physiopraxis 2012; 10(06): 20-26
DOI: 10.1055/s-0032-1321695
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Internationale Studienergebnisse


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21 June 2012 (online)

 

Schmerzende Kaumuskulatur – Physiotherapie nutzlos?

Belgische Forscher haben untersucht, welchen Einfluss Physiotherapie auf die schmerzende Kaumuskulatur von Patienten hat. Ihr Ergebnis: keinen größeren, als wenn man den Patienten ausschließlich kiefergelenkspezifische Verhaltenstipps gibt.

Die Forscher schlossen 53 Patienten mit Schmerzen im Bereich der Kaumuskulatur in ihre Studie ein und verteilten sie per Zufall auf zwei Gruppen. Ein Zahnarzt klärte alle Teilnehmer zunächst bezüglich der Funktionsweise des Kiefergelenks auf und gab ihnen Tipps, wie sie eine Überbeanspruchung vermeiden können. Nach drei, sechs, zwölf, 26 und 52 Wochen frischten die Probanden dieses Wissen bei einem Kontrolltermin auf. Die Patienten in der Therapiegruppe bekamen zu Beginn zusätzlich drei Wochen lang zwei Termine wöchentlich bei einem Physiotherapeuten. Er bestärkte sie erneut in Verhaltensänderungen und zeigte ihnen dazu standardisierte Entspannungsübungen und Dehnübungen für die schmerzhaften Muskeln. Außerdem brachte er ihnen bei, Zunge und Kiefergelenk in die Ruheposition zu bringen und den Nacken zu strecken.

Während des Untersuchungszeitraums verbesserten sich alle Patienten gleichermaßen. Die Forscher resümieren daher, dass die Schmerzminderung nicht der Physiotherapie zugeschrieben werden kann, und betonen, wie wichtig es zu sein scheint, die Patienten ausreichend über ihr Problem aufzuklären.

josc

Eur J Pain 2012; 16: 737-747

Kommentar

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Bei solch einem Studiendesign verwundert das Ergebnis nicht. Das Problem ist - mal wieder -, was hier unter dem Begriff „Physiotherapie“ veranstaltet wird: mehr oder minder eine Wiederholung dessen, was die Patienten in der anderen Gruppe ebenfalls zu hören bekamen, dazu ein standardisiertes, aktives Übungsprogramm. Ich kenne keinen Physiotherapeuten, der jedem Patienten mit ähnlichem Problem ein Programm mitgibt, das sich nur darin unterscheidet, welche Muskeln gedehnt werden. Es wird Zeit, dass die Physiotherapie in Studien endlich so untersucht wird, wie sie auch tatsächlich tagtäglich angewandt wird: auf den Patienten eingehend, individuell untersuchend, subgruppierend, spezifisch therapierend und gezielt trainierend. 

Joachim Schwarz


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Call for Abstracts – Symposium Physikalische Medizin und Reha

„Tief ein, tief aus! - Dysfunktionen des Atmungssystems und deren multidisziplinäre Therapieansätze“ - so lautet das Motto des 4. Symposiums Physikalische Medizin und Rehabilitation. Es wird am 23. März 2013 am Uniklinikum Leipzig stattfinden, in Kooperation mit der Messe „therapie Leipzig“. Wer einen wissenschaftlichen Beitrag als Workshop und/oder Vortrag anmelden möchte, kann sich per E-Mail bei der Leiterin des Symposiums Frau Dr. Claudia Winkelmann melden: Claudia.Winkelmann@uniklinik-leipzig.de.

josc


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Schlaganfall – Musiktherapie hebt Stimmung

Patienten nach Schlaganfall leiden häufig unter Depressionen und Ängsten. Helfen kann ihnen Musiktherapie, da sie die Stimmung der Betroffenen hebt. So lautet das Ergebnis von Dong Soo Kim und anderen Wissenschaftlern von der Yonsei Universität für Medizin in Seoul, Südkorea.

Sie teilten 18 Patienten, die sechs Monate zuvor einen Schlaganfall erlitten hatten, in zwei Gruppen ein: die eine Hälfte in eine Musikgruppe, die andere in die Kontrollgruppe. Beide Gruppen bekamen Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Die Teilnehmer in der Interventionsgruppe erhielten zusätzlich insgesamt acht Einheiten Musiktherapie, und zwar zweimal wöchentlich über vier Wochen. Diese jeweils 40-minütigen Sitzungen setzten sich aus einem Begrüßungs- und Abschiedslied und aus weiteren musikalischen Aktivitäten zusammen, unter anderem Singen, Atem- und Phonationsübungen, improvisiertem Spielen, Handglockenspielen und Liederschreiben. Dabei begleitete man die Patienten mit Keyboard, Handglocken, Schlagzeug und Flöte.

