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DOI: 10.1055/s-0032-1326706
Hans Dieter Matthiessen: "Besser vorher als nachher prüfen"
Publication History
Publication Date:
28 September 2012 (online)
? Laufen Eltern Gefahr, dass trotz rechtzeitiger Ultraschalluntersuchung ein Hüftgelenksschaden bei ihrem Kind unentdeckt bleibt?
Das ist leider so, ja. Ich bin gutachterlich bei der Kassenärztlichen Vereinigung tätig, was meinen Sie, was dort gelegentlich für ein Theater inszeniert wird. Kollegen, denen bei den Prüfungen womöglich die Zulassung entzogen wurde, haben ja die Möglichkeit, in Widerspruch zu gehen oder ein Beratungsgespräch zu führen. Manche kamen in der Vergangenheit immer wieder mit den gleichen Fragen und den gleichen Fehlern. Und mit Büchern von vor 25 Jahren!
? Die Qualitätssicherungsvereinbarung Säuglingshüfte nach § 135, Absatz 2 SGB V, alias Anlage V der Ultraschall-Vereinbarung ist seit April erneuert. Abgesehen davon, dass man beim Nachsprechen solch langer Titel leicht ermüdet: Wird die Novellierung die Qualität verbessern?
Ich hoffe ja. Zumindest sind jetzt viele Fehler der alten Vereinbarung ausgeräumt worden.
? Ein Beispiel?
Wir haben viele Jahre in der Praxis mit einer wissenschaftlich völlig unhaltbaren Vorschriftenlage kämpfen müssen. Standard ist bei uns ja die Sonographie der Säuglingshüfte nach Graf (Anm. Red. der österreichische Orthopäde Reinhard Graf ist Entwickler von Untersuchungsmethode und Algorithmus für die Früherkennung von Hüftgelenksschäden bei Säuglingen mittels Ultraschall). Wer sie macht, muss sie eben auch nach Graf machen und das heißt, immer auch z. B. zwei Winkel zu erfassen, den so genannten Alpha- und den Beta-Winkel, die den vorläufigen deskriptiven Befund mittels standardisierter Messtechnik absichern bzw. verifizieren.
? Genau so fordert es schon die 2005 aufgelegte "Überprüfung der ärztlichen Dokumentation bei der Säuglingshüfte (siehe auch links unter Weiter lesen in der Online-Version). Was ist jetzt neu?
Theoretisch war das schon vorgeschrieben, wurde aber in der Praxis oft unterlassen, vor allem weil diese Regelung mit den Kinder-Richtlinien konkurrierte.
? Welche die Untersuchung überhaupt erst flächendeckend seit 1996 einführten?
Korrekt. Sie wird seither als Hüftscreening im Rahmen der U3 vor allem von Kinderärzten gemacht. Und die Kinder-Richtlinien fordern im Dokumentationsbogen nur den Alpha-Winkel. Das ist wissenschaftlich unhaltbar.
? Und die Qualitätsvereinbarung nach der Ultraschall-Vereinbarung griff bislang nicht?
Nein, oft nicht. Weil die Bedingungen für die "präventive" Untersuchung von den Kinder-Richtlinien bestimmt werden, die ja auch extrabudgetär vergütet werden mit der Gebührenziffer 152 und 450 Punkten. Die "präventive" Untersuchung ist zeitlich auf die vierte und fünfte Woche nach der Geburt limitiert.
Findet die Untersuchung hingegen nur einen Tag früher oder später statt, ist das für das Abrechnungssystem ein "kurativer" Ultraschall mit Gebührenziffer 33 051, 325 Punkte. Mit Verweis auf die Kinder-Richtlinien haben besonders Pädiater daher immer wieder bei den Qualitätsprüfungen argumentiert, dass doch beim "präventiven" Ultraschall allein der Alpha-Winkel ausreicht und sie den Beta-Wert doch gar nicht brauchten.
? Wer blickt da durch?
Keiner. Das war eine total groteske Situation. Eine regelrechte Bürokratielawine auch in Diskussionen unserer Sonographiekommission in der KV Westfalen-Lippe wurde losgetreten.
