Frage
Die Theorie, nach der Geburt des kindlichen Kopfes auf die nächste Wehe zu warten, um den Rest
des Kindes zu gebären, stützt sich auf die Auffassung, dass das Kind weiterhin über die Nabelschnur
mit Sauerstoff versorgt wird, denn der Bauch des Kindes ist noch über dem Becken und somit keinem
Druck ausgesetzt. Außerdem kann das Kind im Bedarfsfall atmen, da die Nase und der Mund ja geboren
und frei sind. Weshalb ist dann bei einer verzögerten Schulterentwicklung, wie es bei der
Schulterdystokie der Fall ist, das Überleben des Kindes gefährdet?’
Rose Kizler, Nouakchott, Mauretanien
Antwort
Die Frage, wie viel Zeit zwischen Kopfgeburt und Schulterentwicklung vergehen kann, ohne
dass das Neugeborene geschädigt wird, ist schwer zu beantworten und bedarf einer komplexen
Betrachtung. Die meisten Kinder überstehen eine verzögerte Schultergeburt und Schulterdystokie ohne
Schäden, denn sowohl der Fetus als auch das Neugeborene sind gegenüber einem Sauerstoffmangel bis zu
einem gewissen Ausmaß resistent. Sie haben die Fähigkeit auf ein vermindertes Sauerstoffangebot mit
einer Einschränkung des Gewebestoffwechsels zu reagieren.
Mir sind viele Fallberichte bekannt, in denen die Kinder auch nach einem Zeitintervall von
5 Minuten zwischen Kopf- und Schultergeburt vital zur Welt kamen. Ebenso berichten mir aber auch
Kolleginnen bei meinen Schulterdystokie-Fortbildungen von Fällen, bei denen das Kind nach nur
wenigen Minuten schwer deprimiert geboren wurde. Oft kamen zur Schulterentwicklung verschiedene
Maßnahmen zum Einsatz und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass einige davon (z. B. Ziehen und
Drehen am Kopf) zusätzlich das Kindswohl beeinträchtigt haben.
Wir müssen beachten, dass Kinder, die bereits im Zeitraum vor der Geburt ihres Kopfes
einer verminderten Sauerstoffversorgung ausgesetzt waren, in ihren Stellreflexen beeinträchtigt sind
und die Schulterrotation nur mangelhaft durch eigene Bewegungen unterstützen können. Diese Kinder
werden dann mit der nächsten Wehe nicht geboren, weil ihre Schultern im hohen Gerad- oder tiefen
Querstand verharren (Hildebrand nennt das sekundäre Schulterdystokie).
Deprimierte Kinder sollten darum eher zur Schulterrotation eine innere manuelle Unterstützung
bekommen ([6]).
In jedem Fall muss davon ausgegangen werden, dass ein Kind durch Erleiden einer Schulterdystokie
einem erhöhten Morbiditätsrisiko ausgesetzt ist. In Folge von Schulterdystokien gab es nach
einer Studie von Sandmire und O’Halloin ([9]) 4,3 % schwere Azidosen,
2,9 % Mekoniumaspirationen, 7,9 % Totgeburten und 2,9 % neonatale Todesfälle. Je nach
Untersuchungskollektiv wird eine perinatale Mortalität von 1,9–29 % angegeben ([3]).
Um dem komplexen Thema gerecht zu werden, möchte ich 3 Unterfragen bearbeiten:
-
Wann handelt es sich um eine Schulterdystokie, gibt es klare Zeitvorgaben?
-
Wird das Kind nach Geburt des Kopfes ausreichend mit Sauerstoff versorgt?
-
Wann sollen Hebammen/Geburtsmediziner mit Maßnahmen zur Beschleunigung der Schulterentwicklung
beginnen?
1. Wann handelt es sich um eine Schulterdystokie?
In der Fachliteratur finden sich nur ganz selten konkrete Angaben über den physiologischen
Zeitraum zwischen Kopf- und Schultergeburt. Ich vermute, weil die Dauer dieser Geburtsphase
individuell recht verschieden ist und nie in einer größeren Studie gemessen wurde. Etliche von mir
gefragte Hebammen gaben als Antwort „mit der nächsten Wehe“ und konnten keine konkreten Zeitangaben
machen, da sie bei normalen Geburten erst nach der Kindsentwicklung auf die Uhr sehen. Ihre
subjektiven Schätzungen lagen bei 1–2 Minuten für Land- und 3–5 Minuten für Wassergeburten und
decken sich mit meinen Beobachtungen.
Das längere Zeitintervall im warmen Wasser erklärt sich durch die meist niedrigere
Wehenfrequenz bei Wassergeburten. Oft hat die Frau in der Durchtrittsphase (AP) nur alle 4–5 Minuten
eine Wehe, und so ist auch nach der Kopfgeburt nicht eher mit der nächsten Wehe zu rechnen.