Die Autoren erhoben den psychologischen Status der Teilnehmer vor und nach der Musiktherapie mittels des Beck Anxiety Inventory (BAI) und der Beck Depression Inventory (BDI). Am Ende der Studie hatte sich die Musikgruppe in beiden Scores mehr verbessert als die Kontrollgruppe, statistisch signifikant jedoch nur beim Depressionsstatus. Die Wissenschaftler schlussfolgern daraus, dass Musiktherapie die depressive Stimmung von Patienten nach Schlaganfall effektiv verbessern kann.

Sgl Yonsei Med J 2011; 52: 977-981

Kommentar

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Der Ansatz der Studie ist spannend, und es ist durchaus vorstellbar, dass Musiktherapie die Stimmung von Patienten nach Schlaganfall positiv beeinflussen kann. Leider hat die Arbeit viele Schwächen: So nahmen beispielsweise nur sehr wenige Patienten daran teil. Die Autoren berücksichtigten bei ihren Einschlusskriterien weder den Läsionsort noch den Schweregrad des Schlaganfalls. In die Musikgruppe kamen die Teilnehmer, die sich dafür freiwillig gemeldet hatten. Die Einteilung erfolgte also nicht randomisiert. Zudem gab es keine Verblindung, die Autoren berücksichtigten mögliche Plazeboeffekte nicht und ebenso wenig, ob der Effekt der Musiktherapie langfristig ist. Auch ob die Patienten Antidepressiva nahmen, welche ihren Gemütszustand beeinflussen, dokumentierten die Forscher nicht.

Susann Gräbel


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Opioide – Das Schmerzgedächtnis ausradieren

Hochdosierte Opioide löschen das Schmerzgedächtnis im Rückenmark und könnten so Menschen mit chronischen Schmerzen dauerhaft helfen. Das erkannten Forscher aus Mannheim und Wien. Durch lang anhaltende Schmerzen verändern sich die Synapsen, und eine „Schmerzgedächtnisspur“ entsteht. Im Laborversuch konnten die Forscher jetzt zeigen, wie diese aufgelöst werden kann: Sie hatten bei tief narkotisierten Versuchstieren Schmerzfasern erregt und die Entstehung des Schmerzgedächtnisses protokolliert. Durch die Kurzzeittherapie mit Opioiden veränderten sich Anteile der Synapsen, was dazu führte, dass sich die Schmerzspur auf zellulärer Ebene im Rückenmark löschte. Nun sind Studien mit Menschen mit chronischen Schmerzen geplant. Sollten sich die Ergebnisse bestätigen, könnte dies die Schmerztherapie revolutionieren.

kra

Science 2012; 1: 235-238

12,9

Stunden ...

... beträgt die durchschnittliche Zeit zwischen einem Schlaganfall und der Aufnahme ins Krankenhaus.

Stroke 2011; 42: 3341-3346


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Schlaganfall – Akutphase: Raus aus dem Bett

Jüngste Studien zeigen, dass viele Patienten in der Akutphase nach Schlaganfall sehr inaktiv sind und die meiste Zeit im Bett verbringen. Bei richtiger Organisation könnten sich diese Patienten allerdings bereits die ersten 14 Tage nach einem Schlaganfall überwiegend außerhalb ihres Bettes aufhalten. Das ist das Fazit einer Studie von Torunn Askim und einer Gruppe norwegischer und australischer Wissenschaftler. Sie hatten das Aktivitätsmuster von Patienten nach Schlaganfall analysiert, die in der häufig als „Goldstandard“ bezeichneten Stroke Unit des St. Olavs Krankenhauses in Trondheim, Norwegen, aufgenommen worden waren.

Die Forscher beobachteten 124 Patienten jeweils einen Tag von 8 bis 17 Uhr. Knapp die Hälfte der Zeit verbrachten die Patienten sitzend außerhalb des Bettes. Weitere 20 Prozent verbrachten sie mit motorischen Aktivitäten wie Transfers, Stehen, Gehen und Treppensteigen. Leicht betroffene Patienten befanden sich über rund 80 Prozent der Zeit außerhalb des Bettes, von den schwer betroffenen waren es immerhin noch 30 Prozent. Die Forscher schlussfolgern, dass es somit durchaus möglich ist, eine aktiv orientierte Akutversorgung bei Patienten nach Schlaganfall durchzuführen. Auf diesem Weg könnten unter Umständen immobilisationsabhängige Komplikationen vermieden werden.

hoth

Int J Stroke 2011; 7: 25-31


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Wer War Eigentlich ... – Per Henrik Ling

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Per Henrik Ling (1776-1839) war ein schwedischer Gymnastiklehrer und Schriftsteller. Er gab der therapeutischen Massagebehandlung wesentliche Impulse. Deswegen wird heute immer noch häufig von der „schwedischen Massage“ gesprochen.

