Fallbeschreibung
Anamnese: Wir übernahmen den Patienten im Oktober 2010 aus einem anderen Krankenhaus, wo er
bereits wegen einer schweren Exazerbation der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung
(AE-COPD, Typ II nach Stockley) aufgenommen und behandelt worden war. Seit mehreren
Monaten wurde im häuslichen Bereich eine Sauerstofflangzeittherapie durchgeführt.
Der letzte stationäre Aufenthalt in unserer Klinik lag 4 Monate zurück. Es bestand
eine ausgeprägte kardiovaskuläre Komorbidität mit absoluter Arrhythmie bei Vorhofflimmern
und Rechtsherzinsuffizienz, eine Osteoporose mit Deckplatteneinbruch LWK 2 – 3 und
Spondylarthrose, Zustand nach Schulter-TEP linksseitig 01 /2007 bei Fraktur mit postoperativer
Bewegungseinschränkung, eine chronische Niereninsuffizienz und ein Zustand nach Apoplex
mit Amaurosis fugax 2003.
Körperliche Untersuchung: Patient in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und adipösem Ernährungszustand (70
Jahre, 165 cm, 89 kg KG, BMI 32,7). Die Atemfrequenz betrug 29 /min mit ausgeprägtem
Giemen und Brummen über der gesamten Lunge. Es bestanden eine geringe Lippenzyanose
sowie erhebliche Unterschenkelödeme beidseits.
Lungenfunktionsprüfung und Blutgasanalyse
Lungenfunktionswerte
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VCmax
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1,88 l
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(44,0 % vom Soll)
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FEV1
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0,95 l
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(30,0 % vom Soll)
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FEV1%VCmax
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50,86 %
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(67,7 % vom Soll)
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FVC
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1,65 l
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(40,6 % vom Soll)
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RV
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4,31 l
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(169 % vom Soll)
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RV/TLC
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69,69 %
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(173,8 % vom Soll)
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TLC
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6,19 l
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(88,6 % vom Soll)
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Rtot
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0,72 kPa × s/l
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(normal < 0,35kPa × s/l)
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Kapilläre Blutgasanalyse unter Raumluft:
pH 7,49; PAO2 59,2mmHg; PaCO2 40mmHg; SO2 92,3 %.
Kapilläre Blutgasanalyse mit Sauerstoffzufuhr von 2 Litern/min:
pH 7,50; PaO2 69,7mmHg; PaCO2 38,4 mmHg; SO2 95,8 %.
Röntgen-Thorax-Aufnahme in 2 Ebenen
Streifige Zeichnungsvermehrung parakardial beidseits wie bei chronischer Bronchitis,
kein Nachweis konfluierender Infiltrate. Kein Pleuraerguss. Bilateral gering verbreitertes
Herz, keine Zeichen der kardialen Dekompensation. Kein Pneumothorax. Degenerative
Veränderungen der BWS. Proximale Humerusendoprothese links.
Bakteriologische Untersuchung von Sputum
Massenhaft Nachweis von Streptococcus pneumoniae, sensibel auf z. B. Ampicillin.
Verlauf
Bei Exazerbation der COPD (GOLD IV) Typ II nach Stockley mit dekompensierter Rechtsherzinsuffizienz
erfolgte eine Behandlung mit optimierter inhalativer Therapie über IPPB, parenteraler
Steroidgabe, resistenzgerechter antibiotischer Therapie und diuretischer Therapie.
Der Allgemeinzustand des Patienten besserte sich nur geringfügig. Häufig traten Dyspnoeattacken
bei erheblicher bronchialer Spastik, vor allem in den Nachtstunden und an Wochenenden,
auf. Es erfolgte zusätzlich eine bedarfsgerechte subkutane Morphingabe bei anfallsartiger
Luftnot (5 mg MSI s. c.), diese wurde von dem Pat. kaum genutzt.
Aufgrund von ausgeprägten Schmerzen (Numerische Rating-Skala (NRS) – Schmerz 7 – 9)
bei bekannter Osteoporose und Wirbelkörperfraktur begannen wir eine Schmerztherapie
mit transdermalen Opioiden, die Dosis wurde sukzessive erhöht (Fentanyl 100 µg/h).
Eine Mobilisation war aufgrund von Dyspnoe und Schmerzen nur bedingt möglich. Aufgrund
der ausgeprägten Atemnot konnte der Patient nur kurze Wegstrecken (unter 20 Metern)
zurücklegen.
