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DOI: 10.1055/s-0033-1349918
Diabetes mellitus schmerzt nicht – die Folgen sehr wohl – Diabetische Polyneuropathie erkennen und adäquat behandeln
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. Juli 2013 (online)
Das multifaktorielle Geschehen bei Diabetes mellitus mit Stoffwechselentgleisungen, Metabolischem Syndrom und zahlreichen Folgeerscheinungen wie Bluthochdruck, Gefäßschädigungen, diabetischem Fußsyndrom und Neuropathie erfordert eine ganzheitliche und interdisziplinäre Herangehensweise bei der Behandlung. Eine sorgfältige und differenzierte Diagnostik ist für den Behandlungserfolg ebenso entscheidend wie ein Therapiekonzept, das gleichermaßen die Verbesserung der diabetischen Stoffwechsellage wie auch die gezielte zusätzliche Behandlung aller möglichen Begleit- und Folgeerkrankungen berücksichtigt.
Eine sehr häufige und gefürchtete Komplikation des Diabetes mellitus sind metabolische Schädigungen des peripheren Nervensystems, die sich als diabetische (sensible oder sensomotorische) Polyneuropathie manifestieren. Diese kann sich einerseits in einem meist zuerst an den unteren Extremitäten auftretenden Sensibilitätsverlust – oft mit der Folge gefährlicher schmerzloser Fußulzera –, andererseits durch Missempfindungen wie Schmerzen und Brennen äußern.
Es ist auch nicht in jedem Fall der Diabetes die tatsächliche Ursache neuropathischer Schmerzen. Diese seien sehr vielfältig und der Diabetologe befinde sich in einem Labyrinth, aus dem herauszufinden nicht weniger schwierig wie wichtig sei, sagte Prof. Dr. Dan Ziegler vom Universitätsklinikum Düsseldorf. Denn das therapeutische Vorgehen bei neuropathischen Schmerzsyndromen ist in höchstem Maße abhängig von individuellen Faktoren, der zugrunde liegenden Schmerzentität und deren Symptomkonstellation.
Schmerzreduktion durch multimodale Therapie
Etwa jeder dritte Diabetiker ist von einer Polyneuropathie (DPN) mit erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität betroffen. Neuere Untersuchungen, so berichtete Ziegler, legen nahe, dass bereits in Stadien des Prädiabetes, insbesondere bei einer Kombination von gestörter Nüchternglukose (IFG) und gestörter Glukosetoleranz (IGT) eine erhöhte Prävalenz der DPN vorliegt. Warum bei einem Patienten Schmerzen auftreten und bei einem anderen nicht, sei noch unklar. Ein großes Problem sei, dass viele Patienten nicht wissen, dass sie eine (behandelbare) Polyneuropathie haben und aufgrund der fehlenden Behandlung die Chronifizierung neuropathischer Schmerzen gefördert werde. Ein oraler Glukosetoleranztest könne zur Früherkennung des Risikos für eine prädiabetische Neuropathie beitragen.
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Diagnostik der diabetischen Polyneuropathie
Um zu einheitlichen und korrekten Diagnosen zu gelangen, sollte die Diagnostik der DPN leitliniengerecht anhand standardisierter Scores für neuropathische Symptome und Defizite objektiviert und im Verlauf kontrolliert werden. Dafür stehen beispielsweise der Neuropathie-Defizit-Score (NDS) sowie der Neuropathie-Symptom-Score (NSS) zur Verfügung (www.agdn.org). Des Weiteren sollten einfache neurologische Untersuchungsmethoden wie Schmerz-, Temperatur-, Berührungs-, Druck und Vibrationsempfinden (starke Altersabhängigkeit beachten) sowie Muskeleigenreflexe genutzt werden.
Außer Scores und Bedside-Tests können Schmerzfragebögen für das Screening auf das Vorliegen einer neuropathischen Schmerzkomponente die Diagnostik wenn auch nicht ersetzen, aber durchaus sinnvoll unterstützen und die Therapieentscheidung erleichtern.
Innerhalb des painDETECT®-Projektes, einer Schmerzdatenbank zur Unterstützung einer strukturierten Anamnese, zum Screening und zur Dokumentation der Behandlung von Schmerzpatienten sowie als Hilfsmittel der Versorgungsforschung, wurde vom Deutschen Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz (DFNS) in Zusammenarbeit mit Pfizer ein solcher Fragebogen (www.pain-detect.de) entwickelt. Er enthält 9 Fragen, die Schmerzintensität, -muster und -qualität erfassen. Seine Sensitivität und Spezifität liegen bei über 80%. Der Bogen kann innerhalb kurzer Zeit vom Patienten selbst ausgefüllt werden.