? Zum Beispiel?
Da kamen Fragen wie: Darf bei der "präventiven" Untersuchung der Beta-Winkel überhaupt genannt werden? Wie ist es zu beurteilen, wenn er falsch angegeben wurde? Ist das dann zu werten oder darf das nicht bewertet werden? Das Ergebnis war in der Praxis allzu oft die Devise: In der vierten und fünften Woche ist der Beta-Winkel nicht erforderlich, vorher und hinterher hingegen schon. Motto: Präventiv wird ja aus einem anderen Topf bezahlt und zwar viel besser, ergo gelten auch andere Qualitätsanforderungen. Das war offiziell so.
Um eine Korrektur herbeizuführen, war es unbedingt notwendig, die Ultraschall-Vereinbarung bei der KBV zu korrigieren.
? Und?
2007 habe ich im Auftrag des BVOU und mit Unterstützung unserer KV Westfalen-Lippe eine Zusammenstellung mit den Widersprüchen in den verschiedenen Vorschriften und Verbesserungsvorschläge an die KBV geschickt, zumal bekannt war, dass dort eine Neufassung der Ultraschall-Vereinbarung in Arbeit war. Gehört habe ich erst mal gar nichts. Als dann die Neufassung der Vereinbarung 2009 veröffentlicht wurde, fand sich in der Anlage V nicht eine einzige textliche Richtigstellung!
Diese Zusammenhänge habe ich in den Orthopädie Mitteilungen und beim Kinder- und Jugendarzt veröffentlicht. Ins Rollen gebracht hat die Sache erst ein Vortrag von mir auf dem DKOU in Berlin 2010, bei dem ein Vertreter des GKV-Spitzenverbandes mich anschließend ansprach. Seither hat sich der GKV-Spitzenverband sehr für eine Verbesserung eingesetzt, das Ergebnis ist die Novellierung, die wir jetzt endlich haben.
? Und jetzt ist das Problem gelöst?
Es ist nicht perfekt, aber ich bin zuversichtlich, dass die Qualitätsprüfungen jetzt sinnvoll laufen werden. Die KBV hat eine "Fachgruppe Hüftsono" installiert, die kurz nach den Sommerferien ihre Arbeit beginnen wird. Die Beurteilungs- und Bewertungskriterien sollen erneut diskutiert werden, um vor allem eine einheitliche Prüfung in allen KVen garantieren zu können, was übrigens in der neuen Vereinbarung festgeschrieben ist.
? Am Widerspruch von Qualitätssicherungsvereinbarung und Kinder-Richtlinien hat sich bis heute vom Text her allerdings doch gar nichts geändert?
In der Tat, und in §6 der Qualitätssicherungsvereinbarung steht sogar immer noch ein Hinweis, dass die Dokumentation nach den Kinder-Richtlinien erfolgen soll. Das ist antiquiert, warum soll man auf etwas verweisen, was fehlerhaft ist? Ich wollte diesen Verweis gestrichen haben, konnte mich damit aber leider nicht durchsetzen.
Die Kinder-Richtlinien sind wiederum Sache des G-BA und damit eine andere Baustelle. Nebenbei: Der dafür zuständige Ausschuss des G-BA sitzt in Berlin im gleichen Gebäude wie die KBV. Insofern ist Satz 1 im §6 eher als Mitteilung an die Damen und Herren des G-BA zu verstehen, die jetzt endlich die Richtlinien der Vereinbarung anpassen müssen. Prinzipiell gilt jetzt aber: ob "präventiv" oder "kurativ" die neue Anlage V der Ultraschall-Vereinbarung muss von allen KVen umgesetzt werden.
? Vor Ort werden damit jetzt die Prüfungen durch die Qualitätssicherungskommissionen stimmiger?