In der weiteren Planung einer Entlassung kamen im Gespräch mit dem Patienten eine
depressive Grundhaltung und Ängste aufgrund der zunehmenden Hilflosigkeit hervor.
Der Patient war Bankkaufmann im Ruhestand, in vierter Ehe verheiratet, ohne Kinder
und lebte mit seiner Ehefrau zusammen. Ein Stiefsohn ist vor 7 Jahren mit 43 Jahren
an einem Lungenkarzinom verstorben, es bestand ein sehr guter Kontakt zu der ehemaligen
Schwiegertochter. Als Interessen gab der Patient das Sammeln von Münzen und Briefmarken
sowie das Lösen von Kreuzworträtseln an. Einen Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung
lehnte der Patient ab, ebenso die Inanspruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes.
Er äußerte mehrfach den Wunsch, vor seiner Frau zu sterben, um ihr nicht zur Last
zu fallen.
Aufgrund der hohen Symptomlast des Patienten bei schwergradiger chronisch-obstruktiver
Lungenerkrankung nahmen wir kurz vor geplanter Entlassung Kontakt zu unserem palliativmedizinischen
Konsildienst auf. In einem einmaligen Kontakt erfolgte eine Therapieempfehlung zur
Optimierung der anxiolytischen und analgetischen Therapie sowie eine Information über
die Möglichkeiten der stationären und ambulanten Palliativversorgung. Nach insgesamt
54 Tagen Liegedauer in unserer Klinik wurde der Patient nach Hause entlassen.
Bereits vier Tage später stellte sich der Patient mit zunehmender Dyspnoe sowie Allgemeinzustandsverschlechterung
in der Notaufnahme unseres Hauses vor. Daraufhin wurde der Patient kurzzeitig auf
die pneumologische Station aufgenommen und konnte bereits einen Tag später auf die
Palliativstation zu weiteren supportiven Maßnahmen verlegt werden. Es bestanden neben
der deutlichen Dyspnoe-Symptomatik Schmerzen am gesamten Rücken sowie an beiden Schultern
(NRS 5 – 7 – mixed pain), Husten ohne Auswurf und körperliche Schwäche. Weiterhin
bestand eine erhebliche Belastung im psychosozialen Bereich aufgrund der fortschreitenden
Erkrankung und der ungewissen weiteren Versorgung im ambulanten Bereich. Im stationären
Verlauf wurde der Patient selten durch seine Ehefrau besucht, sodass hier kaum gemeinsame
Gespräche möglich waren, die zur Entlastung der Situation geführt hätten. Uns war
bekannt, dass die Ehefrau ebenfalls körperlich durch verschiedene internistische Vorerkrankungen
eingeschränkt war. Zur Erleichterung der Dyspnoe sowie zur Linderung der deutlichen
Schmerzsymptomatik wurde die transdermale Therapie mit Fentanyl auf eine orale Medikation
mit Oxycodon umgestellt und bedarfsgerecht gesteigert (Tagesdosis: 2 × 120 mg). Der
Patient wurde noch einmal ausführlich über den Sinn einer Notfallmedikation mit Opioiden
zur Linderung von Schmerz und Dyspnoe informiert. Schnell wirksame Opioide wurden
nun regelmäßig von ihm genutzt. Durch physikalische Therapie konnten die Schmerzen
an beiden Schultern zusätzlich gelindert werden. Zur Besserung der Krankheitsverarbeitung
und zur Linderung der reaktiven Depression profitierte der Patient von den regelmäßigen
Gesprächen mit der Mitarbeiterin der psychosomatischen Abteilung, in denen seine Angst
und seine Einsamkeit thematisiert wurden. Er zeigte im Verlauf erstmals eine emotionale
Entlastung und suchte im stationären Verlauf einen offenen und intensiven Kontakt
zu unserem evangelischen Seelsorger.
Die Versorgung zu Hause wurde bis zur Aufnahme ins Krankenhaus durch die Frau des
Patienten unterstützt, die selber in körperlich reduziertem Allgemeinzustand war.
Die Unterstützung durch einen Pflegedienst wurde von dem Patienten bisher nicht gewünscht.
Da der Patient weiterhin den Wunsch äußerte zu Hause versorgt zu werden, wurden Kontakte
zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) hergestellt. Mit einer zusätzlichen
Unterstützung durch einen Pflegedienst war der Patient nun einverstanden.