Da es sich, wie Ziegler betonte, bei Neuropathie keineswegs um eine Spät-, sondern um eine sehr frühe Komplikation handelt, ist jede neue, möglichst nichtinvasive frühe "Fahndungs-Methode" eine Bereicherung des diagnostischen Spektrums. So können z. B. therapiebedürftige Patienten mit der zurzeit noch in Erprobung befindlichen In vivo Konfokale Kornea-Mikroskopie (CCM) in Zukunft vielleicht schneller herausgefunden und einer adäquaten Schmerz-Behandlung zugeführt werden. Da es bei der DPN zu einem Nervenfaserverlust kommt, ist die CCM eine vielversprechende diagnostische Option, über das Auge eine Neuropathie zu identifizieren.
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Therapieoptionen
Die Basis jeder Behandlung bei diabetischer Polyneuropathie sind die Patientenschulung, insbesondere auch hinsichtlich der Fußpflege, die Beratung bezüglich des Lebensstils sowie die Beseitigung der zugrundeliegenden Hyperglykämie. Die Optimierung der Diabeteseinstellung gilt als einzige kausale Maßnahme zur Prävention und Therapie der diabetischen Polyneuropathie. Dabei sollte die Diabetestherapie intensiviert sein und ein individueller patientenorientierter HbA1c-Zielwert um 7,0 % angestrebt werden.
Eine weitere wichtige Säule der Behandlung ist eine adäquate Schmerztherapie, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Einfache, peripher wirksame Analgetika wie Paracetamol oder ASS zeigen keinerlei Effekte.


Für eine symptomatische Therapie stehen medikamentöse Optionen mit Antidepressiva und Antikonvulsiva als Mittel der ersten Wahl zur Verfügung. Darüber hinaus sind auch lang wirkende Opioide als Mittel der zweiten Wahl bzw. zur Kombinationstherapie sowie nichtmedikamentöse Verfahren wie die Physikalische Therapie einsetzbar. Besondere Bedeutung haben bei der Auswahl einer geeigneten Substanz die individuelle Verträglichkeit und die Berücksichtigung der verschiedenen Komorbiditäten des Diabetes. Angesichts der Polypharmazie bei vielen Patienten mit Diabetes seien besonders potenzielle Arzneimittelinteraktionen zu berücksichtigen.
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Pregabalin in der Schmerztherapie – effektiv und gut verträglich
Eine der zur Behandlung peripherer neuropathischer Schmerzen in klinischen Studien bewährten und effektiven Substanzen ist Pregabalin (Lyrica®). Das Antikonvulsivum bindet an die α2δ-Untereinheit spannungsabhängiger Kalziumkanäle im ZNS. Pregabalin zeichnet sich durch ein günstiges Nebenwirkungsprofil und ein geringes pharmakokinetisches Interaktionspotenzial aus. Es wird renal ausgeschieden und nicht über das CYP450-Enzymsystem verstoffwechselt. Da keine klinisch relevanten pharmakokinetischen Wechselwirkungen zu erwarten sind, empfiehlt sich Pregabalin insbesondere für ältere, meist multimorbide Patienten, die unter einer Polyneuropathie leiden und eine Reihe von Medikamenten einnehmen müssen.
Seit 2004 neben anderen Indikationen für diesen Bereich als Mono- und Kombinationstherapie zugelassen, wurde es bereits vielfach erfolgreich eingesetzt. In mehreren Studien belegte Pregabalin bei Patienten mit schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie seine signifikant placeboüberlegene Wirksamkeit [ 1 ]–[ 4 ]. Rosenstock et al. konnten zeigen, dass Pregabalin nicht nur den neuropathischen Schmerz, sondern auch dadurch bedingte Schlafstörungen bereits nach einer Woche signifikant besserte [ 2 ]. Ebenso wurden anxiolytische Wirkungen bei der Generalisierten Angststörung nachgewiesen [ 5 ]–[ 7 ]. So können mit Pregabalin entsprechende Komorbiditäten erfolgreich mit behandelt werden. Die am häufigsten berichteten Nebenwirkungen unter Pregabalin waren Benommenheit und Schläfrigkeit. Der Schweregrad war in der Regel leicht bis mäßig.
Die Nationale Versorgungsleitlinie Diabetische Neuropathie bei Erwachsenen (NVL) [ 8 ] empfiehlt neben weiteren Substanzen mit anderen Wirkmechanismen die Anwendung von Pregabalin als Monotherapie mit einem Empfehlungsgrad B: Pregabalin sollte in der Behandlung einer schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie eingesetzt werden.
Bei ca. der Hälfte der Patienten ist eine Kombination aus 2 oder sogar 3 Wirkstoffen notwendig. Entsprechend der NVL ist im Algorithmus bei Versagen einer Monotherapie ausschließlich die Kombination mit Opioiden vorgesehen. Das sei nach Zieglers Meinung so nicht mehr haltbar. In bestimmten Konstellationen könne man durchaus zunächst die Dosis in der Monotherapie erhöhen oder auch anders sinnvoll kombinieren, z. B. Antidepressiva und Antikonvulsiva.
