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DOI: 10.1055/s-0032-1313174
Warum braucht die kritische Sexualwissenschaft die Psychoanalyse?
Antworten für den Sexualanalytiker Martin Dannecker zum 70. GeburtstagPublication History
Publication Date:
24 September 2012 (online)

Martin Dannecker, einer der mutigsten, ehrlichsten, ungewöhnlichsten und einflussreichsten Sexualforscher des 20. Jahrhunderts, zunächst Industriekaufmann und Staatsschauspieler, wird von Theodor W. Adorno gewissermaßen direkt zum Universitätsstudium der Philosophie, Soziologie und Psychologie zugelassen, promoviert zum Dr. phil. in Bremen und habilitiert als einer der ganz ganz wenigen im Fachbereich Medizin der J.-W.-Goethe-Universität Frankfurt am Main für das ungeschmälerte Fach „Sexualwissenschaft“, um viele Jahre lang Stellvertretender Direktor des Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft, Erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, Mitbegründer und verantwortlicher Herausgeber der „Zeitschrift für Sexualforschung“ und der Monografienreihe „Beiträge zur Sexualforschung“, sehr viel bedeutsamer aber davor und danach der intellektuelle Kopf der westdeutschen Schwulenbewegung und einer der nicht vom Diskurs geistig verwirrten Kämpfer gegen die „Operation AIDS“ zu sein, wobei er jeweils nicht nur theoretisch-politisch intervenierte, sondern seine Anschauungen durch allgemein bewunderte empirisch-theoretische Studien fundierte, Studien wie „Der gewöhnliche Homosexuelle“ (gemeinsam mit Reimut Reiche) und „Homosexuelle Männer und AIDS“, die zu den wissenschaftlichen Höhepunkten der kritischen Sexualwissenschaft gehören, die als Aufarbeitung der Nachkriegssexuologie um Hans Giese, Hans Bürger-Prinz, Victor E. Freiherr von Gebsattel und Helmut Schelsky entstand. Ohne das einzigartige politische Engagement und die Weichen stellende wissenschaftliche Arbeit von Professor Martin Dannecker, der dem Frankfurter Institut beinahe drei Jahrzehnte lang angehörte, wäre die gegenwärtige Sexualwissenschaft sehr viel ärmer.
Werden Danneckers Veröffentlichungen thematisch zugeordnet, beispielsweise von seinem Verlag, heißt es „Psychoanalyse, Homosexualität und AIDS“. Tatsächlich schätzt Dannecker die Psychoanalyse bis heute sehr, bedient sich ihrer Theoreme und Techniken, scheut aber nicht davor zurück, sie auch heftig zu kritisieren, wenn die Lage ernst ist. Als einer der wiederum ganz ganz wenigen Sexualforscher wird er trotzdem von der ansonsten zur Sektiererei neigenden Psychoanalyse gehört, wurde von ihr in Gestalt der Frankfurter „Sigmund Freud-Stiftung zur Förderung der Psychoanalyse e. V.“ sogar 2005 durch die Einladung zur „Freud-Vorlesung“ geehrt, die vor ihm u. a. Otto F. Kernberg, Ilse Grubrich-Simitis, Joseph Sandler und Jean Laplanche halten durften. (Die Schwulen haben ihn übrigens endlich 2010 mit dem Zivilcouragepreis des Berliner CSD geehrt, wahrscheinlich immer noch nicht wissend, was er zum Beispiel als langjähriges Mitglied des Nationalen AIDS-Beirats und als empirisch-klinischer AIDS-Forscher geleistet hat.)
Offenbar ist Dannecker davon überzeugt, dass kritische Sexualwissenschaft die Psychoanalyse benötigt. Das wirft die Frage auf: warum eigentlich? Ich denke, die Sexualwissenschaft benötigt die Freud’sche Psychoanalyse, weil nur sie in unserer Kultur Modelle entwickelt hat, die das widersprüchliche, um nicht zu sagen aporetische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft psychologisch-theoretisch zum Ausdruck bringen. Die Psychoanalyse, die durch ihre biophysikalische Sprache nicht verschweigt, an welche Episteme sie trotz des Versuchs der Transgression gebunden bleibt, sieht in den Individuen selbst eine Instanz vor, das Über-Ich, die die heteronomen gesellschaftlichen Regeln, Werte usw. vertritt, und eine, das Es, die über die gerade oder seit Langem herrschenden Regeln, Werte usw. anom hinweggleitet, und schließlich sieht sie eine Instanz vor, das Ich, die autonom entscheidet, was das Individuum tut oder lässt, wobei die Autonomie des Ichs eine leicht zu erkennende Fiktion ist, eine contradictio in subiecto, weil sie sich auf Regeln, Werte usw. bezieht, die nicht parthenogenetisch vom Individuum erzeugt worden sind, sondern auf dem Weg der gesellschaftlichen Heteronomie. Freud verhalf der Vorgängigkeit des Gesellschaftlichen in der psychologischen Theorie zu ihrem Recht, betonte in der Autonomie des Individuums mehr nomos denn autos und räumte zugleich dem mehr oder weniger scheinbaren Nichtgesellschaftlichen in seiner Theorie der Person ebenso einen eigenmächtigen Platz ein.