Psychiatr Prax 2013; 40(02): 59-61
DOI: 10.1055/s-0032-1332906
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychiatrie – endlich entstigmatisiert?

Einstellungen der Öffentlichkeit zur psychiatrischen Versorgung 1990 – 2011Psychiatry – Finally De-Stigmatized?Attitudes of the Public Towards Mental Health Care 1990 – 2011
Georg Schomerus
1   Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Greifswald
2   HELIOS Hanseklinikum Stralsund
,
Matthias C. Angermeyer
3   Dipartemento di Sanità Pubblica, Università degli Studi di Cagliari, Italien
4   Center for Public Mental Health, Gösing am Wagram, Österreich
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

PD Dr. Georg Schomerus
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Greifswald im HELIOS Hanseklinikum Stralsund
Rostocker Chaussee 70
17437 Stralsund

Publication History

Publication Date:
04 March 2013 (online)

 

Die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gehört zu den großen, ungelösten Problemen der Psychiatrie. In letzter Zeit ist jedoch noch ein zweites, scheinbar verwandtes Thema in den Fokus gerückt: Die Stigmatisierung der Psychiatrie [1], die z. B. für den Nachwuchsmangel in diesem klinischen Fach verantwortlich gemacht wird [2]. In der Tat hatte die psychiatrische Versorgung in der Zeit vor der Psychiatriereform zu Recht einen schlechten Ruf [3]: Der Bericht der Psychiatrieenquete von 1975 beklagt die Konzentration der stationären Versorgung in großen, baulich veralteten, personell schlecht ausgestatteten Fachkrankenhäusern, in denen fast 60 % der Patienten länger als 2 Jahre behandelt wurden.

Die ambulante und komplementäre Versorgung psychisch Kranker wies beträchtliche Lücken auf [4].

Seitdem hat sich die psychiatrische Versorgung erheblich verändert – Stefan Priebe macht auf diesem Gebiet sogar den entscheidenden Fortschritt der Psychiatrie in den letzten 30 Jahren aus [5]: Große Fachkrankenhäuser wurden verkleinert und zahlreiche psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern gegründet. Die teilstationäre und die ambulante Versorgung wurden ausgebaut und ein Netz an komplementären, gemeindepsychiatrischen Einrichtungen ist entstanden [6] – an vielen Orten gibt es jetzt eine „Brücke“, einen „Lichtblick“ oder eine „Insel“. Gleichzeitig hat die mittlere Liegezeit im psychiatrischen Krankenhaus massiv abgenommen – aktuell liegt sie sowohl in Fachkrankenhäusern wie in psychiatrischen Abteilungen bei etwa 3 Wochen [7]. Haben diese Veränderungen auch das Bild der Psychiatrie in der Öffentlichkeit verändert? Beobachten wir vielleicht sogar eine Entstigmatisierung der Psychiatrie? Wir möchten in diesem Editorial bisher unveröffentlichte und bereits publizierte Ergebnisse von 2 methodisch identischen Bevölkerungsbefragungen aus den Jahren 1990 und 2011 zusammentragen, um die Entwicklung der Einstellungen der Öffentlichkeit gegenüber verschiedenen Aspekten der (gemeinde-)psychiatrischen Versorgung in Deutschland nachzuzeichnen.

Öffentliche Wahrnehmung der Veränderungen in der Versorgung

In einer aktuellen repräsentativen Bevölkerungsbefragung im Jahr 2011 wurden 1222 zufällig ausgewählte Personen nach ihrer Wahrnehmung von möglichen Veränderungen der psychiatrischen Versorgung gefragt ([Abb. 1]). Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere die Veränderungen der ambulanten Versorgung von mehr als der Hälfte der Befragten wahrgenommen wurden: Die Mehrheit der Befragten gibt richtig an, dass die Zahl der psychotherapeutischen Praxen und die Zahl der ambulant behandelten Personen mit psychischen Krankheiten zugenommen hat. Größere Unsicherheit zeigt sich in Bezug auf das psychiatrische Krankenhaus: Nur 25 % geben an, die Verweildauer in der psychiatrischen Klinik habe sich verkürzt, fast ebenso viele (22 %) meinen, sie habe sich verlängert, und der größte Anteil (35 %) kann sich für keine der angebotenen Antwortmöglichkeiten entscheiden. Die massive Reduktion der Liegezeiten in der Psychiatrie ist in weiten Teilen der Öffentlichkeit offenbar nicht bemerkt worden.

