Diabetes aktuell 2013; 11(05): 229-230
DOI: 10.1055/s-0033-1356523
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

DAWN2TM Studie zeigt beeinträchtigte Lebensqualität – "Diabetes ist ein Familienproblem"

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Publication Date:
06 September 2013 (online)

 
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    PD Dr. Bernhard Kulzer, Forschungsinstitut der Diabetes-Akademie Mergentheim (FIDAM)

    Das Leben mit Diabetes bringt viele Belastungen für Menschen mit Diabetes, aber auch für ihre Angehörigen mit sich. Dies ist ein zentrales Ergebnis der DAWN2TM Studie (Diabetes Attitudes, Wishes and Needs) zu den Ansichten, Wünschen und Bedürfnissen von Menschen mit Diabetes, deren Familienangehörigen und Behandlern sowie Vertretern von Politik und Krankenkassen. PD Dr. Bernhard Kulzer, Bad Mergentheim, plädiert für eine bessere psychosoziale Unterstützung und neue Schulungsprogramme.

    ? Was ist die DAWN2TM Studie, und warum wurde sie initiiert?

    Dr. Kulzer: DAWN2TM untersucht die Wünsche, Bedürfnisse und Nöte von Menschen mit Diabetes, aber – in Erweiterung der ersten DAWNTM Studie von 2001 – darüber hinaus die Erfahrungen und Bedürfnisse von Familienangehörigen, von Behandlern und von Vertretern aus Politik und des Gesundheitssystems. Sie ist mit über 15 400 Befragten auf 4 Kontinenten die weltweit größte Studie ihrer Art. Durch DAWN2TM können wir den Diabetes aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten.
    Das Ziel der Studie ist, weltweit festzustellen, inwieweit Menschen mit Diabetes mellitus und ihre Angehörigen Schwierigkeiten im Umgang mit der Erkrankung haben. Wir wollen außerdem Daten dazu erhalten, wie stark Familienangehörige in den Prozess der Therapie integriert sind. Und wir suchen nach positiven Beispielen aus verschiedenen Ländern, um zu lernen, wie wir Menschen mit Diabetes bestmöglich beim Management ihrer Erkrankung unterstützen können.

    ? Welche Belastungen für Menschen mit Diabetes lassen sich durch die DAWN2TM Studie nachweisen?

    Dr. Kulzer: Bei vielen Menschen mit Diabetes wird ihr wichtigstes Therapieziel, nämlich der Erhalt einer guten Lebensqualität mit und trotz Diabetes, nicht erreicht. Im Durchschnitt haben Menschen mit Diabetes mellitus eine schlechtere Lebensqualität als Menschen ohne diese Erkrankung. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass dafür nicht der Diabetes allein, sondern auch seine psychischen oder körperlichen Folgekomplikationen verantwortlich sind.
    Menschen mit Diabetes haben auch ein höheres Risiko, unter Depressionen zu leiden. Diese treten bei Diabetes etwa doppelt so häufig auf wie bei Menschen ohne Diabetes. Die Belastungen führen oft zu Problemen im Umgang mit der Therapie, zu einem höheren Risiko für Folgeerkrankungen und zu einer deutlich erhöhten Mortalität. Des-halb ist es wichtig, diese Patienten frühzeitig zu identifizieren und zu unterstützen.

    360°-Blickwinkel auf die Situation von Menschen mit Diabetes

    Die DAWN2TM Studie (Diabetes Attitudes, Wishes and Needs) zeigt die Erfahrungen und Bedürfnisse von Menschen mit Diabetes, deren Angehörigen sowie von Behandlern und Vertretern von Politik und Krankenkassen. DAWN2TM wurde von der International Diabetes Federation (IDF) in Zusammenarbeit mit weiteren Organisationen initiiert und von Novo Nordisk unterstützt. Die Befragung von über 15 400 Teilnehmern in 17 Ländern erfolgte zwischen März und September 2012. Mithilfe der Ergebnisse sollen Barrieren für ein erfolgreiches Management der chronischen Erkrankung identifiziert und überwunden werden.

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    Abb. 1 DAWN2™: Der Menschen mit Diabetes im Mittelpunkt.
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    Abb. 2 Emotionales Wohlbefinden von Menschen mit Diabetes und deren Angehörigen.
    Quelle: Peyrot M et al. für die Global DAWN2 (Diabetes Attitudes Wishes and Needs) Study Group: A multinational, multi-stakeholder study of psychosocial issues in diabetes and person-centred diabetes care. Diabetes Res Clin Pract 2013; 99: 174–184

    ? Wie DAWN2TM zeigt, sind neben Menschen mit Diabetes auch andere wichtige Bezugspersonen, wie ihre nächsten Angehörigen, durch Diabetes beeinträchtigt. Wie wirkt sich der Diabetes eines Familienmitglieds auf ihn selbst und seine Angehörigen aus und was sind dabei für Sie als Psychologen die wichtigsten Erkenntnisse?

