Pro
Wiebke Martinsohn-Schittkowski
Noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts war die kollektivvertraglich organisierte
ambulante ärztliche Versorgung eine Fiktion, deren Verwirklichung im Jahr 1931 als
Sicherheitsnetz für die Patientenversorgung gefeiert wurde. Vorher ausschließlich
im Rahmen von Einzeldienstverträgen tätig, war nunmehr jeder Vertragsarzt berechtigt
und auch verpflichtet, die vertragsärztliche Versorgung zu gewährleisten.
Der diesbezüglich formulierte Sicherstellungsauftrag enthielt die „… bedarfsgerechte
und gleichmäßige ärztliche Versorgung unter Einschluss eines ausreichenden Notdienstes …“
der Versicherten und deren Angehörigen (Reichsversichertenverordnung, § 368 Abs. 3,
Stand 1988). Heute sind die Ziele der vertragsärztlichen Versorgung in vergleichbarem
Wortlaut in den verschiedenen Paragrafen des SGB V zu finden, so auch die Sicherstellung
(SGB V §§ 70, 75).
Damit bildet die Orientierung am Bedarf der Versicherten auch aktuell das zentrale
Element des deutschen Krankenversicherungssystems. Jedoch verfolgt die Gesundheitspolitik
neben diesen normativ begründeten Zielen auch wirtschaftliche Effizienzziele, die
sich zum Beispiel im Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V niederschlagen: „Die Leistungen
müssen ausreichend zweckmäßig und wirtschaftlich sein, …“ (SGB V § 12 Abs. 1).
Aus diesem Spannungsfeld erklären sich die mannigfaltigen Reformbestrebungen der letzten
Jahrzehnte, über mehr wettbewerbliche Steuerung und eine Anreizregulierung die Qualität
und die Wirtschaftlichkeit der deutschen Gesundheitsversorgung zu steigern ([1], S. 397).
Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass in beiden Bereichen noch unausgeschöpfte
Potenziale schlummern. Diese wurden über mehrere Jahre analysiert und im aktuellen
Sondergutachten des Sachverständigenrats [2] auf einen denkbar einfachen Nenner gebracht: Effizienz- und Effektivitätspotenziale
im Gesundheitswesen liegen einerseits dort, wo sich mit den eingesetzten Ressourcen
ein höherer Nutzen erreichen lässt oder aber dort, wo sich das erreichte Nutzenniveau
mit einem geringeren Ressourceneinsatz realisieren lässt.
In unserem Gesundheitswesen finden sich verschiedene denkbare Wettbewerbsfelder, die
sich hinsichtlich ihrer Vertragsebenen, -partner sowie -inhalte unterscheiden. Eines
davon ist das selektivvertragliche System. Es ist darüber definiert, dass Leistungserbringer miteinander um Verträge mit den
Krankenkassen konkurrieren können und sollen. Jenseits der kollektiven Vereinbarungen
werden die angebotenen Leistungen über den Preis oder die Qualität neu definiert.
Die rechtlichen Grundlagen für Selektivverträge sind im Sozialgesetzbuch V in den
§§ 73 b und 73 c fixiert.
Akteure dieser besonderen Form der ärztlichen Versorgung sind die Leistungserbringer
selbst, die mit der jeweiligen Kasse Verträge schließen können. Das Spektrum reicht
von einer medizinischen Behandlung spezifischer Indikationen bis hin zur Vollversorgung
des einzelnen Patienten, solange die allgemein üblichen Qualitätsanforderungen als
Mindestvoraussetzung eingehalten werden. Leistungen, die der GBA für die GKV abgelehnt
hat, dürfen auch in Selektivverträgen nicht vereinbart werden.
Das Wort Selektion bezieht sich also auf die Auswahl der besten Anbieter und deren
vertragliche Verpflichtung. Die Krankenkassen können über derartige Leistungsangebote
gezielt und spezifisch auf die Bedürfnisse ihrer Versichertenpopulation eingehen.
Sie können entweder ihre Ausgaben mit dem Fokus auf die Beitragsentwicklung niedrig
halten (Preiswettbewerb) oder anstreben, über eine verbesserte Versorgung die gesundheitlichen
Outcomes der Versicherten zu erhöhen (Qualitätswettbewerb).