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Abb. 1 Bevölkerungsbefragung in Deutschland 2011, n = 1222, Prozentwerte.

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Veränderungen der Einstellungen zur Psychiatrie und Psychotherapie

Gleichzeitig hat sich jedoch die Einstellung zum psychiatrischen Krankenhaus in entscheidender Weise verändert: Ein Vergleich der Zustimmung zu negativen Stereotypen über die psychiatrische Klinik 1990 und 2011 zeigte, dass negative Befürchtungen in diesem Zeitraum überwiegend ab-, während positive Erwartungen zugenommen haben. So halbierte sich die Zustimmung zu der Aussage, psychiatrische Krankenhäuser hätten mehr mit Gefängnissen gemein als mit anderen Krankenhäusern (von 32 auf 16 %), während die Zustimmung zu der Aussage, dass sie notwendigen Schutz in einer Krise böten von 44 auf 66 % anstieg. Während 1990 39 % der Befragten der Ansicht waren, es sei sehr schwer wieder aus einem psychiatrischen Krankenhaus hinauszukommen, egal ob man krank sei oder nicht, war dieser Anteil 2011 auf 25 % gesunken. Diese Entwicklungen waren bei Personen, die selbst schon einmal in psychiatrischer Behandlung gewesen waren, noch ausgeprägter [8]. Dabei machte es keinen Unterschied, ob von einer psychiatrischen Klinik oder von einer psychiatrischen Abteilung am Allgemeinkrankenhaus die Rede war: Zusätzlich wurden 2011 auch 725 Personen, die schon einmal etwas von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern gehört hatten, explizit zu Ihrer Meinung über diese Abteilungen gefragt. Ihre Aussagen unterschieden sich dabei kaum von den Aussagen derjenigen, die zu psychiatrischen Krankenhäusern befragt wurden [9]. Befürchtungen und mögliche Vorurteile hinsichtlich einer stationären psychiatrischen Behandlung hängen also weit weniger mit dem Standort dieser Versorgung zusammen als gemeinhin angenommen.

Parallel zu dieser Entwicklung kann man auch eine Zunahme der Akzeptanz professioneller psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung konstatieren: Zwischen 1990 und 2011 haben die Empfehlung von Psychotherapie und Pharmakotherapie und der Rat, einen Psychiater oder Psychotherapeuten aufzusuchen, für die „großen“ psychiatrischen Krankheitsbilder Schizophrenie, Depression und Alkoholabhängigkeit deutlich an Popularität gewonnen [10]. Diese Veränderung ist insofern bemerkenswert, als dass sich im gleichen Zeitraum die Haltungen gegenüber den Betroffenen nicht verändert oder (im Fall der Schizophrenie) sogar verschlechtert haben [10] [11]. Man kann also schlussfolgern: Das Image der Krankenhauspsychiatrie hat sich deutlich verbessert, psychiatrische Behandlungsmethoden finden größere Zustimmung, und auch die zunehmende Ambulantisierung der Versorgung ist von der Öffentlichkeit bemerkt worden. Im gleichen Zeitraum haben sich die Einstellungen der Öffentlichkeit zu den Betroffenen jedoch nicht zum Positiven gewendet. Ob man nun von einer „Entstigmatisierung“ der Psychiatrie sprechen mag, sei dahingestellt. Im direkten Vergleich mit den Betroffenen hat die Psychiatrie aber sicher kein Stigmaproblem, sondern erfreut sich wachsender Wertschätzung.