Trotz Intensivierung der medikamentösen Therapie nahmen die Knöchelödeme, die bronchiale
Hypersekretion und die Dyspnoe weiter zu, sodass von der geplanten Entlassung nach
Hause Abstand genommen werden musste. Bei progressiver Allgemeinzustandsverschlechterung
wurde der Patient bis zu seinem Tod am 13. 01. 11 von seiner Frau und seiner Schwiegertochter
zusammen mit unserem Palliativteam eng begleitet und die Familienangehörigen im Abschied
unterstützt.
Diskussion
Der beschriebene Fall zeigt, dass der Bedarf an strukturierter palliativmedizinischer
Versorgung bei Patienten mit COPD aufgrund des regelhaft phasenförmigen Verlaufs mit
Exazerbation und anschließender Besserung schwer einzuschätzen ist. In der Pneumologie
bestehen bei malignen Grunderkrankungen inzwischen gute Erfahrungen mit der zeitgerechten
Implementierung der Palliativmedizin. So konnte gezeigt werden, dass Patienten mit
einem nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom von der zusätzlichen frühzeitigen palliativmedizinischen
Versorgung hinsichtlich der Lebensqualität deutlich profitierten und darüber hinaus
sogar in dieser Studie eine verlängerte Lebenszeit (11,6 Monate vs. 8,9 Monate) aufwiesen
[1]. Die bedarfsgerechte Integration der Palliativmedizin bei nicht malignen Krankheitsbildern,
wie die in der Kasuistik beschriebene COPD, aber z. B. auch bei Patienten mit Lungenfibrosen,
ist schwieriger zu etablieren. Aufgabe einer Palliativstation eines Lungenzentrums
ist es, Patienten mit fortgeschrittenen pneumologischen Erkrankungen und komplexer
Symptomlast zu behandeln. Hier ist es eine besondere Herausforderung, die Patienten
mit einer fortgeschrittenen COPD bereits vor Erreichen der Terminalphase zu erkennen,
auch wenn das Sterben weder absehbar noch thematisiert ist.
Patienten mit einer fortgeschrittenen COPD leiden unter einer ähnlich starken Symptomlast
wie Patienten mit Lungenkarzinomen [2]. Neben der im Vordergrund stehenden Dyspnoe und Husten bestehen häufig starke Schmerzen,
Ängste und Depression. Zudem berichten die Patienten über Fatigue, Schlafstörungen,
aber auch Mundtrockenheit, Obstipation, Anorexie oder körperliche Schwäche [3].
Zu Beginn der Behandlung von Dyspnoe steht ein ausführliches Assessment. Die Evidenz
für die medikamentöse Therapie der Dyspnoe mit Opioiden ist bei COPD-Patienten gut
[4]
[5]. Darüber hinaus stehen zahlreiche validierte nichtmedikamentöse Methoden [6] wie Atemkontrolltechniken, Entspannungsmaßnahmen (progressive Muskelrelaxation und
Ablenkungsübungen) sowie Reflexion des Zusammenhangs der Erkrankung, der Atemnot und
der eigenen Zukunftsperspektive zur Verfügung [7]. Durch den Einsatz von Hilfsmitteln wie Rollatoren zur Unterstützung der Atemhilfsmuskulatur
[8] und Handventilatoren kann die Atemnot zusätzlich positiv beeinflusst werden [9].
Gleiches gilt für die Therapie von Schmerzen, auch hier steht die Erfassung des Ausmaßes
an erster Stelle. Ein grundlegendes Prinzip der Therapie chronischer Schmerzen ist
die Bevorzugung einer oralen Applikation vor einer transdermalen Gabe [10]. Die Opioidtherapie ist auch bei Patienten mit chronischen Schmerzen, die nicht
auf eine maligne Erkrankung zurückzuführen sind, etabliert [11]. Bei starken Schmerzen mit deutlichen tageszeitlichen Schwankungen – wie in unserer
Kasuistik beschrieben – sind orale Medikamente besser steuerbar. Weiterhin ist die
Pharmakokinetik einer transdermalen Opioidgabe bei Patienten mit Schweißneigung und
Kachexie unsicher, sodass wir die Opioidrotation auf ein orales Präparat erfolgreich
umsetzen konnten.
Gore et al. konnten in ihrer Studie zeigen, dass klinisch relevante Angst und/oder
Depressionen ein mit 90 % Auftreten sehr häufiges – aber oft auch unbeachtetes – Symptom
ist. Bemerkenswert ist, dass im Vergleich dazu nur 52 % der Lungenkarzinom-Patienten
unter Angst bzw. Depressionen litten [3]. Aufgrund der häufig bestehenden psychosozialen Belastung der COPD-Patienten ist
die Einbeziehung der Psychotherapie und der Seelsorge wünschenswert.
