Psychiatr Prax 2012; 39(05): 248-249
DOI: 10.1055/s-0032-1322336
Mitteilungen der BDK
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Traumaspezifische Diagnostik und Therapie in Psychiatrischen Institutsambulanzen in Deutschland – eine Umfrage der BDK und des Referates Psychotraumatologie der DGPPN

Martin Driessen
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Ev. Krankenhaus Bielefeld
,
Ulrich Frommberger
2   Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Mediclin Klinik an der Lindenhöhe, Offenburg
,
Carolin Steuwe
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel, Ev. Krankenhaus Bielefeld
,
Ingo Schäfer
3   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Martin Driessen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel
Evangelisches Krankenhaus Bielefeld
Remterweg 69–71
33649 Bielefeld

Publication History

Publication Date:
09 July 2012 (online)

 
 

Verantwortlich für diese Rubrik: Manfred Wolfersdorf, Bayreuth; Thomas Pollmächer, Ingolstadt

Einleitung

Psychotraumatologische Aspekte spielen in der psychiatrischen Versorgung eine bedeutsame Rolle. So werden frühe Traumatisierungen zunehmend als ätiologisch relevante und aufrechterhaltende Faktoren für eine Vielzahl auch schwerer psychischer Störungen diskutiert, wobei inzwischen fundierte empirische Belege für diese Zusammenhänge vorliegen (Schäfer u. Fisher 2011). Zudem wird auch ein bedeutsamer Anteil der Personen mit Posttraumatischen Störungen (wie der Posttraumatischen Belastungsstörung, PTBS) in psychiatrischen Einrichtungen behandelt. In NRW wurde in den letzten Jahren auf Betreiben des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) ein nahezu flächendeckendes Netzwerk von Opferambulanzen etabliert, zumeist in den Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA). Auf der Grundlage des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) wird Gewaltopfern dort im Rahmen der sog. Sachverhaltsaufklärung rasche Diagnostik und Hilfe angeboten und bei Bedarf weiterführende Therapien vermittelt oder im Einzelfall in den Ambulanzen durchgeführt.

Das Konzept wurde mittlerweile evaluiert und zeigte gute bis sehr gute Effekte (Schürmann 2010). Zudem wurde auf Bundesebene im Rahmen des Runden Tisches Sexueller Missbrauch in jüngster Zeit u. a. die Frage diskutiert, welche Therapeuten bzw. welche Institutionen verfügbar und geeignet sind, die Betroffenen zu behandeln. Daher wurde in der Bundesdirektorenkonferenz (Arbeitsgruppe PIA gemeinsam mit ACKPA) und in der DGPPN (Referat Psychotraumatologie) die Rolle der PIA im Arbeitsfeld Psychotraumatologie intensiv diskutiert. Es stellte sich rasch heraus, dass das Wissen über die derzeitige Quantität und Qualität entsprechender Angebote weder strukturell, personell noch fachlich ausreichend gut bekannt ist, um fundierte Aussagen zu machen.

Daher wurde ein Fragebogen erstellt und an alle in der Arbeitsgruppe aktiv teilnehmenden PIAs versandt (n=334). Die vollständig ausgefüllten Fragebögen von 164 PIAs (49,1 %) konnten ausgewertet werden. Diese PIAs verteilen sich über das gesamte Bundesgebiet mit der zu erwartenden Häufung in den Ballungsräumen (Abb. [ 1 ]).

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Abb. 1 Die Verteilung der teilnehmenden Psychiatrischen Institutsambulanzen. Die Größe der eingefügten Markierungen reflektiert die Anzahl der teilnehmenden Zentren (z. B. Berlin n=6).

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Ergebnisse

In den teilnehmenden PIAs wurden über alle Patientengruppen im Mittel 1144±1212 Fälle pro Quartal behandelt (Median =700; Range: 7–7000). Die Teilnehmer, meist die PIA-Leitungen, schätzten den Anteil von Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) als Hauptdiagnose im Mittel bei 3,6±3,6% (Median =2,5 %; Range: 0–20%), mit PTBS als komorbider Störung bei 9,9±11,2% (6%; 0–100%) und den Anteil von Patienten mit Traumatisierungen in der Vorgeschichte (ohne PTBS) bei 24,3±19,1% (20 %; 0–100%) ein.