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Entwicklung der Haltung zu gemeindepsychiatrischen Angeboten

Anders sieht es in Bezug auf die in den letzten 20 – 30 Jahren zum größten Teil neu entstandenen gemeindepsychiatrischen Einrichtungen aus. Ihre gesellschaftliche Akzeptanz könnte ein Indikator dafür sein, inwieweit die komplementäre, gemeindenahe Versorgung psychisch Kranker tatsächlich in der Gemeinde angekommen ist. 1990 und erneut 2011 wurden die Befragungsteilnehmer deshalb gefragt, wie sie reagieren würden, wenn in ihrer Nachbarschaft eine Wohngemeinschaft für psychisch Kranke einziehen sollte. In den gut 20 Jahren zwischen beiden Befragungen gab es praktisch keine Veränderungen bei der starken Ablehnung bzw. leichten Beunruhigung hinsichtlich der WG: Insgesamt waren etwa 40 % der Befragten skeptisch. Gesunken war allerdings die ausdrückliche Zustimmung (von 34 auf 25 %), während eine indifferente Haltung häufiger geworden war (Anstieg von 28 auf 35 %) [12]. Von einem besseren Klima für gemeindepsychiatrische Angebote in der Kommune kann deshalb nicht gesprochen werden. Wohlwollend könnte man die wachsende Indifferenz als eine Art Normalisierung interpretieren. Man könnte aber auch eine Parallele zur wachsenden Ablehnung insbesondere von Menschen mit Schizophrenie ziehen. Dann müsste der besorgniserregende Schluss gezogen werden, dass sich ein eher gestiegenes Bedürfnis nach sozialer Distanz in geringerer Offenheit gegenüber gemeindenahen Wohnformen niederschlägt. Dabei finden sich in der unmittelbaren Nachbarschaft, z. B. einer Tagesstätte, tatsächlich positivere Haltungen gegenüber den Betroffenen als in einem Vergleichsstadtteil ohne Tagesstätte [13], die geringere Akzeptanz scheint also nicht die Folge der gemeindepsychiatrischen Versorgung selbst zu sein.


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Ausblick

Wo steht die Psychiatrie also heute in der öffentlichen Wahrnehmung? Zusammengefasst muss sich die Psychiatrie keine übertriebenen Sorgen um ihr Image machen, es bessert sich. Das vergleichsweise wohlwollende Bild der Öffentlichkeit von der Psychiatrie könnte allerdings auch damit zu tun haben, dass hier die psychisch kranken Menschen als „gut aufgehoben“ und „bewacht“ gelten: Die einzige bedenkliche Haltung gegenüber dem psychiatrischen Krankenhaus, die zwischen 1990 und 2011 an Stärke gewonnen hat, betrifft die Sicherheit der Öffentlichkeit: Heute stimmen 49 % der Leute der Aussage zu, dass Kliniken notwendig sind, um die Gesellschaft vor den psychisch Kranken zu schützen, während es vor 20 Jahren nur 39 % waren [8]. Die Offenheit für psychisch Kranke in der Gemeinde hat dagegen nach den vorliegenden Ergebnissen nicht zugenommen, hier bleibt viel zu tun. Insgesamt wird deutlich, dass der Gegenstand von Anti-Stigma-Bemühungen nicht die psychiatrischen Institutionen oder gar die Psychiater sein sollten, sondern nach wie vor die von psychischer Krankheit betroffenen Menschen [14]. Aktivitäten, die ein wahrgenommenes Stigma der Psychiatrie zum Gegenstand haben, erscheinen vor dem Hintergrund der tatsächlich wohlwollenden Haltung der Öffentlichkeit überflüssig. Es wäre besser, die ohnehin knappen Ressourcen der Anti-Stigma-Arbeit vollständig dem Stigma psychischer Krankheit zu widmen.


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Hinweis

Diese Studie wurde von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert (Az. 10.11.2.175).


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PD Dr. Georg Schomerus
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Prof. Dr. Matthias C. Angermeyer

Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Gaebel W, Zaske H, Cleveland HR et al. Measuring the stigma of psychiatry and psychiatrists: development of a questionnaire. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2011; 261 (Suppl. 02) S119-S123
  • 2 Sartorius N, Gaebel W, Cleveland HR et al. WPA guidance on how to combat stigmatization of psychiatry and psychiatrists. World Psychiatry 2010; 9: 131
  • 3 Haug HJ, Rossler W. Deinstitutionalization of psychiatric patients in central Europe. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1999; 249: 115-122
  • 4 Deutscher Bundestag. Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Bonn: Hans Heger; 1975
  • 5 Priebe S. Wo ist der Fortschritt?. Psychiat Prax 2012; 39: 55-56
  • 6 Salize HJ. Sozialpsychiatrie – wohin?. Psychiat Prax 2012; 39: 199-201
  • 7 Blum K, Löffert S, Offermanns M, Steffen P. Psychiatrie Barometer. Düsseldorf: Deutsches Krankenhaus Institut; 2011
  • 8 Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G. Has the public taken notice of psychiatric reform? The image of psychiatric hospitals in Germany 1990 – 2011. Soc Psychiatry Psychiatr Epidem [in press]
  • 9 Schomerus G, Matschinger H, Angermeyer MC. Do psychiatric units at general hospitals attract less stigmatizing attitudes compared with psychiatric hospitals?. Epidemiol Psychiatr Sci [in press]
  • 10 Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G. Attitudes about psychiatric treatment have improved over the last two decades, attitudes towards mentally ill people not. Br J Psychiatry [eingereicht]
  • 11 Schomerus G, Schwahn C, Holzinger A et al. Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2012; 125: 440-452
  • 12 Angermeyer MC, Matschinger H, Holzinger A et al. Psychiatric services in the community? The German public's opinion in 1990 and 2011. Epidemiol Psychiatr Sci [in press]
  • 13 Stadler SM. Einstellungen und Soziale Distanz gegenüber psychisch Kranken. Positive Wirkung sozialer Kontakte im Umfeld einer gemeindepsychiatrischen Tagesstätte im Vergleich zu einer Kontrollregion. Z Psychiatr Psychol Psychother 2010; 58: 265-273
  • 14 Corrigan P, Angermeyer M. Stigma blocks recovery from mental illness. World Psychiatry 2012; 11: 61

Korrespondenzadresse

PD Dr. Georg Schomerus
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Greifswald im HELIOS Hanseklinikum Stralsund
Rostocker Chaussee 70
17437 Stralsund

  • Literatur

  • 1 Gaebel W, Zaske H, Cleveland HR et al. Measuring the stigma of psychiatry and psychiatrists: development of a questionnaire. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2011; 261 (Suppl. 02) S119-S123
  • 2 Sartorius N, Gaebel W, Cleveland HR et al. WPA guidance on how to combat stigmatization of psychiatry and psychiatrists. World Psychiatry 2010; 9: 131
  • 3 Haug HJ, Rossler W. Deinstitutionalization of psychiatric patients in central Europe. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 1999; 249: 115-122
  • 4 Deutscher Bundestag. Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Bonn: Hans Heger; 1975
  • 5 Priebe S. Wo ist der Fortschritt?. Psychiat Prax 2012; 39: 55-56
  • 6 Salize HJ. Sozialpsychiatrie – wohin?. Psychiat Prax 2012; 39: 199-201
  • 7 Blum K, Löffert S, Offermanns M, Steffen P. Psychiatrie Barometer. Düsseldorf: Deutsches Krankenhaus Institut; 2011
  • 8 Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G. Has the public taken notice of psychiatric reform? The image of psychiatric hospitals in Germany 1990 – 2011. Soc Psychiatry Psychiatr Epidem [in press]
  • 9 Schomerus G, Matschinger H, Angermeyer MC. Do psychiatric units at general hospitals attract less stigmatizing attitudes compared with psychiatric hospitals?. Epidemiol Psychiatr Sci [in press]
  • 10 Angermeyer MC, Matschinger H, Schomerus G. Attitudes about psychiatric treatment have improved over the last two decades, attitudes towards mentally ill people not. Br J Psychiatry [eingereicht]
  • 11 Schomerus G, Schwahn C, Holzinger A et al. Evolution of public attitudes about mental illness: a systematic review and meta-analysis. Acta Psychiatr Scand 2012; 125: 440-452
  • 12 Angermeyer MC, Matschinger H, Holzinger A et al. Psychiatric services in the community? The German public's opinion in 1990 and 2011. Epidemiol Psychiatr Sci [in press]
  • 13 Stadler SM. Einstellungen und Soziale Distanz gegenüber psychisch Kranken. Positive Wirkung sozialer Kontakte im Umfeld einer gemeindepsychiatrischen Tagesstätte im Vergleich zu einer Kontrollregion. Z Psychiatr Psychol Psychother 2010; 58: 265-273
  • 14 Corrigan P, Angermeyer M. Stigma blocks recovery from mental illness. World Psychiatry 2012; 11: 61

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Abb. 1 Bevölkerungsbefragung in Deutschland 2011, n = 1222, Prozentwerte.