Die palliativmedizinische stationäre Betreuung hatte sich auch in der Vergangenheit
definitionsgemäß nicht auf Patienten mit Krebserkrankungen beschränkt. Dennoch profitierten
von diesem umfassenden Ansatz bisher fast ausschließlich onkologische Patienten, die
mit ca. 98 % auf den Stationen überrepräsentiert waren [12]. Der Gesetzgeber führte 2007 die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV)
in das Sozialgesetzbuch V ein [13]. Ziel der veränderten Gesetzeslage war es, schwerkranken und stark symptombelasteten
Palliativpatienten zu ermöglichen, bis zu ihrem Tod in ihrer gewohnten Umgebung versorgt
zu werden und Krankenhauseinweisungen am Lebensende zu vermeiden. Bisher kam die SAPV
überwiegend Tumorpatienten zugute [14]. Der Anteil der Patienten, die eine intensive ambulante Betreuung im Rahmen einer
SAPV benötigen, wird auf 5 % aller an nicht tumorbedingten Erkrankungen in der Terminalphase
Leidenden geschätzt [15]. Diese Schätzung ist aus unserer Sicht vermutlich zu gering; der reelle Bedarf an
SAPV-Betreuung bei nicht malignen Erkrankungen liegt wahrscheinlich weitaus höher.
Inzwischen sind in allen Bundesländern Rahmenverträge zwischen den Kostenträgern und
Leistungserbringern geschlossen worden, die sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden.
Die Berliner Situation weicht von andern Bundesländern ab; wir blicken auf eine langjährige
palliativärztliche Erfahrung mit der ambulanten Versorgung von onkologischen Palliativpatienten
zurück. Home Care Berlin e. V. (HCB) bot eine ärztliche Palliativversorgung mit gesonderter
Vergütung seit 1994 für Patienten an. Der Rahmenvertrag in Berlin über die spezialisierte
ambulante Palliativversorgung vom 01. 07. 2010 zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung,
HCB und den gesetzlichen Krankenkassen [16] erweitert nun den Kreis der Anspruchsberechtigten auch auf Patienten mit nicht malignen,
unheilbaren und fortgeschrittenen Erkrankungen, die mit einem komplexen Beschwerdebild
einhergehen. Damit werden die zum Teil jahrelang ambulant tätigen Palliativmediziner
mit neuen Diagnosen wie der COPD konfrontiert.
Eine Möglichkeit einer frühzeitigen und vorausschauenden Versorgungsplanung ist das
sogenannte „Advance Care Planning“, welches eine Strategie beschreibt, die weit über
den Inhalt einer Patientenverfügung hinaus geht. „Advance Care Planning“ ist vor allem
im englischen Sprachraum verbreitet. Dieser Prozess, der sich als kontinuierlicher
Dialog zwischen Behandler und Patient versteht, hilft den Patienten und ihren Familien,
Werte und Ziele in Bezug auf ihre Gesundheit und einer medizinischen Behandlung zu
erkennen und vorauszuplanen [17]. Bei COPD-Patienten beinhalten diese Gespräche unter anderem eine umfassende Information
von Patient und Angehörigen zu den Themen Prognose, Möglichkeiten einer invasiven
Therapie wie maschineller Beatmung mit ihren Grenzen und auch das Besprechen der finalen
Erkrankungsphase.
Im Vergleich zu Patienten mit Lungenkrebs versterben Patienten mit einer COPD eher
im Krankenhaus [18]. Mit besserer palliativmedizinischer Versorgung dieser COPD-Patienten können wir
der Tatsache, dass 75 % der Palliativpatienten zu Hause versterben wollen, in der
Zukunft eher gerecht werden [19].
End-of-life-decision-making sollte gemeinsam mit Patienten, Familie und Medizinern
erfolgen. Dabei sind Lebensqualität, Ziele und Wünsche des Patienten zu berücksichtigen
[20]. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Patienten mit lebensbegrenzenden Erkrankungen
von einer offenen Kommunikation über End-of-Life-Themen profitieren [21]
[22].
Im Rahmen der intensiven Vernetzung der Pneumologie und Palliativmedizin sowohl in
der ambulanten als auch stationären Versorgung mit bedarfsgerechten therapeutischen
Ansätzen sollte eine spezialisierte pneumologisch-palliativmedizinische Versorgungstruktur
entstehen.