Pro
Die jährliche Rate von gewalttätigen Angriffen gegenüber Ärzten, Therapeuten und Pflegepersonal
in psychiatrischen Kliniken ist mit 62 Vorkommnissen pro 1000 Beschäftigten im Jahr
hoch [1]. Bis in die 1970er-Jahre war es fester Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses,
dass solche Angriffe einen obligaten Bestandteil des therapeutischen Geschehens darstellen
und als solche von den Behandlern auch zu dulden sind. Während ähnlich gewalttätige
Handlungen außerhalb des klinischen Settings regelmäßig zu Strafanzeigen führten,
wäre es für die Therapeuten undenkbar gewesen, dass sie ihre Patienten für dieselben
Handlungen anzeigen würden, wenn diese sich während eines stationären Aufenthaltes
ereigneten.
Im Jahre 1978 wurde in der psychiatrischen Literatur erstmals von einer Strafanzeige
gegen einen gewalttätigen Patienten berichtet [2]. Seitdem wird die Thematik kontrovers diskutiert [3]. Der Zusammenhang zwischen einzelnen psychiatrischen Krankheiten (z. B. schizophrene
Psychosen, Substanzabhängigkeit) und einem erhöhten Risiko für gewalttätiges Verhalten
ist mittlerweile gut belegt [4]. Die derzeitige psychiatrische Versorgungspraxis mit einer immer kürzeren stationären
Verweildauer und einer zunehmenden Betonung der Patientenautonomie führt dazu, dass
Therapeuten in der psychiatrischen Klinik zunehmend auch mit gewalttätigem Verhalten
von Patienten konfrontiert sind und eine Strafanzeige als eine mögliche und adäquate
Reaktion diskutieren. Grundsätzlich gibt es aus Sicht der Autoren keinen Grund, von
einer Strafanzeige abzusehen, nur weil sich das gewalttätige Verhalten im Krankenhaus
ereignet hat. Bei dieser Pro-Position ist zu beachten, dass die Autoren keinesfalls
von einem Automatismus zur Strafanzeige ausgehen, sondern ein solches Vorgehen für
eher seltene und gut begründete Ausnahmefälle in Betracht ziehen, nachdem die relevanten
ethischen, medizinischen und rechtlichen Aspekte gründlich erörtert wurden.
Eine Strafanzeige ist grundsätzlich dann in Betracht zu ziehen, wenn ein stationär
behandelter Patient sich gegenüber dem Personal oder gegenüber Mitpatienten gewalttätig
verhalten hat und eine professionelle Risikoeinschätzung zu dem Ergebnis kommt, dass
von ihm eine weitere Gefahr ausgeht. Das Hauptmotiv für eine Strafanzeige in einem
solchen Fall gründet nicht in einem Vergeltungs- oder Bestrafungsbestreben, sondern
basiert auf dem Gedanken der Spezial- und Generalprävention, künftige Übergriffe durch
die Stärkung des Legalverhaltens der Patienten sowie des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit
der Rechtsordnung abzuwehren. Man mag einwenden, dass es mit der Rolle der Therapeuten
ethisch unvereinbar sei, einen Patienten anzuzeigen. Allerdings ist die psychiatrische
Therapie anders als andere medizinische Behandlungen häufig mit einem doppelten Mandat
versehen. Einerseits besteht der Auftrag, dem psychisch kranken Patienten zu helfen,
andererseits sind immer auch Aspekte einer krankheitsbedingten Fremdgefährdung zu
beachten, für deren Abwehr mit den jeweiligen Landesunterbringungsgesetzen auch ein
rechtlicher Handlungsrahmen und eine Handlungsverantwortlichkeit zur Verfügung steht.
Das Allgemeine Strafrecht bietet und gebietet gerade vor dem Hintergrund der Gleichheit
vor dem Gesetz auch für den besonderen Bereich der stationären Behandlung den Rückgriff
auf die allgemeingültigen Grundsätze, um die Grenze zwischen strafbarem und straffreiem
Verhalten zu ermitteln. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass stationär behandelte
Patienten für gewalttätiges Verhalten automatisch unzurechnungsfähig sind. Hier kommt
es auf eine sorgfältige Einzelfallprüfung an und selbst bei psychotisch erkrankten
Patienten können antisoziale Einstellungen und Motive im Vordergrund stehen.
