Pneumologie 2013; 67(05): 303
DOI: 10.1055/s-0032-1309642
Buchbesprechung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Macht und Ohnmacht des Wortes

Rezensent(en):
S. Ewig
Maio G Hrsg.
Macht und Ohnmacht des Wortes. Ethische Grundfragen einer personalen Medizin.

Göttingen: Wallstein Verlag; 2012. Festschrift zum 70. Geburtstag von Dietrich von Engelhardt. 34,90 €.
ISBN: 978-3-8353-1148-0
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. Mai 2013 (online)

 

    Dieses Buch ist eine Festschrift für Dietrich von Engelhardt, einen Pionier der Medizinischen Ethik in Deutschland, der maßgeblich an der Etablierung des Fachs innerhalb der medizinischen Fakultäten Anteil hatte. Die Weite seines Geistes kommt zum Ausdruck in der Vielfalt der Bezüge, die seine Schüler und Weggefährten hier zum Thema aufbereiten. Doch der Reihe nach.

    In einem Einleitungskapitel skizziert der Herausgeber G. Maio mit scharfen Strichen die aktuelle Situation der Medizin: Die personale Medizin droht inmitten des einseitig naturwissenschaftlich-ökonomischen Paradigmas zu ersticken. Er zeichnet dies nach anhand der fünf grundlegenden Verfasstheiten heutiger Medizin: Standardisierung, Beschleunigung, Entpersonalisierung, Hochschätzung des Vertragsverhältnisses und Verlust der Kreatitivität. Er setzt diesen ebenfalls fünf kritische Prinzipien gegenüber: anteilnehmendes Verstehen statt bloßer Objektivität, Unmessbarkeit des Eigentlichen, Nichtmachbarkeit der Heilung, Überwindung des Anspruchsdenkens sowie Therapie als Hilfe zur Annahme seiner selbst. Das Wort wird schließlich vorgestellt als Weg zur Bewältigung der Not. Damit ist das Thema und seine höchste Relevanz aufgetan.

    Es folgen fünf Aufsätze zu „Anthopologische(n) Grundlagen“. Dies ist ein steiler Einstieg, denn es folgen Aufsätze, die ihr Thema sicher nur andeuten können. K. L. Kohlwage beginnt mit einer theologischen Reflexion über den Prolog des Johannes, „Im Anfang war das Wort“ und G. F. Frigo stellt das Wort als das eigentlich unterscheidend Menschliche bzw. den Menschen konstituierende dar („Animal loquens“). H. W. Ingensiep stellt I. Kant und P. Singer gegenüber. Kant, was nicht allgemein bekannt ist, war gegen Ende seines Lebens nicht nur schwer erkrankt mit der Folge einer zunehmenden Auflösung seiner Geisteskraft, sondern verfasste auch einige Gedanken über das „Vegetieren“, in denen er herausarbeitet, dass er Altwerden und Sterben nicht als „Krankheit“, sondern als „Vollendung der Functionen der Lebenskraft“ angesehen hat, mithin einen prekären Zustand, den er als Rationalist dennoch innerlich bejaht im Sinne seiner Definition in der „Kritik der Praktischen Vernunft“: „Leben als Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln“. Singers biologistische Engführung des Lebens hingegen schaltet jede umfassende Dimension der Kommunikation von Individuen (auch die anderer über ihn selbst) aus der Definition des Lebens aus und kommt dann zu Urteilen des Lebenswerts, die keine „biographische“ Sicht mehr zulassen. Zwei weitere Aufsätze zum Medizinverständnis der Romantik von F. Gergory und F. Vercellone helfen den Graben zu erkennen, der durch die ausschließlich naturwissenschaftliche Verwissenschaftlichung der Medizin zur sprachlichen Wirklichkeit des Menschen entstanden ist.

