Z Orthop Unfall 2012; 150(03): 239-240
DOI: 10.1055/s-0032-1320094
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

CRPS – Amputation ja oder nein?

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Publication History

Publication Date:
21 June 2012 (online)

 
 

Die Autoren dieser als Metaanalyse angelegten Studie gehen der Frage nach, ob eine Amputation als Ultima Ratio in der Behandlung des chronischen komplexen regionalen Schmerzsyndroms Typ 1 (CRPS I, M. Sudeck) nach ausgereizter erfolgloser konservativer Therapie empfohlen werden kann.
Therapy-Resistant Complex Regional Pain Syndrome Type I: To Amputate or Not? J Bone Joint Surg Am 2011; 93: 1799–1805

Material und Methode

In den Datenbanken EMBASE und PUBMED wurde nach den Stichworten "komplexes regionales Schmerzsyndrom" (inklusive der Synonyme CRPS, Dystrophie, Algodystrophie, Südeck [sic] und sympathische Reflexdystrophie) in Kombination mit "Amputation" gesucht. In die Auswertung wurden Studien in englischer, holländischer und dänischer Sprache entsprechend einem von der Untersuchergruppe erstellten Auswahlverfahren eingeschlossen. Aufgrund der begrenzten Menge an Literatur bedienten sie sich hierzu einer Literaturrecherche, in die explizit Fallberichte eingeschlossen wurden.

Entsprechend der von den Autoren vorgegebenen Kriterien konnten 26 Artikel gefunden werden, die zwischen 1948 und 2009 veröffentlicht wurden. Es handelte sich sämtlich um Fallserien und Einzelfallberichte mit dem Evidenzgrad IV. Insgesamt wurden 107 Patienten beschrieben, darunter 38 Männer und 55 Frauen, bei 14 Patienten war kein Geschlecht angegeben. Eine durchschnittliche Dauer zwischen dem ersten Auftreten des CRPS und der Amputation wurde mit 69 Monaten angegeben.

Die Diagnosestellung wird als heterogen beschrieben, lediglich in zwei Studien wurde die Diagnose CRPS anhand der IASP-Kriterien (International Association for the Study of Pain, siehe Kasten) gestellt, in den übrigen Studien wurden ältere oder auch nicht näher spezifizierte Diagnosekriterien verwendet. Unter den bis zum Amputationszeitpunkt angewendeten Therapien waren Physiotherapie, (nicht näher definierte) medikamentöse Therapie, Sympathikusblockaden, chirurgische Sympathektomie und psychologische Behandlung.


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Ergebnisse

Insgesamt wurden 111 Amputationen dokumentiert, davon 37 an der oberen, 63 an der unteren Extremität und 11 ohne Angabe des Amputationsortes. Die Wahl der Amputationshöhe wurde in nur einer Studie mit 8 Fällen begründet. Als häufigste Gründe für eine Amputation wurden Schmerz, eine unbrauchbare Extremität und Infektionen/Ulzerationen genannt.

Im Bezug auf die Operationsergebnisse wurden Rezidive des CRPS I oder Phantomschmerz insgesamt in ca 50% der Fälle festgestellt. Die übrige Komplikationsrate lag bei etwa 30 % (Infektionen, Wundheilungsstörungen und Druckgeschwüre). Eine Rückkehr in den Arbeitsalltag gelang bei ca 30 % der Patienten. Aussagen zu Erfolgskriterien wie Patientenzufriedenheit, Lebensqualität oder erfolgreicher Einsatz von Prothesen waren aufgrund der äußerst inhomogenen Beschreibung in den einzelnen Arbeiten nicht zu treffen.


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Diskussion

In der Diskussion wird kritisch auf den Wert der eingeschlossenen Publikationen eingegangen. Keine der Arbeiten enthält eine Kontrollgruppe, hierdurch ist nicht zu bewerten, ob ein möglicher Erfolg der Amputation auf der Intervention beruht oder einem Placeboeffekt, natürlicher Verlauf oder einfach Zufall ist. Ferner wird insbesondere die schwierige Vergleichbarkeit aufgrund uneinheitlicher oder ganz fehlender Diagnosekriterien des CRPS I angeführt, so dass nicht sicher beantwortet werden kann, ob es sich bei den dokumentierten Patienten aus heutiger Sicht überhaupt um Fälle mit CRPS I handelt. Auch die z.T. schlecht dokumentierte postoperative Entwicklung von Schmerz, Behinderung und Lebensqualität wird diskutiert. Obwohl der Schmerz bei 80 % der Patienten als ausschlaggebender Grund für eine Amputation angegeben wurde, ließ sich aufgrund uneinheitlicher Dokumentation keine Aussage zur Verbesserung der Lebensqualität in Bezug auf Schmerzen postoperativ treffen.

Die hohe CRPS-Rezidivrate von 50% in der Gesamtpopulation erklärt sich durch eine eingeschlossene Studie, bei der eine Rezidivrate von 100 % nach Amputation beobachtet wurde. Unter Ausschluss dieser Arbeit liegt die Rezidivrate nur noch bei 8 %.

Die auffällige Geschlechterverteilung (m:f = 1:1,4) wird ebenfalls kommentiert. Bei der Verteilung des CRPS I allgemein besteht ein ungefähres Verhältnis von m:f = 1:3. Die hohe Rate an Männern, die eine Amputation als Therapie durchführen lässt, ist anhand dieser Untersuchung nicht erklärbar, es wird eine verstärkte Bereitschaft von Männern zur Amputation vermutet.