Rauch R. Physikalische Therapie. I: Hüter-Becker A, Dälken M. Physikalische Therapie, Massage, Elektrotherapie und Lymphdrainage. Stuttgart: Thieme; 2007


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Schultersteifigkeit – Wann Massage hilft

Steifigkeiten der dorsalen Strukturen des Glenohumeralgelenks schränken die glenohumerale Innenrotation ein. Ein taiwanesisches Autorenteam fand nun heraus, dass sich die Beweglichkeit verbessert, wenn man diesen Bereich massiert. Allerdings hilft die Therapie nicht allen Patienten gleich gut.

An der Studie nahmen 60 Patienten mit eingeschränkter Innenrotation eines Schultergelenks teil. Die Forscher maßen die Festigkeit der Mm. infraspinatus und teres minor sowie des posterioren Deltamuskels mittels eines sogenannten Myotonometers. Außerdem bestimmten sie das Bewegungsausmaß der Innenrotation und die Schulterfunktion. Die Probanden durften nicht an rheumatoider Arthritis leiden, an der Schulter operiert worden sein, keinen Schlaganfall mit Beteiligung des Armes und keine Fraktur erlitten haben. Auch Patienten mit einem Body Mass Index von unter 19 sowie über 24 schlossen die Autoren aus. Bei ihnen hätten die unterschiedlich dicken Haut- und Subkutanschichten die Messung der Muskelfestigkeit verfälschen können.

Die Autoren teilten die Probanden per Randomisierung entweder der Therapiegruppe oder der Plazebogruppe zu. Die Therapiegruppe erhielt vier Wochen lang, zweimal wöchentlich eine jeweils sechs Minuten dauernde Massage des posterioren Anteils des M. infraspinatus sowie des M. teres minor und des M. deltoideus. Bei der Plazebogruppe legte der Therapeut in der gleichen Frequenz die Hand für insgesamt zehn Minuten leicht auf die gleichen Muskeln.

Am Ende der Intervention hatte sich das Bewegungsausmaß der Innenrotation in der Massagegruppe von rund 32° auf 55° verbessert, in der Kontrollgruppe nur auf 35°. Besonders effektiv war die Massage bei den Patienten mit kürzer andauernden Beschwerden, einer höheren Festigkeit im Delta und Infraspinatus vor der Therapie sowie einer besseren Funktion des Schultergelenks.

josc

BMC Musculoskelet Disord 2012; 13: 46


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Zerebralparese – Wer profitiert von Adduktoren-OP?

Kinder mit zerebralparetisch bedingter Para- oder Tetraplegie, die selbstständig gehen können, profitieren am deutlichsten von einer Operation der Hüftgelenkadduktoren. Bei schwer betroffenen Kindern zeigt die OP hingegen nur geringen Nutzen. So lautet das Fazit australischer Forscher.

Sie untersuchten retrospektiv die Daten von 330 bilateral betroffenen Kindern, bei denen die Sehnen der Hüftgelenkadduktoren operativ auf einer oder beiden Seiten verlängert wurden. Sie werteten die OP als Erfolg, wenn kein weiterer Eingriff notwendig war und wenn bei der Nachuntersuchung nach mindestens zwei Jahren das Migrationsverhältnis beider Hüftgelenke unter 50 Prozent lag - also der knöcherne Hüftkopf mindestens über die Hälfte überdacht war. Zuvor klassifizierten die Forscher alle Teilnehmer mittels des Gross Motor Function Classification Systems (GMFCS).

Insgesamt 32 Prozent der teilnehmenden Kinder erreichten die Erfolgskriterien. Diejenigen, die vor der OP auf dem GMFCS das Level II oder III erreichten, also weniger beeinträchtigt waren, hatten eine Erfolgsrate von 94 beziehungsweise 49 Prozent. Kinder mit einem Level von IV und V schafften dagegen nur 27 und 14 Prozent. Aufgrund dieser Ergebnisse empfehlen die Autoren, vor derartigen OPs unbedingt eine Klassifikation mit dem GMFCS vorzunehmen und das Ergebnis in die Entscheidung für oder gegen eine OP mit einzubeziehen.

hoth

J Bone Joint Surg Am 2012; 94: 326-334


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Studien zu Rückenschmerzen – Quantität steigt, Qualität stagniert

In den letzten Jahren gab es deutlich mehr Studien zu Interventionen bei chronischen lumbalen Rückenschmerzen - Stichprobengrößen und Studienqualität aber stagnieren.

