Menschen mit Autismus berichten seit Jahrzehnten über ihre Probleme im Bereich der
Wahrnehmungsverarbeitung [1-4]. Ihre Erfahrungen zeigen, wie Hyperreaktivität auf
alltägliche sensorische Informationen das Leben in der Schule, bei der Arbeit, im
sozialen Zusammenleben und zu Hause beeinträchtigt. Auch die Selbstversorgung kann
so zu wiederkehrenden traumatischen Situationen führen. Die Betroffenen schildern
sensorische Missempfindungen, insbesondere bei Geräuschen, Berührung, Geruch oder
Geschmack. Diese nehmen sie über das Kindesalter hinaus bis ins höhere Alter als extrem
einschränkend und belastend wahr. Ihr Alltag birgt somit unüberwindbare Hindernisse.
In diesem Fall sind sie auf Schutzmaßnahmen wie eine reizarme Umgebung oder eine angemessene
Arbeitsplatzgestaltung angewiesen [5].
Autismus betrifft die ganze Familie
Autismus betrifft die ganze Familie
Die Wahrnehmungsver-arbeitungsstörung eines autistischen Kindes beeinflusst den Alltag
aller Familienmitglieder, zum Beispiel bei Mahlzeiten, Ausflügen oder Familienfeiern
[7, 8]. Denn: Das Verhalten des Kindes kann so schwierig und unvorhersehbar sein,
dass dem Rest der Familie nichts anderes übrig bleibt, als sich umzustrukturieren
[9]. Viele autistische Kinder sind gerade in der Öffentlichkeit derart reizüberflutet,
dass die Eltern den Weg zum Kindergarten oder zur Schule nur mit dem Auto bewältigen.
Öffentliche Verkehrsmittel oder Fußwege entlang einer Straße können sie wegen häufig
und plötzlich auftauchender Geräusche nicht nutzen.
In einer qualitativen Studie von 2008 werteten die Forscher Bio-grafien und Interviews
autistischer Menschen aus [10]. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Betroffene ihre Probleme
und Defizite in sozialen Beziehungen, Kommunikation, repetitiven Verhaltensweisen
und eingeschränkten Interessengebieten vor allem in ihrer atypischen Wahrnehmungsverarbeitung
begründet sehen. Eine Metaanalyse von 14 quantitativen Studien, ebenfalls aus dem
Jahr 2008, zeigt zudem deutlich, dass Kinder mit dieser Diagnose mehr Probleme in
der sensorischen Modulation haben als alle Vergleichsgruppen mit unauffällig entwickelten
bzw. entwicklungsverzögerten Kindern ohne Autismus [11]. Untersuchungen belegen weiterhin,
dass es bestimmte Untergruppen autistischer Menschen bezüglich der Wahrnehmungsverarbeitung
gibt: Eine Gruppe zeigt eher untypische Reaktionen auf Geruch und Geschmack, was zu
enormen Einschränkungen im Essverhalten führen kann [12, 13]. Die andere Gruppe reagiert
bei auditiven und taktilen Reizen deutlich über und lehnt ontakt ab, zum Beispiel
das Kuscheln mit den Eltern [14]. Sie möchte nicht oder nur in ganz spezifischer Weise
berührt werden.
„Sich morgens anzukleiden, gestaltet sich oft diffizil. Je nach Tagesform schmerzen
manche Stoffe, Pfeile jagen durch meine Wirbelkörper. Panik erfasst mich, ich lege
das Kleidungsstück ab.“
Cassandra, Erwachsene mit Autismus [6]
Der Alltag und das Wohlbefinden leidet
Der Alltag und das Wohlbefinden leidet
Bei 80 bis 90 Prozent der Menschen mit Autismus treten sensorische Modulationsstörungen
auf [15]. Ihr hierdurch eingeschränktes Repertoire an angemessenen Verhaltensweisen
und Reaktionen führt insbesondere im Umgang mit anderen Menschen zu Schwierigkeiten.
Ebenso belasten sie emotionale und psychische Auswirkungen wie Ängstlichkeit und Depressionen
[13, 16]. Die andauernden sensorischen Überforderungen ängstigen die Kinder häufig:
Die Umwelt ist zu laut, zu grell und zu irritierend. Manche von ihnen reagieren mit
depressivem Rückzug in lethargisches, passives Verhalten. Auditive Filterschwierigkeiten
tragen häufig dazu bei, dass sich die Kinder nur schwer auf die Lernaktivitäten im
Klassenraum konzentrieren können [14].
