Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
hat sich im Jahr 2012 mehrmals zur Zwangsbehandlung geäußert, zunächst am 16.1.2012
[1]. Die Autoren dieser Stellungnahme argumentierten, dass mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug vom 23.3.2011 (2 BvR 882/09) und weiteren
Urteilen, etwa dem des Bundesverfassungsgerichts zum Baden-Württembergischen Unterbringungsgesetz
vom 12.10.2011 (2 BvR 633/11), die Grenzen für eine Zwangsbehandlung so eng gezogen
worden seien, dass Ärzte gezwungen würden, „behandelbaren Menschen wirksame Hilfe
vorzuenthalten“, dass „psychisch kranke Menschen einem eigengesetzlich verlaufenden
Krankheitsschicksal überlassen“ würden und dass „mechanische Zwangsmaßnahmen in zynischer
Weise als zu bevorzugende humane Behandlungsformen dargestellt“ würden. Die DGPPN
forderte u. a. eine „eindeutige gesetzliche Grundlage für eine erforderliche Zwangsbehandlung
auch bei einwilligungsfähigen Patienten, die infolge einer psychischen Störung gefährlich geworden sind“.
Wenige Monate später entschied der Bundesgerichtshof folgerichtig, dass es auch im
Kontext betreuungsrechtlicher Unterbringung an einer Rechtsgrundlage für die Zwangsbehandlung
fehle (XII ZB 99/12 und XII ZB 130/12). Die DGPPN reagierte im Ton etwas versöhnlicher
[2], forderte aber dennoch die Rückkehr zur alten Rechtslage, „… dass neue gesetzliche
Rahmenbedingungen zeitnah geschaffen werden, die es Ärzten erlauben, dem Patientenwohl
zur Geltung zu verhelfen“.
Im Oktober 2012 folgt ein ausführlicheres Memorandum der Fachgesellschaft [3]. Jetzt werden ein psychotherapeutischer Zugang und intensive Gespräche als geeignet
angesehen, die Bereitschaft zu einer Behandlung zu erreichen. Die Forderung nach einer
Zwangsbehandlung von einwilligungsfähigen Patienten vom Januar wird revidiert: „Bei einwilligungsfähigen Patienten ist eine
Behandlung gegen den Willen dagegen medizinethisch nicht zu rechtfertigen.“ Die Autoren
warnen jedoch vor den Folgen der momentanen Rechtslage – keine gerichtlich genehmigten
medikamentösen Zwangsbehandlungen – und behaupten, „dass anstelle gut bewährter medikamentöser
Therapie mechanische Sicherungsmaßnahmen, etwa mittels Isolation oder Fixierung, erfolgen
müssen und Beschäftigte und Mitpatienten in psychiatrischen Kliniken unzumutbaren
Risiken ausgesetzt sind“. Vier Fallbeispiele sollen untermauern, dass es eben doch
eine Zwangsbehandlung braucht.
Dabei wäre in einer fortschrittlichen Fachgesellschaft, die sich die aktuelle Diskussion
über Menschenrechte zu eigen macht, eine ganz andere Position denkbar; denn die Rechtsprechung
der Verfassungsrichter hatte eine neue Verhandlungsbasis in der Psychiatrie geschaffen.
In den meisten Situationen, in denen Psychiater bisher eine Behandlung mit Zwang durchsetzen
konnten, wurden sie von den Gerichten zurück an den Verhandlungstisch verwiesen. Das
Deutsche Institut für Menschenrechte erklärte vor dem Rechtsausschuss des Bundestags
am 10.12.2012: „Diese historische Chance, Psychiatrie auf der Basis der Freiwilligkeit
weiterzuentwickeln, sollte unbedingt ergriffen werden. Insbesondere die einschlägigen
Fachwissenschaften sind in diesem Zusammenhang aufgerufen, endlich andere Konzepte
zu entwickeln und flächendeckend in die Praxis zu bringen, wie mit Menschen in psychosozialen
Krisen, insbesondere in Zuständen starker Erregung, anders als mit einer zwangsweisen
pharmakologischen Behandlung umgegangen werden kann. Hier liegen Versäumnisse und
Potenziale eng zusammen“ [4].