Zusammenfassend sehen die Autoren aufgrund ihrer Studie eine Rechtfertigung zur Amputation beim lang andauernden CRPS I nach Ausschöpfen aller konservativen Therapien in Sonderfällen als gegeben. Insbesondere bei gleichzeitig vorliegender nicht beherrschbarer Infektion scheint die Indikation gerechtfertigt zu sein. Wegen der schlechten Vergleichbarkeit der verfügbaren Studien kann keine abschließende Empfehlung gegeben werden, so dass die Autoren dieser Arbeit neue Studien nach einheitlichen Kriterien fordern.


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Kommentar

Diese Studie stellt den Versuch dar, mit Hilfe einer Metaanalyse eine Bewertung der Amputation in der Therapie des lange andauernden, therapieresistenten CRPS abzugeben. Die zur Beantwortung der Frage herangezogene Literatur besteht ausschließlich aus Fallserien und Fallberichten und erreicht daher nur einen Evidenzgrad von IV. Eine weitere Schwierigkeit ist die völlig uneinheitliche Diagnosestellung für das CRPS in den untersuchten Arbeiten. Nur 2 Studien wendeten vergleichbare Kriterien der IASP an, dies ist durch den Einschluss historischer Studien erklärbar, da die Diagnosekriterien erst 1994 von der IASP erstellt wurden. Vor dem Hintergrund einer hohen Heterogenität der vorliegenden Literatur in Bezug auf Einschlusskriterien und Erfolgsauswertung kann in der vorliegenden Studie keine allgemeingültige Empfehlung für oder wider eine Amputation bei lang anhaltendem CRPS I ausgesprochen werden.

In Leserbriefen wurde den Autoren der Studie vorgeworfen, nicht eindeutig genug von der Amputation als Therapieoption Abstand zu nehmen. Auch die aktuellen AWMF-Leitlinien in Deutschland sehen in der Behandlung des CRPS I keine Amputation vor. Der Eingriff sollte nach Auffassung des Kommentators auf keinen Fall als regelhafter Bestandteil der CRPS- Therapie angesehen werden und nur individuell zu begründenden, absoluten Ausnahmefällen vorbehalten sein.

Dr. med. Philipp Herlyn
Chirurgische Klinik und Poliklinik
Abt. für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsmedizin Rostock
E-Mail:
philipp.herlyn@gmx.de


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Diagnostik der CRPS[ * ]

Die Diagnose der CRPS ist eine klinische Diagnose. Deshalb ist die Anamneseerhebung, die klinisch-orthopädische und neurologische Untersuchung der entscheidende Schritt in der Diagnosefindung. Ein wesentliches Leitsymptom der CRPS ist, dass die im Folgenden aufgeführten Symptome generalisieren, d.h. die gesamte betroffene Extremität erfassen und nicht nur auf das Areal z.B. eines verletzten Nervs beschränken. Für die Diagnose müssen die Punkte 1 bis 4 erfüllt sein:

  1. Anhaltender Schmerz, der für das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird

  2. Die Patienten müssen mindestens 1 Symptom aus 3 der 4 folgenden Kategorien in der Anamnese nennen:

    a. Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); "Hyperästhesie" (Überempfindlichkeit für Berührung, Allodynie)

    b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe

    c. Asymmetrie im Schwitzen; Ödem

    d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, "Paresen" (im Sinne von Schwäche); Veränderung von Haar und Nagelwachstum

  3. Bei den Patienten muss mindestens ein Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegen:

    e. Hyperalgesie auf spitze Reize (z.B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck auf Gelenke/Knochen/Mukeln

    f. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe

    g. Asymmetrie im Schwitzen; Ödem

    h. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, "Paresen" (im Sinne von Schwäche); Veränderung von Haar und Nagelwachstum

  4. Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend. Die Hauttemperatur wird mit geeigneten Instrumenten gemessen, alle anderen Symptome werden klinisch beurteilt. Um Punkt 4 beantworten zu können, müssen differenzialdiagnostisch insbesondere folgende Erkrankungen, die ein CRPS vortäuschen können, ausgeschlossen sein: Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Entzündungen (z.B. erregerbedingte Arthritiden, Infektionen nach Chirurgie, Polyneuritiden oder Rakulitiden), thromboembolische Erkrankungen, Kompartment- und Nervenkompressionssyndrome. Hierzu dienen unter anderem laborchemische Untersuchungen. Das CRPS ist nicht durch Auffälligkeiten bei Routinelaborparametern wie z.B. CRP-Erhöhung oder BSG-Beschleunigung gekennzeichnet. Oft nicht einfach ist die Abgrenzung von den Folgen psychiatrischer Erkrankungen, vor allem bei Vorliegen einer dissoziativen Störung mit autoagressiven Handlungen. Komplizierend ist anzumerken, dass ein Teil dieser genannten Erkrankungen auch ein CRPS auslösen kann.

Der Verlauf der Erkrankung sollte mit in der Schmerztherapie üblichen Methoden unter Einschluss von Schmerzquantifizierung, Funktionsparametern (Kraft, Bewegungsumfang, Umfangsmessung) und vegetativen Funktionsstörungen dokumentiert werden.


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* nach: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; 4. Auflage 2008; Georg Thieme Verlag