In Indien kommt es jedes Jahr zu großen Enzephalitisausbrüchen, die vermutlich zu
Zehn- wenn nicht gar Hunderttausenden Krankheitsfällen führen und Tausende von Todesopfern
fordern. Früher wurde vor allem das Japan-B-Enzephalitis-Virus für diese Ausbrüche
verantwortlich gemacht und auch heute noch verursacht es in einigen Landesteilen schwere
Ausbrüche. Insgesamt konnte dieses Virus jedoch in den vergangenen Jahren durch intensive
Impfkampagnen in weiten Teilen des Landes deutlich zurückgedrängt werden. Heute verursacht
es nur noch einen Bruchteil der Erkrankungen. Stattdessen werden einigen Schätzungen
zufolge etwa 45 % der Infektionen durch diverse Enteroviren hervorgerufen. Und in
etwa ebenso vielen Fällen ist der Erreger unbekannt.
Tödlicher Verlauf innerhalb weniger Stunden
Diese Enzephalitisausbrüche mit unbekannter Ursache, unter der Bezeichnung AES für
"Acute Encephalitis Syndrome" zusammengefasst, machen die Ärzte vor Ort ratlos und
führen teilweise zu Panik in der Bevölkerung. Es scheinen so gut wie ausschließlich
Kinder betroffen zu sein. Das Beängstigende am AES ist das schnelle Fortschreiten
der Krankheit: Kinder, die nur wenige Stunden vorher scheinbar völlig gesund waren,
liegen plötzlich im Koma, von Krämpfen geschüttelt. Etwa ein Drittel der Betroffenen
überlebt die Erkrankung nicht. Der Tod tritt oft innerhalb von wenigen Stunden nach
dem Auftreten der ersten Krankheitsanzeichen ein.
Der erste Ausbruch des Acute Encephalitis Syndromes (AES) wurde 1995 in der 500 000-Einwohner-Stadt
Muzaffarpur im Norden Indiens gemeldet. Es ist eine der ärmsten Regionen Indiens.
Mangelhafte ärztliche Versorgung, fehlende zuverlässige Statistiken sowie eine ohnehin
hohe Kindersterblichkeit aufgrund von Unterernährung und Durchfallerkrankungen erschweren
eine Einschätzung darüber, wie viele Opfer AES bisher tatsächlich forderte. (Quelle:
Photo Disc)
Regionale Ausbreitung
Zum ersten Mal beschrieben wurden diese Ausbrüche im Jahr 1995 in einer der ärmsten
Regionen Indiens: In der 500 000-Einwohner-Stadt Muzaffarpur, Bundesstaat Bihar, erkrankten
etwa 1000 Kinder und 300 von ihnen verstarben – ob es die Krankheit vorher nicht gab
oder sie lediglich nicht wahrgenommen wurde, ist unklar. Seither ereignen sich kleinere
Ausbrüche so gut wie jährlich. Dieses Jahr wurden allein in Muzaffarpur 133 Fälle
gemeldet, 59 der Kinder verstarben an den Folgen der Erkrankung. Auch sind mittlerweile
benachbarte Regionen im Norden Indiens, vor allem anscheinend Uttar Pradesh und Westbengalen,
betroffen. Darüber hinaus wurden kürzlich erstmals aus Nepal ähnliche Ausbrüche gemeldet.
Zumindest aus dem Bundesstaat Bihar ist bekannt, dass die Ausbrüche jedes Jahr Mitte
Mai beginnen und abrupt mit dem Beginn des Monsuns im Juni oder Juli enden – die Infektionszeit
liegt also deutlich vor der der Japanischen Enzephalitis. Die ersten Fälle der Japanischen
Enzephalitis werden in der Regel erst mit dem Einsetzen des Monsuns gemeldet. Der
Höhepunkt der Infektionswelle ist im Herbst.
Ursachen bisher unbekannt
Auch fast 20 Jahre nach den ersten Ausbrüchen stehen die Ärzte noch vor einem Rätsel.
Manche vermuten ein neues Virus als Krankheitsursache, andere Bakterien, Hitzeschäden
oder Vergiftungen durch Pestizide. Falls es sich um Viren oder Bakterien handelt,
könnten die Erreger ähnlich wie beim Nipah-Virus durch mit Fledermausurin kontaminierte
Früchte/Säfte, von Ratten oder Sandfliegen übertragen werden. Verängstigte Eltern
vermuten wütende Geister und zeichnen schwarze Punkte auf die Stirn ihrer noch gesunden
Kinder, um diese vor dem Auge des Bösen zu schützen. Bekannt ist lediglich, dass es
sich meist um isolierte Fälle handelt, eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung scheint nicht
vorzuliegen oder zumindest nicht die Hauptinfektionsquelle zu sein.
Genaue Untersuchung der Lebensumstände
Dieses Jahr hat ein Team aus indischen Experten sowie Ärzten der US-amerikanischen
CDC (Centers for Disease Control and Prevention) eine Studie begonnen, in der die
Lebensumstände der Betroffenen genauestens untersucht werden. Die Eltern der erkrankten
Kinder sollen mehr als 150 Fragen zu Lebensgewohnheiten, Essen, Trinken, Schlafarrangements
und Wohnort beantworten. Anschließend werden bei Ortsbesuchen Lebensbedingungen, Obstbäume,
Vieh, Brutstellen für Mücken, etcetera protokolliert und zufällig ausgewählte Altersgenossen
der Erkrankten im Ort zum Vergleich der gleichen Befragung unterzogen. Ein weiteres
Expertenteam wird später die betroffenen Dörfer auf Pestizide oder andere Toxine untersuchen.
Es bleibt zu hoffen, dass man durch diese aufwendige Untersuchung der mysteriösen
Erkrankung endlich auf die Spur kommt und so die Behandlung verbessern sowie Strategien
zur Vermeidung von Infektionen entwickeln kann.
Dr. Raymund Lösch und Dipl. Biol. Unn Klare, Bad Doberan
Quelle: promed