    Zwei Aufsätze im Abschnitt „Medizin – Literatur – Geschichte“ gehören zu den spannendsten des Buches. H.-J. Gerigk legt in einer Interpretation des „Mutabor“-Zauberwortes aus Hauffs Märchen des Kalifen Storch die Macht der Sprache dar, Wirklichkeiten zu verändern, H. Koopmann zeichnet anhand des Begriffs „Syphilis“ die Eigendynamik eines Begriffs in der Literatur nach, die „Nietzsche zu einer Krankheit verhalf, an der er nicht litt“ und „Thomas Mann zu einem Romanstoff, den es sonst kaum gegeben hätte“, zum „Doktor Faustus“. Letzterer Aufsatz ist etwas für Genießer, denn er ist gleichzeitig Sprachkritik, Kritik der Sicht Thomas Manns der nationalsozialistischen Katastrophe und damit der deutschen Romantik, als auch (sehr diskussionswürdig) des Topos von der Heilkraft des Leidens.

    Der folgende Teil „Arzt und Patient“ scheint nun in den Ohren von Medizinern bekanntere Gefilde abzuschreiten. Tatsächlich treten nun Psychotherapeuten auf und beschreiben das Wort als wichtigstes Instrument der Therapie, so E. R. Petzold in seinem Beitrag „Vom Dialog zwischen Psyche und Soma“ und W. Schmitt zur „Bedeutung und Grenzen des Wortes in der Psychotherapie“. Deutlich kritische Gedanken zur Macht des Wortes trägt M. Bormuth bei, der die Kritik K. Jaspers an S. Freud bzw. an der seiner Meinung nach illegitimen Machtposition des Therapeuten in der Psychoanalyse aufgreift (und in den Auseinandersetzungen auch V. v. Weizsäcker und A. Mitscherlich nachzeichnet). Jaspers besteht auf einem Gespräch „von Freiheit zu Freiheit“, begründet auf seiner Ablehnung einer Hermeneutik des Verstehens, wo es nur entweder ein Erklären oder ein Ereignen der Freiheit geben kann. „Soweit Forschung reicht, kommt Freiheit nicht vor. Freiheit ist nicht als Geschehen für das Erkennen da, sondern als Wirklichkeit durch meine Tat.“ Hier würde man als Advokat des Wortes in der Medizin gerne einhalten und ein intensives Nachdenken beginnen.

    Geschenkt, könnten die „Organmediziner“ und „Standardisierer“ einwenden. Das sind Probleme der Psychotherapie. Dass dies nicht zutrifft, belegt dankenswerterweise ausgerechnet der Chirurg P. Stulz. Die Bedeutung der Worte zeichnet dieser in einem beeindruckenden Beitrag innerhalb der Situationen „das präoperative Aufklärungsgespräch“, „Grenzsituation bei malignem Leiden“ und der „mors in tabula“ nach. G. Viert bereitet als Theologe ebenso sensibel die Unterschiede zwischen „Informieren“ und dem „heilsamen Wort“ auf. Die wesentlichen Antipoden des Gesprächs sieht er im mechanistischen, ökonomischen, genetisierten und roboterisierten Menschenbild sowie in der Medikalisierung und Entfremdung des Sterbens. Dem stellt er entgegen die Formel: „Medicus curat, natura sanat, Deus autem salvat“. Doch wie tief die gegenwärtige Entfremdung von Arzt und Patient reichen kann, kommt in der Nachzeichnung und Deutung der düsteren Kafka-Erzählung „Ein Landarzt“ zum Ausdruck. Das entscheidende Wort ist die „Hacke und ihre gradlinige Kraft“, die der Bösartigkeit und Wucherung der Wunde“ einzig entgegengestellt werden kann, aber nur, wenn der Arzt „in letzter Konsequenz“ zum Kranken „ins Bett gelegt wird“, ihm „ganz gleich wird“. Ein Text, über den zu meditieren sich lohnt.

    Prof. Dr. med. Santiago Ewig, Bochum


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