Und auch die Patientinnen und Patienten haben einen unmittelbaren Einfluss auf das
Wettbewerbsgeschehen, indem sie bestimmte Programme und Angebote aktiv wählen. Beispielsweise
können sie gezielt Angebote nutzen, bei denen die Qualität am besten und/oder die
Komplikationsrate gering ist.
Die Schwerpunktsetzung auf die Qualität der Gesundheitsversorgung könnte sich aus
verschiedenen Gründen in Zukunft lohnen. Internationale Studien belegen, dass schon
allein die Messung der Qualität eine verbesserte Gesundheitsversorgung und damit auch
positive Effekte auf die gesundheitlichen Outcomes verspricht ([2], S. 47). Der systematische Vergleich erbrachter Leistungen ermöglicht eine Analyse
von Schwachstellen. Entsprechende Gegenmaßnahmen können ergriffen werden (Benchmark).
Die nachfolgende Berichterstattung gibt Patienten, Versicherten und Krankenkassen
Auskunft über die Resultate, aber auch allgemeine Informationen über die vorhandenen
Leistungsqualitäten. Insbesondere bei planbaren Eingriffen bietet sich eine wertvolle
Möglichkeit der Informationsbeschaffung. Durch die gezielte Wahl qualitativ ansprechender
Leistungen kann wiederum die Anstrengung der Leistungserbringer erhöht werden, ihr
Angebot kontinuierlich zu verbessern. Zur Erzeugung einer derartigen Qualitätstransparenz
eröffnen sich bislang ungenutzte Ressourcen.
Somit sollte die Entfaltung dieser Potenziale eigentlich nicht schwierig sein. Dennoch
herrschen aktuell immer noch die kollektiven Vereinbarungen zwischen den Verbänden
der Krankenkassen einerseits und den Verbänden der Vertragsärzte und der Krankenhäuser
andererseits vor. Wettbewerbliche Optionen bilden die Ausnahme ([2], S. 65).
Die Gründe wurden in der Vergangenheit mannigfaltig diskutiert. Bislang sei zwar eine
stärkere Konzentration der Krankenkassen auf den Preiswettbewerb zu beobachten, fand
der Sachverständigenrat heraus ([2], S. 31), was sich aber zumindest z. T. aus Defiziten im Bereich des Qualitätswettbewerbs
erklären lasse. Es fehle noch immer an den Grundlagen der Qualitätsmessung. So stehe
die Entwicklung zuverlässiger Indikatoren der Prozess- und Ergebnisqualität aus –
Werkzeuge, die zur Bewertung von Leistungen herangezogen werden.
Weil im Vergleich zu den Kollektivverträgen die Gestaltung der Vertragsinhalte um
ein Vielfaches freier ist, eröffnen sich mannigfaltige Möglichkeiten an Innovationen.
Das Wort „innovativ“ ist nicht inhaltlich belegt. Damit bieten sich unterschiedlichste
Gestaltungsmöglichkeiten. So etwa kann sich das Behandlungssetting im Rahmen eines
Hometreatment stationsersetzend in den häuslichen Bereich verlagern. Angebote, die
sich durch eine Qualität über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinaus auszeichnen,
können Grundlagen für die Verbesserung der allgemeinen Versorgung schaffen. Die Ergebnisse
einer begleitenden Evaluation sind als Ausgangspunkt für die Verbesserung der allgemeinen
Versorgungssituation geeignet.
Zusammenfassend sind Selektivverträge als wettbewerbliches Element in unserem ärztlichen
Versorgungssystem zu begrüßen. Mit Bedacht vereinbart können sie einen Ausgangspunkt
für eine optimierte Patientenversorgung bieten. Im günstigsten Fall profitieren auch
die Leistungserbringer durch eine gesicherte Auftragslage und die Krankenkassen durch
ein effizientes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Durch die Verpflichtung zu einer Begleitevaluation können Selektivverträge eine wertvolle
Quelle für die Beurteilung innovativer Behandlungsansätze sein.