Das ist das Fazit eines Autorenteams aus den Niederlanden und Australien. Sie hatten vier systematische Übersichtsarbeiten zur Effektivität von Interventionen bei chronischen Rückenschmerzen untersucht, die 2010 veröffentlicht worden waren. Die darin aufgelisteten 157 randomisierten kontrollierten Studien hatten sie nach dem Datum ihrer Veröffentlichung sortiert, dann die jeweilige Teilnehmerzahl extrahiert und die Studienqualität bewertet. Der größte Teil dieser Studien untersuchte den Effekt übender Therapieverfahren.

hoth

Eur Spine J 2012; 21: 375-381


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Nackenschmerzen – Mobilisationen schlagen Medikamente

Mobilisationen und Manipulationen der Halswirbelsäule helfen bei akuten und subakuten Nackenschmerzen effektiver als Medikamente. Ein Heimtrainingsprogramm kann die Beschwerden der Patienten allerdings ähnlich gut lindern. Zu diesem Ergebnis kommen Gert Bronfort und sein Team von der Universität Bloomington, USA.

Die Wissenschaftler teilten 272 Patienten, die seit mehr als zwei Wochen an unspezifischen Nackenschmerzen litten, per Zufall in drei Interventionsgruppen ein: Die Teilnehmer der ersten Gruppe (SMT) erhielten zwölf Wochen lang Mobilisationen und Manipulationen der Halswirbelsäule sowie Weichteiltechniken, Stretchingübungen und Wärmeoder Kältepacks. Welche Arten von Techniken der Therapeut ausführte und wie viele Sitzungen er anberaumte, entschied er individuell. In der zweiten Gruppe (MED) bekamen die Probanden im gleichen Zeitraum nichtsteroidale Antirheumatika oder Schmerzmittel. Die Patienten der dritten Gruppe (HP) erhielten ein Heimprogramm, das von Therapeuten individuell angepasst und angeleitet wurde. Es beinhaltete einfache Eigenmobilisationen der HWS wie Extensions-, Flexions-, Retraktionsund Rotationsbewegungen sowie Retraktionen der Skapula. Die Patienten absolvierten sechsbis achtmal täglich jeweils fünf bis zehn Wiederholungen.

Während der zwölfwöchigen Intervention sowie nach 26 und 52 Wochen bestimmten die Wissenschaftler mithilfe von Fragebögen unter anderem den Grad der Schmerzen und die Zufriedenheit der Teilnehmer mit der Behandlung. Des Weiteren testeten sie die Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Patienten in der SMT-Gruppe hatten im Vergleich zur MED-Gruppe weniger Schmerzen - sowohl am Ende der Interventionszeit als auch langfristig. Die Unterschiede zur HP-Gruppe waren dagegen nicht signifikant. Bei den Patienten der HP-Gruppe hatte sich die Beweglichkeit der HWS von allen drei Gruppen am meisten verbessert, zufriedener mit der Behandlung zeigten sich allerdings die Probanden der SMT-Gruppe.

giro

Ann Intern Med 2012; 156: 1-10


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Elektrotherapie – Elektroden con Fungi

Ultraschallköpfe und Elektroden von Elektrotherapiegeräten sind massiv von Pilzen besiedelt. Das geht aus einer Studie brasilianischer Forscher hervor.

Mitra Mobin und ihre Kollegen hatten einen Abstrich von jeweils zwei Elektroden und Schallköpfen aus zehn verschiedenen Physiotherapiepraxen untersucht. Die Elektroden und Schallköpfe waren regelmäßig im Einsatz und wurden zwischen den jeweiligen Patienten mit 70% igem Ethanol desinfiziert. Nachdem die Autoren die Abstriche mindestens 72 Stunden in den Inkubator gelegt hatten, kam das unerfreuliche Ergebnis: Auf allen Proben waren Pilze zu finden - insgesamt 14 verschiedene Arten. Einige davon gelten als potenzielle Auslöser unterschiedlicher Erkrankungen wie Osteomyelitis, Endocarditis und Lungeninfekten. Die Hygienemaßnahmen bei Elektrotherapie müssen also dringend verbessert werden - zum Schutz von Patienten und Therapeuten.

josc

Physiotherapy 2011; 97: 273-277


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