Ja, denn es gibt jetzt ja auch neu immer eine Initialprüfung, bei der die ersten 12 abgerechneten Fälle geprüft werden. Besonders gut finde ich, dass der Prüfalgorithmus vollständig umgebaut wurde und die sture und kostenträchtige zweijährige Prüfung nach Konsentierung mit den Spitzenverbänden auf 5 Jahre erhöht werden konnte. Getreu dem Motto: wer das Fahrradfahren richtig gelernt hat, kann das auch noch nach zwei Jahren!
Außerdem wird jetzt ab einer bestimmten Zahl schwerer Mängel die Zulassung sofort entzogen – wer sie dann wieder will, muss erst eine Fortbildung nachweisen. Das ist neu, auch der Fortbildungsinhalt ist detailliert beschrieben. Früher konnte jemand durchfallen und nach drei oder sechs Monaten fing er automatisch wieder an. Theoretisch war es möglich, dass jemand Jahr um Jahr weiter gearbeitet hat, ohne die Methode wirklich zu beherrschen. Das wollten wir unterbinden und das haben wir jetzt mit dieser Regelung ganz gut hingekriegt.
? Welche Probleme bleiben?
Eines sehe ich weiterhin darin, dass die KVen nach wie vor unterschiedlich streng prüfen könnten. Auch das konnten wir ja 2007 erst überhaupt einmal unabhängig nachweisen.
? Wie das?
Die KBV bekam zwar schon seit 2005 die Daten zu den Prüfergebnissen aus allen KVen, wollte die aber um Gottes Willen erst gar nicht zeigen, schon gar nicht den Kassen geben. Das, was dann später veröffentlicht wurde, war überhaupt nicht brauchbar, da die Parameter nicht zusammen passten und der Kern des Übels nicht erkannt werden konnte.
Deshalb habe ich mit Hilfe der KVWL 2007 auch begonnen, eine Statistik zusammen zu stellen. Aus acht KVen haben wir die Zahlen bekommen. Sie waren frappierend unterschiedlich. Allein hier in NRW. Die KV Westfalen Lippe entzog 2007 43,7 % der Geprüften zur Säuglingshüfte die Zulassung für die Untersuchung, bei der KV Nordrhein waren es gerade mal 3,8 %. Da habe ich gesagt, wir leben doch in ein- und demselben Bundesland, diese Unterschiede können ja nicht alleine darin begründet liegen, dass im Rheinland ein besonders fröhlicher Menschenschlag lebt.
? Nein, die Rheinländer waren qualitativ einfach besser?
Natürlich (lacht), auch im Osten waren die Ergebnisse durch die Bank immer wesentlich besser als im Westen der Republik. Langer Rede, kurzer Sinn: Es wird bis heute massiv unterschiedlich überprüft in den einzelnen KVen. Für die Daten bekam ich eine Art Maulkorb. Ich durfte sie erst jetzt 2012 veröffentlichen.
? Heute ist die KBV Statistik differenzierter. Auch dort deuten sich Unterschiede je nach KV an (siehe den KBV-Qualitätsbericht 2011).
Ja, jede KV hat ihren eigenen Prüfstil. Erfreulicherweise, auch das sei gesagt, hat dann die ganze Situation ab 2010 doch dazu geführt, dass die KBV eingelenkt hat. Prof. Graf und ich konnten später als beratende Sachverständige bei der KBV vortragen. Am Ende haben GKV-Spitzenverband und KBV als Partner der Bundesmantelverträge an der Richtigstellung der alten Vereinbarung gearbeitet.
? In fünf Jahren sollte dann auch die Prüfstatistik überall viel bessere Ergebnisse bringen?
Dass sie durchschlagend besser sein werden, halte ich für unwahrscheinlich. Dafür brauchen wir eine andere Form der Weiterbildung und auch der Zulassung.
? Eine Begrenzung auf bestimmte Facharztgruppen?
Nein, eine Fachgruppenbegrenzung nur für Orthopäden, Kinderärzte und Radiologen besteht ja schon. Ich meine eine eigene Abrechnungszulassung. Wir haben ein Qualitätssicherungssystem der KBV, was mangelnde Qualität erst feststellen kann, nachdem die Kollegen bereits etliche Kinder in ihrer Praxis geschallt haben. Viel besser wäre es, wenn alle von vorneherein richtig schallen. Mit anderen Worten: Dass sie es gelernt haben.