Im Editorial der Zeitschrift Recht & Psychiatrie war schon im Januar 2012 ein Vorschlag für eine weniger defensive und mehr vorausschauende
Stellungnahme der Fachgesellschaft erschienen [5]: „Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
begrüßt ausdrücklich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 23.3.2011 und vom
12.10.2011 als wesentlichen Beitrag zu einer modernen Psychiatrie, in der die Grundrechte
aller Patienten beachtet werden. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
tragen dazu bei, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
in der Gesetzgebung für psychisch Kranke zu verankern und eine Vertrauensbasis zwischen
den in der Psychiatrie handelnden professionellen Helfern und ihren Patienten auf
der Grundlage des Grundgesetzes zu schaffen.“
Es gibt einige Gründe, die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika ganz einzustellen. Die
Anwendung einer Zwangsbehandlung mit Neuroleptika ist in ihrer Wirksamkeit, insbesondere
hinsichtlich einer nachhaltigen Genesung, nicht belegt. Gerade bei Patienten, die
neuroleptische Medikamente häufig an- und absetzen, scheinen psychotische Erkrankungen
besonders ungünstig zu verlaufen [6]. Die Nutzen-Risiko-Bewertung des Einsatzes von Neuroleptika hat sich verändert,
und zwar so weit, dass die Rate des Nichteinsatzes von Neuroleptika als Qualitätskriterium einer Psychosenbehandlung vorgeschlagen wurde
[7]. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schützen demnach nicht nur die
Rechte, sondern auch die Gesundheit unserer Patienten. Im Übrigen ist der oft geäußerten
Behauptung, es seien die medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten (Chlorpromazin) gewesen,
die die Enthospitalisierung ermöglicht hätten, überzeugend und doch wenig beachtet
widersprochen worden [8].
Viel zu wenig wurde in den letzten Jahren in die Entwicklung, Erforschung und den
Einsatz von präventiven Maßnahmen und Alternativen zur medikamentösen Zwangsbehandlung
investiert. Dabei gibt es vielversprechende Ansätze zur Prävention, z. B. im Deeskalationstraining
aller professionellen Helfer, im Einsatz schonender Haltetechniken, aber auch schon
im Vorfeld einer stationären Aufnahme in aufsuchenden Hilfen (assertive community
treatment) und Alternativen zur stationären Behandlung (home treatment). Patientenverfügungen
und Behandlungsvereinbarungen sind möglich, kommen aber nur in wenigen Kliniken zum
Einsatz, obwohl sie wahrscheinlich präventiv wirksam sind [9]. Klar ist jedoch, dass Patienten Unterstützung beim Erstellen von Patientenverfügungen
und beim Aushandeln von Behandlungsvereinbarungen brauchen [10].
Weshalb greift die DGPPN das Thema nicht als die Herausforderung einer Weiterentwicklung des Faches auf? Würde sich die (Fach-)Öffentlichkeit
nicht ebenso wie für eine bildliche Darstellung der Stoffwechselvorgänge im Hippokampus
dafür interessieren, wie die Psychiatrie dann weiterhelfen kann, und zwar ohne Eingriffe
in die körperliche Unversehrtheit, wenn die anderen (Heime, Polizei, Angehörige …)
nicht weiterwissen? Besondere Bedeutung kommt dabei der Qualifizierung und Beteiligung
von Psychiatrieerfahrenen auf allen Ebenen und in allen Bereichen der psychiatrischen
Dienste zu: in Home-treatment-Teams, als Patientenberater, in den stationären Teams,
beim Design von Psychiatrieräumen und beim Planen von psychiatrischen Diensten.
Es wird wohl noch mindestens eine Generation psychiatrisch Tätiger und in der Psychiatrie
Behandelter brauchen, um grundlegende Veränderungen zu schaffen. Die Anwendung von
Zwang in der Psychiatrie war für viele Patienten eine tiefgreifende Erfahrung mit
dem Ergebnis, dass sie sich vom psychiatrischen Hilfesystem abwendeten und die ihnen
zustehenden Hilfen nicht mehr in Anspruch nahmen. Für viele, die in der Psychiatrie
arbeiten, wurde die Anwendung von Zwang zur nicht weiter begründungspflichtigen Normalität.
Stellungnahmen von Fachgesellschaften sind in manchem vorhersehbar und werden entsprechend
wenig beachtet – besonders dann, wenn der Ruf an die Politik ergeht, für das Fach
mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Interessant wird es dann, wenn die Fachgesellschaft
etwas grundlegend Neues zu bieten hat. Wie wäre es etwa mit Modellprojekten, in denen
ohne Zwangsmedikation und Fixierungen gearbeitet wird? Wenn die Ergebnisse solcher
Modellprojekte vorliegen, dann liegt die Entscheidung über eine generelle Umsetzung
bei der Gesellschaft. Denn ob unsere Gesellschaft mehr Psychiatrie von der Art möchte,
die wir momentan machen, das sei hier dahingestellt.