Diese schwerwiegenden Auswirkungen haben dazu geführt, dass die sensorischen Symptome
als ein Diagnosekriterium des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(DSM-V) der Amerikanischen Gesellschaft der Psychiater aufgenommen werden. Mit der
Veröffentlichung in den USA im Mai 2013 erhält auch der sensorisch-integrative Bezugsrahmen
(SI) in der Therapie für Menschen mit Autismus einen wichtigen Stellenwert. Daher
wäre es wünschenswert, dass Ergotherapeuten mit einer zertifizierten SIeiterbildung
und Erfahrungen in klientenzentrierter Befunderhebung und Behandlung bei Menschen
mit Autismus als Spezialisten einen Teil zur fachärztlichen Erstellung der Diagnose
beitragen.
Studien kritisch hinterfragen
Studien kritisch hinterfragen
Wissenschaftler, die sich in Effektivitätsstudien dem sensorisch-integrativen Bezugsrahmen
in der Ergotherapie widmeten, stellten Kernbestandteile des Behandlungsansatzes teilweise
verfälscht dar oder setzten sie nicht korrekt um. Sie wandten beispielsweise passive
sensorische Stimulation an oder nutzten Räume mit SI-Geräten, jedoch keine Interaktion
zwischen Kind und Therapeutin [17, 18]. Das Therapeutenverhalten und die aktive Teilnahme
des Kindes in einem kindzentrierten Spiel sind jedoch essenzielle Bestandteile der
sensorisch-integrativen Behandlung. Unter Berücksichtigung der SI-Kernprinzipien gibt
es derzeit acht Wirksamkeitsstudien zu Ergotherapie bei autistischen Kindern. Die
Arbeiten sind von unterschiedlicher Qualität, die aktuellste ist eine rando-misierte
kontrollierte Studie [19]. Alle Untersuchungen belegen positive Veränderungen durch
die sensorisch-integrative Behandlung. Zudem zeigte die Sensorische Integrationstherapie
signifikant bessere Effekte im Vergleich zu Gruppen, die keine Therapie bzw. eine
alternative Intervention erhielten.
Umfeld - und Alltagsmanagement als wichtiger Therapiebaustein
Umfeld - und Alltagsmanagement als wichtiger Therapiebaustein
Einige Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen zeigen sich konstant in bestimmten Situationen
und Umgebungen, andere treten vorrangig in besonderen Kontexten oder Aktivitäten auf
[20-22]. So unterscheidet sich beispielsweise das Geräuschniveau in einer Familie
mit einem Einzelkind gravierend vom Lärmpegel in einer Grundschule. Dies kann dazu
führen, dass Kinder mit einer auditiven Hyperreaktivität andere Verhaltensweisen in
ihrer häuslichen Umgebung zeigen als in der Klasse und trotz guter kognitiver Fähigkeiten
bei schulischen Leistungen versagen [21,23]. Die Beratung ist daher ein wichtiger
Bestandteil der Ergotherapie und des langfristigen Umfeld- und Alltagsmanagements
[24, 25]. Dabei zeigt die Therapeutin den Eltern zunächst die Verhaltensauffälligkeiten
ihres Kindes im Zusammenhang mit dessen individueller Reizverarbeitung auf. Häufig
ist es bei Behandlungsbeginn wichtig, irritierende Sinnesreize zu reduzieren. Für
problematische Alltagsabläufe beim Zubettgehen oder beim Essen erarbeitet die Therapeutin
gemeinsam mit dem Kind und den Eltern wirkungsvolle Rituale und Strategien, die auf
sensorisch-integrativen Prinzipien basieren: zum Beispiel eine schwere Bettdecke oder
Speisen mit eindeutiger Konsistenz und offenkundigem Geschmack.
„Ich bin jemand, der selten eine Umarmung braucht bzw. sie genießen kann. Am besten
ist es, wenn sie ziemlich kurz erfolgt und relativ fest ist.“
Carsten, Erwachsener mit Asperger-Syndrom [6]
In der Behandlung kann die Therapeutin mit Bildergeschichten arbeiten, die von sozialen
Situationen mit körperlicher Nähe oder Berührung erzählen [26, 27]. Hier bieten sich
Themen wie „sich in einer Reihe anstellen“ oder „einen Mitschüler bei der Hand nehmen“
an. Die Therapeutin erklärt dem Kind den Hintergrund und die sozialen Regeln dieser
Situationen. Daraufhin zeigt sie ihm Strategien, die solche Situationen ertragbarer
oder einfacher machen, zum Beispiel das andere Kind am Handgelenk und über dem Pullover
anfassen oder sich als Letzter in einer Schlange anstellen. Dadurch lernt das Kind,
Situationen und soziale Erwartungen von angebrachtem/akzeptablem Verhalten zu verstehen
(„Fallbeispiel“).