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Komorbiditäten und Psymedikation beachten
Insgesamt sollte man bei jeder Behandlung patientenspezifisch auswählen und nicht nur die Schmerzreduktion, sondern auch seine psychische Verfassung, die Funktionalität/Mobilität und Schlafqualität des Patienten, im Auge haben. Erst alle Komponenten gemeinsam machen letztlich die tatsächliche Lebensqualitätsverbesserung aus. Komorbiditäten und Pharmakokinetik der einzelnen Substanzen sowie Dosierung und Therapiedauer sind weitere Faktoren, die Einfluss auf den Therapieerfolg haben können. Pregabalin wird in 2 oder 3 Einzeldosen zwischen 150 und 600 mg/Tag dosiert. Die Behandlung wird mit 150 mg täglich begonnen; bei peripheren neuropathischen Schmerzen kann nach 3 bis 7 Tagen abhängig vom Ansprechen und der individuellen Verträglichkeit auf 300 mg/Tag erhöht und nach weiteren 7 Tagen auf die Höchstdosis von 600 mg/Tag titriert werden. In einer von Ziegler vorgestellten Vergleichsstudie habe sich gezeigt, dass die empfohlene Dosierung von Pregabalin für die Wirksamkeit besonders wichtig sei, in der Praxis jedoch häufig unterdosiert würde [ 9 ].
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Differenzialdiagnostik der diabetischen Polyneuropathie
Stellt sich ein Patient mit "Nerven-Schmerzen" vor, ist für die Differenzierung verschiedener Schmerzentitäten und mögliche Ursachen zunächst die Zuordnung zu typischen Verteilungsmustern hilfreich, erläuterte Prof. Dr. Karlheinz Reiners, Universitätsklinik Würzburg. Typisch für die diabetische Polyneuropathie ist eine distal-symmetrische Verteilung. Zu beachten sei, dass Missempfindungen oder Schmerzen in den Beinen Folge nicht nur von Neuropathien, sondern z. B. auch eines Burning feet- oder Restless legs-Syndroms sein können, die einer anderen Therapie bedürfen. Leider, erklärte Reiners, lasse sich aus der Art der Beschwerden kein verlässlicher Rückschluss auf die Ursache ziehen. So seien bei Diabetikern neben der Stoffwechselstörung auch eine oder mehrere konkurrierende Ursachen wie Urämie, Hypothyreose, Paraproteinämie, alkoholische Neuropathie, Radikuloneuritis bei Borreliose, toxische Neuropathien u. a. in die differenzialdiagnostischen Überlegungen einzubeziehen ebenso wie die Tatsache, dass ein Patient durchaus gleichzeitig "Läuse und Flöhe" haben kann – das eine ist der Diabetes und das andere ist eine potenziell andere Ursache, die vielleicht zusammen mit dem Diabetes zu der speziellen Ausprägung führt, die bei einem bestimmten Patienten auftritt.
Jede dieser Erkrankungen erfordere deshalb eine gezielte klinische Untersuchung mit adäquater Labordiagnostik und im Zweifelsfall eine fachneurologische Abklärung.
Elke Klug, Berlin
Quelle: Symposium "Schmerzen, ein fehlgeleiteter Stoffwechsel und Diabetes – ein Update zu metabolischen Aspekten und therapeutischen Herausforderungen" im Rahmen des Diabetes Kongresses am 9.5.2013 in Leipzig.
Der Text entstand mit freundlicher Unterstützung durch Pfizer.
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Literatur
- 1 Lesser H et al. Neurology 2004; 63: 2104-2110
- 2 Rosenstock J et al. Pain 2004; 110: 628-638
- 3 Sabatowski R et al. Pain 2004; 109: 26-35
- 4 Freyhagen R et al. Pain 2005; 115: 254-263
- 5 Pohl RB et al. J Clin Psychopharmacol 2005; 25: 151-158
- 6 Rickels K et al. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 1022-1030
- 7 Montgomery SA et al. J Clin Psychiatry 2006; 67: 771-782
- 8 http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-001ek_S3_Neuropathie_bei_Diabetes_2012-04.pdf
- 9 Wilhelm et al. EASD. 2012
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Literatur
- 1 Lesser H et al. Neurology 2004; 63: 2104-2110
- 2 Rosenstock J et al. Pain 2004; 110: 628-638
- 3 Sabatowski R et al. Pain 2004; 109: 26-35
- 4 Freyhagen R et al. Pain 2005; 115: 254-263
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- 6 Rickels K et al. Arch Gen Psychiatry 2005; 62: 1022-1030
- 7 Montgomery SA et al. J Clin Psychiatry 2006; 67: 771-782
- 8 http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-001ek_S3_Neuropathie_bei_Diabetes_2012-04.pdf
- 9 Wilhelm et al. EASD. 2012

