.
5. Finale Handlungsphase: Bei einigen Suizidmethoden wie z. B. dem Brückensprung sind
die finale Ambivalenzphase und die finale Handlungsphase, also das Ausführen der potenziell
zum Tode führenden Handlung, überlappend. Selten ist es möglich, die eigentliche Suizidhandlung
zu unterbrechen. Die oben zitierte Studie von Seiden [11] zeigt dies deutlich. Einige der geretteten Menschen waren bereits jenseits des Geländers
der Brücke und wurden aktiv vom Sprung abgehalten.
6. Aufwachen: Die allermeisten Menschen, welche einen Suizidversuch überleben, bereuen
ihre Suizidhandlung, einige hiervon bereits kurz nach Einleitung der Tat. Von Brückenspringern
wissen wir, dass dieses „Aufwachen“, das Ende des dissoziativen Zustands, bereits
während des Falls einsetzen kann. Bei vielen Suizidmethoden ist die begonnene Handlung
nicht mehr umkehrbar (Erhängen, Erschießen, Zug und Sprung), das Aufwachen kommt hier
zu spät. Eine Suizidprävention durch Restriktion der Suizidmethoden hat daher hier
eine hohe Priorität bei hoch letalen und nicht mehr umkehrbaren Handlungen. Eine weitere
Maßnahme kurz nach dieser Phase ist die Nachbehandlung von Patienten nach einem Suizidversuch.
Das therapeutische Fenster ist hier allerdings oft nur sehr kurz. Einige Patienten
gehen oft erstaunlich schnell wieder zur Tagesordnung über und viele sind nicht bereit,
ihre Suizidhandlungsmuster anzusehen, um daraus Bewältigungshilfen für zukünftige
Krisen abzuleiten. Wünschenswert ist es daher aus der Sicht der Suizidprävention,
eine Versorgungsstruktur anzubieten, welche ermöglicht, dass ein Patient nach einem
Suizidversuch relativ zeitnah im ambulanten Rahmen durch die gleiche Person wieder
gesehen wird. In der Realität findet hier aber zumeist, bedingt durch die Struktur
der Institution, ein Wechsel der Betreuungsperson statt.
Suizidprävention kostet Geld. Zumindest in der Schweiz werden bislang aber von staatlicher
Seite wenige Gelder in die Suizidprävention investiert. Insofern stellt sich die Frage
nicht, ob wir zu viel in die Suizidprävention stecken. Viele der vorgestellten Suizidpräventionsmaßnahmen
kosten verhältnismäßig wenig in Anbetracht des Gewinns vieler Menschenleben. Insofern
gilt: Es gibt noch viel zu tun!