Das Motto des diesjährigen, 130. Chirurgenkongresses „Chirurgie mit Leidenschaft und
Augenmaß“ umschreibt Eigenschaften, die den Chirurgen in seinem täglichen Wirken für
den Patienten auszeichnen. Auf der einen Seite der volle Einsatz für den Hilfe
suchenden Patienten, der ihm voll vertrauen muss und auf ihn angewiesen ist. Auf der
anderen Seite die rationale sowie moralische Rückbesinnung auf das im Einzelfall
Sinnvolle und Machbare. Vielleicht ist die tägliche Entscheidungsfindung in diesem
Spannungsfeld, vielleicht mehr noch, diesem Grundkonflikt des menschlichen Lebens,
vor allem des Zusammenlebens, der wesentliche Faktor für Anziehungskraft und Ansehen
der Chirurgie als Königsdisziplin der Medizin auch in der heutigen Gesellschaft.
Im Rahmen der Thementage setzt die Patientensicherheit und Qualitätssicherung in
Zusammenhang mit Leitlinien und individualisierter Chirurgie ganz bewusst den
Schlusspunkt der Tagung. Der Kongress insgesamt weist mit den weiteren Themen der
alternden Gesellschaft, Arbeitsplatzgestaltung und Innovation bis hin zu
Patientensicherheit und Qualitätssicherung einen Spannungsbogen auf, wie er sich uns
berufspolitisch und im Einzelfall stellt. Da für den älteren Menschen Gesundheit
immer mehr zu einem zentralen, im wahrsten Sinne überlebenswichtigen Thema wird,
gewinnt der Sicherheitsanspruch gegenüber der Risikobereitschaft der jüngeren
Generation immer mehr an Gewicht. Dieser Grundkonflikt zwischen Risikobereitschaft
und Sicherheitsbedürfnis stellt sich bei vielen Indikationsstellungen. Auch
intraoperativ oder im Notfall muss der Chirurg oft akut, unter Druck Entscheidungen
fällen, dennoch aber mit Augenmaß, d. h. verantwortungsbewusst unter Einbeziehung
der Sicht des Patienten und seiner Wünsche. Eine große Gefahr ist hierbei die
Entwicklung hin zur Defensivmedizin, um vor dem Hintergrund politisch falscher
Heilsversprechungen und überhöhter Erwartungen an Ergebnisqualität bei
gleichzeitiger medikolegaler Verschärfung den potenziellen Bestrafungen bei
Nichteintreten des Erfolgsfalles zu entgehen.
Eine einfache und naheliegende Konsequenz aus dieser Konfliktsituation und den
Anforderungen an die Chirurgie ist folgerichtig die weitest mögliche Absicherung der
Ergebnisqualität mittels Standardisierung optimierter Prozesse,
Qualitätssicherungsmaßnahmen und Spezialisierung mit Zentrenbildung ähnlich wie in
der produzierenden Industrie. Das Ganze wird durch eine Zertifizierung nach innen
und außen sichtbar, transparent gemacht, um womöglich dem Patienten bei seiner
Entscheidung für eine Behandlung die Wahl zu erleichtern. Die Gefahr dabei ist,
einer Idealvorstellung von einer heilen Welt mit eindimensionalen Kausalitäten zu
erliegen, die letztlich auch eine De-Professionalisierung unseres freien
Berufsstands fördert.
Nach wie vor kommen die meisten Patienten auf persönliche Empfehlung zu uns und
entscheiden aufgrund unseres persönlichen Rates, basierend auf quasi der „goldenen
Regel“, Entscheidungen und Vorgehensweise so zu gestalten, als ob es einen selbst
beträfe. Die Begeisterung für die Chirurgie gründet für mich in dieser Frage und der
Verantwortungsübernahme für den Nächsten in Kombination mit dem handwerklichen Tun,
entsprechend dem Dreiklang: „Hirn, Herz und Hand“. Dennoch müssen wir uns auch den
Herausforderungen der Zentrenbildung und Zertifizierung stellen, wie sie in diesem
Themenheft des Zentralblatts behandelt werden, und kritisch prüfen, ob der Weg
richtig ist oder welche Fehlentwicklungen drohen und welche Anpassungen notwendig
und politisch zu vertreten sind.
Die Zahl der Zertifizierungen, an der sich eine große Klinik mit den Fachgebieten
Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie beteiligen kann, ist schier unbegrenzt. Durch
den Nationalen Krebsplan werden wohl die Zertifizierungen der Deutschen
Krebsgesellschaft durch die Fa. Onkozert zu einem festen Pflichtbestandteil werden
und sich bundesweit auch mithilfe politischer Vorgaben durchsetzen. Vor diesem
Hintergrund ist es leicht verständlich, dass hier auch noch weitere „Module“ wie das
Pankreasmodul entwickelt werden. Allein jetzt zählt die Homepage (www.onkozert.de) 6
Zentren und 3 Module auf, an der z. B. unsere Klink der Maximalversorgung an einer
Universität 7-fach beteiligt ist. Dies bedeutet sieben mal Mitwirkung bei Handbuch,
Audit, Dokumentationspflichten, Tumorboards und Rezertifizierung. Aber auch sieben
mal finanzielle Belastung und Ausgaben, die irgendwo abgespart werden müssen. Eine
Tatsache, die uns von der Vielzahl der möglichen Zertifizierungen zwangsweise
abhält.