Bezüglich der physiologischen Dauer zwischen Kopf- und Schultergeburt legen sich die meisten
Fachautoren nicht durch Minutenangaben fest, sondern empfehlen auf die nächste(n) Wehe(n) zu
warten.
Diese Empfehlungen zeigen, dass je nach Wehenfrequenz ein Zeitfenster von 1–3 Minuten als normal
angesehen werden können.
Einige Zitate aus geburtshilflichen Lehrbüchern:
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„Da das Kind nach der Geburt des Kopfes bereits atmen kann, so eilt die Geburt der Schultern
durchaus nicht so sehr. Man hüte sich vor jeder Überstürzung.“ (Jaschke, 1920).
-
„Es dauert im Durchschnitt 1,5 Minuten bis nach Geburt des Kopfes die nachfolgende Wehe den Rumpf
herausbefördert.“ (W. Stoeckel, 1948).
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„Man kann nach Geburt des Kopfes ohne das geringste Risiko auf die nächsten Wehen warten und die
Schultern in Ruhe durchtreten lassen.“ (Rockenschaub, 2001)
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„Zwischen Kopfgeburt und Schulterentwicklung soll man abwarten: Die Geburt des Rumpfes soll mit
einer der nächsten Wehen spontan vor sich gehen.“ (Dudenhausen, 2011)
In einem Lehrbuch fand ich eine Zeitvorgabe, die ein Abwarten der spontanen Schulterentwicklung
kaum möglich macht:
Wann eine verzögerte Schultergeburt als Schulterdystokie klassifiziert wird, ist unter
Geburtshelfern nicht klar definiert und zeigt sich an den sehr unterschiedlichen Literaturangaben
zur Häufigkeit. Diese liegen z. B. bei Kindern mit einem Geburtsgewicht < 4000 g zwischen 0,15 %
und 1,7 % (Unterschied 11-facher Wert!), bei Kindern > 4500 g zwischen 4,2 % und 35,7 %
(Unterschied 8-facher Wert).
In Fachkreisen wird seit längerem darüber diskutiert, ob das heute häufiger beschriebene
Phänomen der Schulterdystokie wirklich eine Folge der vermehrt übergewichtigen Kinder und Mütter
ist, oder doch eher als Folge von zu frühen Manipulationen am Kopf durch ungeduldige Hebammen und
Geburtshelfer zu sehen ist. Ich denke, beide Ursachen sind für Schulterdystokien verantwortlich. Für
die zweite spricht, dass die vielerorts übliche aktive Schulterentwicklung durch Kopfabsenkung in
Richtung Kreuzbein, sowie Drehen und Ziehen am Kopf das Kind in seinen Reflexen bei der
Schulterrotation behindert und ihm zusätzlich Schmerzen und Stress beschert.
Definitionen
Azidamie: erhöhte Konzentration von Wasserstoffionen mit Erniedrigung des pH-Wertes im
Blut
Azidose: erhöhte Konzentration von Wasserstoffionen mit Erniedrigung des pH-Wertes im Blut und im
Gewebe
Hypoxämie: verminderter Sauerstoffgehalt mit erniedrigtem pO2-Wert im Blut
Hypoxie: verminderter Sauerstoffgehalt mit erniedrigtem pO2-Wert im Blut und im
Gewebe
Asphyxie: Kombination einer Hypoxämie mit metabolischer Azidamie und einer Hypoxie des
Gewebes. Verursacht eine Atemdepression beim Neugeborenen und kann Organschädigungen hervorrufen
(nach Schneider, Gniers 2011).
2. Sauerstoffversorgung
Das Kind wird nach der Geburt des Kopfes in der Regel weiter über die Nabelschnur
versorgt. Die plazentare Durchblutung ist jetzt aber etwas geringer, da das Uterusvolumen und damit
die Plazentahaftfläche nach der Kopfgeburt kleiner geworden sind.
Bei manchen Kindern werden leichte Atemaktivitäten beobachtet, erkennbar am leichten
Stöhnen oder Greinen des geborenen Kopfes. Weil der kindliche Brustkorb jedoch vom unteren
Uterinsegment und der Vagina eingeengt ist, kann er sich noch nicht komplett für einen tiefen
Atemzug ausdehnen. (Die Idee einer Kollegin, bei prolongierter Schulterentwicklung das Kind mit der
Maske zu beatmen, wurde meines Wissens noch nicht ausprobiert.)