SI bei Kindern mit Autismus vielversprechend
SI bei Kindern mit Autismus vielversprechend
Der sensorischintegrative Bezugsrahmen ist nach derzeitigem Forschungsstand vielversprechend
für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung, welche sensorische Modulationsstörungen
aufweisen und dadurch Betätigungsschwierigkeiten im Alltag haben [12, 15, 28]. Durch
die Sensorische Integrationstherapie nehmen die Kinder taktile Sinnesreize als weniger
unangenehm wahr, ertragen auditive Sinnesreize besser und ignorieren Alltagsgerüche
leichter. Viele zeigen nach der Behandlung ein der jeweiligen Situation angemesseneres
Erregungsniveau mit weniger Panik oder Angstreaktionen. Das erleichtert die Abläufe
der Selbstversorgung deutlich. Autismustypische Verhaltensweisen gehen zurück, was
zu besseren Aufmerksamkeitsleistungen gegenüber Anforderungen führt, die an die Kinder
gestellt werden. Auch die Bereitschaft, mit anderen Menschen zu interagieren, wächst.
Durch das verbesserte Arbeitsverhalten und teilweise auch durch die reduzierte taktile
Hyperreaktivität können sich feinmotorische Fähigkeiten entwickeln, was zu einem geschickteren
Gebrauch von Alltagswerkzeugen wie Zahnbürsten oder Besteck führen kann („Fallbeispiel“).
„Manchmal würde ich auch gerne mehr essen, aber ich bin sehr sensibel im Mundbereich
und auch im Geschmack, sodass mir schlecht wird, wenn ich etwas esse, was nicht gut
schmeckt.“
Simon, Erwachsener mit hochfunktionalem Autismus [6]
SI bekommt wichtigen Stellenwert
SI bekommt wichtigen Stellenwert
Für Kinder mit Autismus und Problemen in der sensorischen Modulation sollte der Zugang
zu einer ergotherapeutischen Behandlung mit sensorisch-integra-tivem Bezugsrahmen
inklusive Eltern- und Umfeldberatung in jedem Fall gewährleistet sein. Entsprechend
den Prinzipien der evidenzbasierten Praxis nimmt die Beratung sowohl im häuslichen
als auch im schulischen Umfeld einen wichtigen Stellenwert ein. Durch die Kompetenzerweiterung
der Bezugspersonen lassen sich sowohl Umwelt und Aktivitäten an die sensorischen Bedürfnisse
des Betroffenen anpassen als auch Selbstregulationsstrategien in den Alltag effektiv
übertragen.
Die Betätigungsanalysen während problematischer Aktivitäten gewährleistet eine detaillierte
Befunderhebung. Darüber hinaus trägt das „Sensory Profile“ oder das „Sensory Processing
Measure“ dazu bei, die komplexe Wechselwirkung zwischen sensorischen Faktoren, die
zu den Betätigungsproblemen beitragen, zu verstehen [30, 31 ]. Daraus entwickelt die
Ergotherapeutin dann gemeinsam mit dem Kind und den Bezugspersonen konkret überprüfbare
Betätigungsziele, zum Beispiel nach dem SMART-Prinzip oder der Goal Attainment Scale
(GAS) [29]. Auf diese Weise kann sie durch die Therapie das Familienleben erleichtern,
Lernen verbessern und die Eingliederung in das Arbeitsleben unterstützen [32]. Zudem
reduziert sich der individuelle Leidensdruck bei den Betroffenen enorm, die Lebensqualität
und das Wohlbefinden steigen.
Julia, 4 Jahre alt, mit Autismus
Julia empfindet Berührung als sehr unangenehm. Viele Kleidungsstücke kratzen, sie
isst nurJoghurt und versucht, soziale Situationen zu vermeiden, in denen andere ihr
sehr nahe kommen. Die Vierjährige ist überaus ängstlich und ihr genereller Wachheitsgrad
sehr hoch. Sie schläft wenig, alltägliche Aktivitäten wie Waschen und Zähneputzen
können nur gegen ihren Willen von den Eltern durchgeführt werden.
In der ergotherapeutischen Einzeltherapie lag zunächst der Schwerpunkt darauf, den
allgemeinen Wachheitsgrad zu senken. Dazu nutzte die Therapeutin Spielaktivitäten
mit sehr intensiven propriozeptiven Reizen: am Trapez baumeln, schwere Säckchen ziehen
oder Tauziehen. Außerdem achtete sie auf taktilen tiefen Druck, zum Beispiel mithilfe
der „Quetschmaschine“ untereinergroßen Matratze. Nach und nach baute sie ohne Zwang
taktile Reize wie die Puppe baden in den Spielfluss ein. Nach 6 Wochen machten sich
erste positive Verhaltensänderungen im Alltag bemerkbar: Es gab weniger Tränen bei
der Körperpflege. Nach 4 Monaten ertrug Julia Berührungen leichter, und nach 6 Monaten
konnte die Mutter langsam das Ernährungsrepertoire erweitern und kindertypische Speisen
mit unterschiedlichen Konsistenzen anbieten.