? Tun sie doch, sie müssen ja unter anderem 200 Fälle nachweisen, die meisten Pädiater und auch Orthopäden leisten dies mit ihrer Weiterbildung.
Naja. Nehmen wir einfach mal die Zahlen aus unserer KV-Westfalen-Lippe, die bundesweit immer noch offenbar am schärfsten kontrolliert. Jetzt stellt sich die Frage, warum fallen so viele durch? Antwort: Weil sie es nicht können. Warum können sie es nicht? Weil nur an wenigen Kliniken eine strukturierte Ausbildung im Rahmen der Weiterbildung durchgeführt wird, bzw. mangels fehlender Kinder auch nicht möglich ist.
? Trotz der 200 absolvierten Fälle?
Zur Validität der Zahlenangaben in den Facharztzeugnissen habe ich meine Zweifel. Neulich war ich wieder bei einer Facharztprüfung für Kinderärzte dabei. Neun angehende Kinderärzte waren da und hatten alle exakt 200 Kinder bzw. 400 Hüftgelenke laut Zeugnis geschallt. Legt man dann Bildmaterial vor und fragt möglicherweise auch nach dem Hüfttyp, dann erfährt man häufig wenig. Mein Vorschlag: Die Säuglingssonographie sollten wir aus der Weiterbildung vollständig herausnehmen, weil viele Weiterbildungsstätten diese spezielle Weiterbildung offenbar nicht erfüllen können.
? Und stattdessen?
Eine eigene Prüfung für den Ultraschall der Säuglingshüfte vor der Ärztekammer. Das hat nur Vorteile. Derjenige, der die Untersuchung später durchführen möchte, muss sie wirklich strukturiert lernen, kann sie dafür dann richtig und hat zudem Freude daran. Wer hingegen sein ganzes Leben lang nie wieder Säuglingshüften schallt, wieso muss der damit in seiner Weiterbildung überhaupt traktiert werden?
? Ein Unfallchirurg nicht?
Zum Beispiel. Nehmen wir den "neuen" Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. In der Regel wird heute in den Facharztprüfungen kaum zur Säuglingshüfte geprüft – auch wenn es prinzipiell Prüfgegenstand ist. Und das spricht sich dann auch schnell unter den Prüflingen herum.
Neulich habe ich aber erlebt, dass ein Kandidat wider Erwarten doch einmal gefragt wurde und dann glatt durchfiel, weil er dazu überhaupt nichts wusste. Er hat sich dann beim Vorsitzenden beschwert, er wolle doch Unfallchirurg werden und hätte niemals mehr etwas mit der Säuglingshüfte zu tun. Und ich finde, er hat am Ende nicht so unrecht.
? Wenn ihr Vorschlag Schule macht, müssten Ärzte womöglich bald wieder für viele weitere Ultraschalluntersuchungen eigene Zusatzprüfungen ablegen?
Ja und? Das hatten wir doch schon. Bis 1988 mussten alle Kinderärzte und bis 1993 alle Orthopäden für die Abrechnungsfähigkeit bei der KV ein Kolloquium bestehen. Da konnte man die Spreu vom Weizen trennen. 1988 ist die Sonographieweiterbildung dann bei den Kinderärzten und Radiologen, 1993 auch bei den Orthopäden in die Facharztweiterbildung integriert worden. Das Ergebnis sehen wir in den miserablen Werten der Qualitätssicherung. Ich plädiere allein deshalb schon für die Rückkehr zur separaten Zulassungsprüfung. Obendrein müsste eben nicht jeder zur Facharztprüfung zugelassene Kollege dann die Sonographie der Säuglingshüfte nach Graf beherrschen und, ganz nebenbei, der Chefarzt würde nicht genötigt, ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen. Und manche Kollegen würde das auch noch vor den Enttäuschungen bei der Qualitätssicherung bewahren.
Das Interview führte: BE
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