    Dr. Kulzer: Ein sehr interessanter Befund der Studie ist, dass die Angehörigen durch den Diabetes fast im selben Ausmaß belastet sind wie die Menschen mit Diabetes selbst. Das bedeutet, dass sie auch anfälliger sind für depressive Verstimmungen, aus denen eine eingeschränkte Lebensqualität und ein reduziertes Wohlbefinden folgen können. Diabetes betrifft also nicht nur jeden einzelnen Patienten, sondern ist ein Familienproblem. Das heißt, wir müssen zukünftig eine breitere Sichtweise des Diabetes etablieren und auch die Angehörigen in die Therapie mit einbeziehen.
    Wir haben in der Studie auch gefragt, welche Bereiche des Diabetes die größten Belastungen darstellen. Es ist die Sorge vor Unterzuckerungen (Hypoglykämien) und die Sorge um das Gewicht. Von diesen Problemen berichten uns sowohl Menschen mit Diabetes als auch Familienangehörige.
    Angehörige wünschen vor allem mehr Informationen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit Unterzuckerungen. Viele Angehörige fühlen sich nicht richtig informiert über die Gründe, wie Unterzuckerungen entstehen und wie sie in einem solchen Fall helfen können. Wir müssen Angehörige daher ebenfalls schulen, um Wissen zu vermitteln und Unsicherheiten abzubauen.

    ? Der Bedarf vor allem an psychosozialer Unterstützung ist also vorhanden. Wie steht es aber nach DAWN2TM tatsächlich um die psychosoziale Versorgung von Menschen mit Diabetes in Deutschland?

    Dr. Kulzer: Wir müssen lernen, dass Diabetes den ganzen Menschen und – wie wir seit DAWN2TM wissen – das ganze Familiensystem des Menschen betrifft. Der Diabetes ist auch eine psychosomatische Erkrankung: Psychische Zustände haben Auswirkungen auf somatische Zustände. In der Behandlung des psychischen Teils des Diabetes haben wir in Deutschland noch Nachholbedarf: Es gibt gute Ansätze, etwa die Ausbildung von Fachpsychologen. Aber wenn ein Mensch in Deutschland psychosoziale Probleme im Zusammenhang mit dem Diabetes hat, ist die Wahrscheinlichkeit noch sehr gering, dass er schnell einen adäquaten Behandlungsplatz bekommt.
    Eine sehr positive Erkenntnis aus DAWN2TM ist hingegen, dass die meisten Ärzte psychische Belastung durch den Diabetes registrieren. Sie merken, dass Patienten Angst vor Folgekomplikationen haben oder Sorgen wegen möglicher Unterzuckerungen. Die Frage ist aber: Können Ärzte in ihrem Praxis-Alltag Menschen mit Diabetes tatsächlich eine adäquate Hilfestellung geben? Viele Menschen mit Diabetes wünschen sich hier mehr Fachleute, wie zum Beispiel Fachpsychologen oder speziell ausgebildete Diabetesberaterinnen, die diese doch sehr zeitaufwendige Therapie unterstützen können.

    ? Welchen Handlungsbedarf sehen Sie vor dem Hintergrund der Ergebnisse von DAWN2TM?

    Dr. Kulzer: Wenn wir selbstkritisch auf die Situation der Schulungen in Deutschland schauen, gibt es kein spezielles Schulungsprogramm für Angehörige von Menschen mit Diabetes. Um dieser Situation zu begegnen, könnte z. B. auch der Zugang von Angehörigen zu bestehenden Schulungsprogrammen verbessert werden. Gleichzeitig sollten wir es als Normalfall begreifen, dass Angehörige auch zum Arztgespräch oder zum Gespräch mit der Diabetesberaterin miteingeladen werden. So wären sie in die Diabetestherapie integriert. Dafür brauchen wir neue Schulungsprogramme und mehr Kommunikationstraining, damit dieser Ansatz im klinischen Alltag gut funktioniert.

    ? Rückblickend: Welche konkreten Maßnahmen wurden seit der ersten DAWNTM Studie von 2001 bereits umgesetzt?

    Dr. Kulzer: Seit der DAWNTM Studie hat sich die Sichtweise, dass Diabetes auch eine psychische Komponente hat, sicher viel stärker durchgesetzt. Es gibt auch praktische Tools wie Fragebögen und Screening-Instrumente, durch die ein Arzt oder eine Diabetesberaterin den psychischen Zustand eines Patienten besser im Gespräch erfragen kann.

    ! Herr Dr. Kulzer, vielen Dank für das Gespräch.

    Der Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung von Novo Nordisk Pharma GmbH, Mainz.


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    Abb. 1 DAWN2™: Der Menschen mit Diabetes im Mittelpunkt.
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    Abb. 2 Emotionales Wohlbefinden von Menschen mit Diabetes und deren Angehörigen.
    Quelle: Peyrot M et al. für die Global DAWN2 (Diabetes Attitudes Wishes and Needs) Study Group: A multinational, multi-stakeholder study of psychosocial issues in diabetes and person-centred diabetes care. Diabetes Res Clin Pract 2013; 99: 174–184