8,5% der PIAs setzen standardisierte psychotraumatologische Diagnostikinstrumente als Screening ein und 43,9% bei klinischem Verdacht. 47% der PIAs setzen dagegen keine standardisierten Instrumente ein. Über eine spezielle Opfersprechstunde nach OEG verfügen 17,9% der PIAs, 73,2% gaben an, traumaspezifische Behandlungen anzubieten. Im Einzelnen sind dies:

Traumakonfrontative Verfahren 61,3%
Stabilisierende Verfahren 98,3%
Kognitive Verfahren 85,7%
Körperorientierte Verfahren 40,7%
Kunst-, Musik-, weitere Kreativtherapieverfahren 50,4%

Durchgeführt werden diese therapeutischen Angebote von Mitarbeitenden mit traumaspezifischer Fortbildung/Qualifikation. Dabei handelt es sich (in Vollkräften) im Mittel um 0,9±1,1 Ärzte (Range 0–5) und 0,7±1,0 Diplompsychologen (0–4), während die hierfür verfügbaren Personalressourcen der anderen Berufsgruppen deutlich geringer sind: Pflegende 0,1±0,6 (0–3); Sozialpädagogen 0,1±0,3 (0–2); Bewegungs-/Körpertherapeuten 0,1±0,3 (0–2); Kunst-, Musik-, Kreativtherapeuten 0,1±0,3 (0–2).

Kostenträger der Behandlung waren in nahezu allen PIAs die Krankenversicherungen (98,3 %), seltener dagegen die Berufsgenossenschaften (35,9 %) und/oder das Land im Rahmen des OEGs (16,2 %).

51,6% der PIAs, die derzeit keine traumaspezifischen Angebote machen, wünschen, dieses Arbeitsfeld zu etablieren. Als bisherige Hinderungsgründe wurde am häufigsten ein personeller bzw. finanzieller Ressourcenmangel angegeben.


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Diskussion

Die Frage nach der Repräsentativität der vorliegenden Ergebnisse kann nur m.E. beantwortet werden. Für eine angemessene Repräsentativität spricht die geografische Verteilung der beteiligten PIAs (Abb. [ 1 ]), andererseits liegen nur Daten von einem guten Drittel aller PIAs in Deutschland vor, wenn man deren Gesamtzahl mit 418 annimmt (BAG Psychiatrie, 2008)

Die Angaben zur Häufigkeit der PTBS als Haupt- und komorbide Störung stellen mit einem Median von 9,5% nach einschlägigen klinisch-epidemiologischen Studien wahrscheinlich ebenso eine Unterschätzung dar wie die Häufigkeit traumatischer Erfahrungen in der Vorgeschichte des PIA-Klientels (hier Median 20%). Allerdings handelte es sich tatsächlich um eine Schätzung der Verantwortlichen und keine Angaben auf der Grundlage der Dokumentation. Dieser Umstand dürfte auch einen Teil der Spannbreite der Angaben erklären. Folgt man der eher konservativen Schätzung dieser Umfrage, weisen annähernd 30–40% aller Patientinnen und Patienten in PIAs Traumatisierungen und/oder eine PTBS auf. Auch wenn die Ergebnisse zeigen, dass das Bewusstsein für diese Thematik mittlerweile recht flächendeckend in den PIAs besteht, sollten psychotraumatologische Themen aufgrund der Häufigkeit betroffener Patientinnen und Patienten deshalb weiter konsequent in die ärztliche Aus- undWeiterbildung integriert werden.

Über die Hälfte der PIAs setzen nach den Ergebnissen standardisierte Instrumente zur Diagnostik ein und knapp dreiviertel traumaspezifische Therapieverfahren, die von durchschnittlich etwas über 2 Therapeuten durchgeführt werden. Diese Zahl ist erheblich versorgungsrelevant. Wenn man diese Angaben auf die Gesamtzahl aller PIAs in Deutschland hochrechnet, bedeutet dies, dass bereits in knapp 220 PIAs eine entsprechende spezifische Zusatzdiagnostik und in ca. 305 PIAs traumaspezifische Therapieangebote in jeweils substanziellem Umfang geleistet werden. Selbst wenn diese Hochrechnung eine Überschätzung darstellt, kann man davon ausgehen, dass mit den PIAs in Deutschland bereits ein qualifiziertes psychotraumatologisches Hilfenetz existiert.

Hinzu kommt, dass PIAs aufgrund ihrer Struktur und Arbeitsweise grundsätzlich geeignet, kurzfristig und niedrigschwellig diagnostische und therapeutische Angebote für Betroffene zu machen. Mittel- und längerfristige (psychotherapeutische) Behandlungen können von den PIAs sicher nur in einem kleinen Teil der Fälle geleistet werden. Hier ist die Vernetzung mit und Überweisung zu niedergelassenen psychotraumatologisch qualifizierten Therapeuten gefragt.


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Prof. Dr. med. Martin Driessen
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel
Evangelisches Krankenhaus Bielefeld
Remterweg 69–71
33649 Bielefeld


 
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Abb. 1 Die Verteilung der teilnehmenden Psychiatrischen Institutsambulanzen. Die Größe der eingefügten Markierungen reflektiert die Anzahl der teilnehmenden Zentren (z. B. Berlin n=6).