Laut einer älteren Studie ([12]) fällt der
Nabelschnur-pH-Wert in dieser Situation um etwa 0,04 Einheiten pro Minute ab ([3]). Das bedeutet, dass ein Kind mit einem pH von 7,25 bei der Kopfgeburt
nach 5 Minuten einen pH von 7,05 hätte. Dies ist eine mittelgradige Übersäuerung des Blutes, aber
noch keine gravierende Asphyxie.
Als Grenzwerte für ein deutlich erhöhtes Asphyxie-Risiko sind ein Nabelschnurarterien-pH von <
7,00 und ein Basendefizit von < 12 mmol/l gut belegt ([1]).
Diese Aussage wurde auch in anderen Untersuchungen bestätigt ([10]).
Bezüglich der Sauerstoffversorgung in der Phase zwischen Kopf und Schultergeburt sind wir auf
Vermutungen angewiesen, sie kann gut oder schlecht sein:
-
Die Nabelschnur wird gut durchblutet, das Kind weiterhin gut versorgt, oder
-
die Nabelschnurdurchblutung ist nach der Kopfgeburt durch Druck bzw. Zug herabgesetzt bis
unterbrochen.
-
Die Atmung des Kindes beginnt noch vor der Schultergeburt, oder
-
die Lungenatmung wird aufgrund starker Thorax-Kompression durch das untere Uterinsegment und die
Vagina total behindert.
Auch das CTG liefert nach der Kopfgeburt keine sicheren Daten. Zum einen weil eine leichte
Bradykardie in dieser Phase als physiologisch anzusehen ist, zum anderen weil sich die fetale
Herzfrequenz jetzt nicht gut ableiten lässt. Die meisten Geburtsmediziner fordern auch keine weitere
FHF-Überwachung bei einer verzögerten Schulterentwicklung, sondern lassen das CTG nur zur leichteren
postpartalen Bestimmung des Zeitraums zwischen Kopf- und Rumpfgeburt weiterlaufen.
Einzig ein antepartal pathologisches FHF-Muster muss unser Handeln beschleunigen.
3. Zeitpunkt für eine Beschleuni-gung der Schultergeburt
Nach der Geburt des Kopfes sollte bei einem normalen Verlauf ohne Manipulation am Kopf die
spontane Schulterdrehung abgewartet werden, sie erfolgt in der Regel vor oder mit der nächsten
Wehe.
Wenn es dem Kind antepartal gut ging, kann auch noch auf die übernächste Wehe gewartet
werden.
Zeigte das Kind antepartalen Stress (z. B. suspektes oder pathologisches FHF-Muster), ist
es günstig, die Mutter bereits nach ca. 1/2 Minute zu leichten Beckenbewegungen anzuregen
(Lagewechsel, Beckenschaukeln, -kreisen), um keine Zeit zu verlieren.
Erscheint der Kopf aufgesetzt (turtle syndrom) oder hat die Hebamme ein „ungutes
Gefühl“ (trotz normalem CTG), empfehle ich wegen der unklaren Sauerstoffversorgung nach
Kopfgeburt auch innerhalb der ersten Minute mit einer leichten mütterlichen
Beckenmobilisation zu beginnen, da diese Maßnahme keinen Schaden anrichtet. Außerdem können
mütterliche Bewegungen die nächste Wehe beschleunigen, das Kind zu Bewegungen anregen und
verhindern, dass am Kopf manipuliert wird, zum Beispiel
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bei Rückenlage-Geburten das Becken mehrmals anheben lassen (wie um die Unterlage zu
wechseln) oder zur Seitenlage drehen und das obere Bein vor- und zurückbewegen ([4]),
-
bei Vierfüßler-Geburten die Frau auf die Knie aufrichten und abwechselnd ein Bein zum
Hirtenstand aufstellen lassen ([5]),
-
bei Wassergeburten die Frau leicht zur Seite drehen und das Becken vor- und zurückkippen
lassen,
-
bei Hockergeburten die Frau vor- und zurückbeugen lassen oder aufstehen und Beckenkreisen
oder in den Vierfüßlerstand bringen.
Ein langsam blau anlaufender Kopf ist kein Grund zum raschen Handeln.
Denn er ist kein Zeichen einer Hypoxie, sondern wird durch eine Abflussbehinderung im Bereich der
Halsvenen verursacht – dadurch staut sich das Blut im Kopfbereich.
Praxisempfehlung:
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Nach einem Geburtsverlauf mit antepartal normalem bis suspektem CTG kann nach einer frühen
leichten Beckenmobilisation eine weitere Mobilisation erfolgen (z. B. McRoberts-Manöver oder
Vierfüßlerstand), bevor mit der inneren Rotation begonnen wird.
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Nach pathologischem CTG wird nach einer frühen erfolglosen Mobilisation rasch mit der
inneren Rotation der Schultern begonnen (z. B. Manöver nach Rubin oder Woods).