Die chirurgischen Fachgesellschaften haben mit dem Ziel der Qualitätssicherung und
Transparenz für den Patienten und Kostenträger ebenfalls ein umfangreiches
Zertifizierungsprogramm aufgelegt, das zu strukturellen Veränderungen der
Krankenhauslandschaft führt, wie am Beispiel der Versorgung von
Bauchaortenaneurysmen oder im Bereich der Traumazentren am deutlichsten erkennbar
wird. Hier stehen sicherlich patientenzentrierte Qualitätsanforderungen im Fokus,
die dann jedoch personelle Veränderungen mit Ausbau eines Schwerpunktes oder auch
Schließung eines Angebotes zur Folge haben können.
Die Servicegesellschaft der DGAV zertifiziert neun Zentren (siehe
www.dgav.de/savc/zertifizierungen) mit unterschiedlichen Kompetenzebenen. Hierbei
standen die Erfahrungen in der Endoskopie und Sonografie, am Anfang unter Einbindung
von Strukturgesichtspunkten, im Vordergrund. Leitungsfunktion und Kompetenz, Weiter-
und Fortbildung, Zugriff auf Räume, Medizintechnik und Personal sollten neben einer
Absicherung der Prozess- und Ergebnisqualität auch das Überleben der Spezialität
innerhalb der Chirurgie, aber auch gegenüber anderen Fachdisziplinen unterstützen.
Inzwischen ist vermeintlich die Ergebnisqualität aus der Sicht des Patienten mehr in
den Vordergrund gerückt. Die kritischen Fragen zu Mindestzahlen der Eingriffe und
Wahl, Zuverlässigkeit sowie Grenzwerten der Qualitätsparameter müssen jedoch weiter
gestellt und beantwortet werden.
Freys und Mitarbeiter stellen in diesem Heft die Zentrenbildung in der Viszeral- und
Allgemeinchirurgie kritisch dar. Sie fordern zum einen eine Vereinheitlichung der
Qualitätsindikatoren, die ehrliche Trennung von Marketing und Grundversorgung und
die Erhaltung der Kernkompetenz einer Klinik, die nicht durch Zentren und
Zertifizierung leiden darf. Ein Aspekt, der das ursprüngliche Ansinnen
Kompetenzstärkung auf den Kopf stellen würde zugunsten einer
„Schmalspur-Spezialität“. Möbius und Schuhmacher sehen die Zentrenbildung als
Katalysator der Kommunikation in der Krebsmedizin bei den Maximalversorgern aufgrund
ihrer Medline-Recherche. Hier muss man sich im Umkehrschluss fragen, ob es offenbar
Kommunikationsdefizite gibt, die anders nicht zu beheben sind. Dies scheint mir
ungesichert oder zumindest sollte dies durch Daten und Fakten belegt werden. Klar
ist, dass eine Zertifizierung nach DIN oder anderen Kriterien das früher übliche
Kommunikationsverhalten, geprägt durch persönlichen Einsatz von Führungspersonen und
Schule, zu standardisieren hilft, ohne die Führungskultur und das Verhalten jedes
Mitarbeiters in seiner Bedeutung zu ersetzen. Die o. g. Punkte werden am Beispiel
der Darmkrebszentren in den Arbeiten von Klaue und Sahm et al. dargestellt, wobei
die Einschätzung letztlich von einem „Garanten der kontinuierlichen Weiterbildung“
bis hin zur „Infragestellung der Qualitätsverbesserung“ reicht. Es liegt offenbar
wie so oft und bei vielen Dingen nicht an der Struktur und Methode, sondern an den
handelnden Personen, ihrem Verantwortungsbewusstsein und der jeweiligen
Führungskultur, ob das Ziel „Qualitätsweiterentwicklung und Patientensicherheit“
erreicht wird. Das bedeutet jedoch auch immer, die Bereitschaft zu zeigen, sich
selbst und seine Ergebnisse kritisch zu prüfen und zu hinterfragen, um mit oder ohne
Zertifizierung den geforderten Ansprüchen gerecht zu werden. Wenn dies akzeptiert
wird, muss der Ressourceneinsatz einer Zertifizierung in vielfacher Sicht infrage
gestellt werden. Auch die Zertifizierer müssen sich fragen lassen, ob ihr
Mittelverbrauch, gespeist aus dem Topf der Sozialversicherungsbeiträge, effizient
eingesetzt ist oder Fehlallokationen mit im Spiel sind.
Zwei Arbeiten in diesem Heft beleuchten schließlich die Etablierung eines MVZ (Krüll,
Rudolph). Beide Arbeiten belegen, dass sektorenübergreifende Behandlungswege mit dem
Instrument eines MVZ aus Sicht der Klinik und Patientenbehandlung effizient und
kostengünstig gestaltet werden können. Die Entwicklung der MVZ bundesweit, aber auch
Vorteile sowie Nachteile und Gefahren einer MVZ-Gründung sind gut verständlich
dargestellt und wir Chirurgen sollten dieses Feld nicht den Geschäftsführungen und
anderen Disziplinen wegen falscher Orientierung auf unsere Kernkompetenz – „OP“ –
überlassen.
Ich hoffe, dieses Themenheft stimuliert Sie zur Auseinandersetzung mit den
Herausforderungen unseres Versorgungssystems und Sie bringen Ihre Leidenschaft für
die Chirurgie zugunsten der Patientenversorgung, der Kliniken und ihrer Mitarbeiter
sowie der Fachgesellschaft ein. Der kommende Chirurgenkongress wird diese Themen wie
auch andere spannende Fragen unseres Berufsstandes umfassend beleuchten und zur
Diskussion stellen und ist somit die ideale Gelegenheit, sich darüber
auszutauschen.
Karl-Walter Jauch