In begründeten Einzelfällen kann es über den Weg einer Strafanzeige auch zu einer
Verlegung eines Patienten in eine forensische Klinik kommen, wenn dessen Schuldfähigkeit
krankheitsbedingt erheblich beeinträchtigt ist. Möglich ist in einem solchen Fall
auch, dass eine Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet, aber zur Bewährung ausgesetzt
wird, was eine kontinuierliche Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie unter Umständen
erst ermöglicht. So gesehen kann eine Strafanzeige durchaus auch im Sinne des Patienten
sein, da auf diesem Weg unter Umständen eine erfolgreiche Behandlung eingeleitet werden
kann und der Patient durch eine Therapie von weiteren krankheitsbedingten Straftaten
abgehalten wird. Es geht dabei nicht darum, unliebsame Patienten in die Forensische
Psychiatrie abzuschieben. Selbstverständlich sollen krankheitsbedingt fremdaggressive
Patienten vorrangig in der Allgemeinpsychiatrie behandelt werden. In begründeten Einzelfällen
ist eine Strafanzeige aber nicht nur rechtlich geboten und ethisch vertretbar, sondern
auch im wohlverstandenen Interesse des betroffenen Patienten, der Mitpatienten und
des Behandlungsteams.
Ein weiterer Einwand könnte darin gesehen werden, dass durch eine Strafanzeige die
Schweigepflicht gebrochen wird. Allerdings gibt es eine Vielzahl anderer Konstellationen,
in denen die Schweigepflicht gegen andere Rechte abgewogen werden muss, insbesondere
wenn es um den Schutz Dritter geht. Für eine Strafanzeige ist es auch nicht notwendig,
Einzelheiten aus der Therapie zu berichten, es ist völlig ausreichend, den Vorfall
und die Person zu benennen, sodass bereits der objektive Tatbestand eines möglichen
Verstoßes gegen § 203 StGB ausscheidet. Sofern man als Behandler Kenntnis von geplanten
schweren Straftaten erhält (z. B. Mord, Totschlag) besteht im Rahmen des § 138 StGB
sogar eine rechtliche Pflicht zur Durchbrechung der Schweigepflicht.
Es gibt bisher für die dargestellte Problematik kein standardisiertes und allgemein
akzeptiertes Vorgehen und es mangelt auch an empirischer Forschung zu dem Thema [5]. Dies führt auch zu einer gewissen Rechtsunsicherheit und im Zweifel macht man dann
lieber gar nichts. Man will seine therapeutische Rolle und den Ruf der Klinik nicht
beschädigen und möglichen rechtlichen Konsequenzen aus dem Weg gehen. Auf der Basis des derzeitigen Kenntnisstandes [6] stellen die folgenden Kriterien eine sinnvolle Entscheidungsgrundlage dar:
-
Strafanzeigen gegen psychisch kranke, stationär behandelte Patienten sind seltenen
Ausnahmefällen vorbehalten.
-
Es sollte eindeutig definierte Prozeduren geben, in die der Klinik- und Verwaltungsdirektor
der Klinik einbezogen sind.
-
Ein Kollege mit forensisch-psychiatrischer Expertise sollte zur Risikoeinschätzung
konsultiert werden.
Eine Strafanzeige kommt aus Sicht der Autoren insbesondere dann in Betracht, wenn
-
ein Patient ein erheblich gewalttätiges oder wiederholt gewalttätiges Verhalten gezeigt
hat
-
eine Gewalteskalation zu prognostizieren ist
-
es zu sexuellen Übergriffen gekommen ist
-
klinische Interventionsmöglichkeiten (z. B. Medikation, Isolierung etc.) ausgeschöpft
sind
-
davon auszugehen ist, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung von der
Staatsanwaltschaft bejaht wird.
Den rechtlichen Rahmen formt § 158 I StPO: Demnach kann Jedermann eine Straftat zur
Anzeige bringen, unabhängig davon, ob er selbst Verletzter ist [7]. Dies berechtigt sowohl das Krankenhauspersonal, aber vor allem auch die juristische
Person des Krankenhauses selbst, den strafrechtlich relevanten Sachverhalt zur Anzeige
zu bringen. Insbesondere letzteres ist empfehlenswert, da hierdurch sowohl das Behandlungsverhältnis
geschützt als auch die persönliche Belastung des Krankenhauspersonals verringert werden
kann.
Davon abzugrenzen ist der Strafantrag, den lediglich so genannte Antragsdelikte i. S.
der §§ 77 – 77 d StGB erfordern. Relevant ist besonders § 230 StGB, der den Antragsdeliktscharakter
von Körperverletzungen normiert. Hier muss der Verletzte selbst einen Strafantrag
stellen, sonst sind die Prozessvoraussetzungen eines Strafverfahrens nicht erfüllt
und die Tat wird nicht verfolgt.