Aktuelle Urol 2013; 44(05): 337-338
DOI: 10.1055/s-0033-1356849
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Präventive Zirkumzision – Europäische Ärzte zweifeln AAP-Report an

Contributor(s):
Anna Winters

Pediatrics 2013;
131: 796-800
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Publication History

Publication Date:
16 September 2013 (online)

 
 

Der US-amerikanische Verband der Pädiater, American Academy of Pediatrics (AAP), hat 2012 einen Report und ein Statement zur männlichen Zirkumzision ohne medizinische Indikation veröffentlicht. Die Schlussfolgerung: Der gesundheitliche Benefit scheint die Risiken zu überwiegen. Eine Reihe renommierter Experten aus Europa unterstellt dem AAP-Report, das Ergebnis beruhe auf einem kulturellen Bias.
Pediatrics 2013;131: 796–800

mit Kommentar

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Die Beschneidung von Jungen kurz nach der Geburt hat laut Experten aus Europa keinen präventiven Nutzen für unkomplizierte Harnwegsinfekte, Peniskarzinome und sexuell übertragbare Krankheiten. (© Jupiterimages)

Die Europäische Expertengruppe berichtet, dass der "AAP Technical Report and Policy Statement on Male Circumcision" von 2012 auf einer Vielzahl komplexer, wissenschaftlicher Artikel basiert. Zudem seien seine Verfasser um Objektivität bemüht und von der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit der zugrunde liegenden Artikel überzeugt gewesen, heißt es zu Beginn des Kommentars, den Morten Frisch, Universtät Aalborg / Dänemark, und 3 Dutzend weitere Experten veröffentlicht haben. Sie halten die Schlussfolgerung des Reports, dass eine rein präventive Beschneidung von Jungen mehr Vorteile als Risiken mit sich bringe, für offensichtlich falsch. Dabei berufen sie sich auf Statements aus Europa, Kanada und Australien.

Argumente fast ausnahmslos haltlos

Das einzige Argument zur Risikovermeidung, das die europäischen Ärzte zumindest ansatzweise gelten lassen, ist die Harnwegsinfektion bei heranwachsenden Jungen. Diese kann allerdings auch mit Antibiotika behandelt werden. Alle anderen potenziellen Vorteile, wie Schutz vor HIV, Genitalherpes, Genitalwarzen und Peniskarzinome, halten die Experten im Kontext des westlichen Gesundheitssystems für fragwürdig und irrelevant. Ihre Kritik untermauern Frisch und Kollegen mit den folgenden Statements:

    Harnwegsinfekte (HWI)

  • Nach aktueller Literatur entwickelt nur 1 % der Jungen im Laufe der ersten Lebensjahre einen Harnwegsinfekt.

  • Es gibt keine randomisierten Studien, die einen HWI mit dem Beschneidungsstatus in Verbindung bringt.

  • Die HWI-Inzidenz in den USA scheint nicht geringer zu sein als in europäischen Ländern, in denen die Beschneidung viel seltener durchgeführt wird.

  • Laut AAP-Report braucht es 100 Beschneidungen, um einen HWI zu verhindern. Diesem einen verhinderten HWI stehen allerdings 2 von 100 KinKindern gegenüber, die eine – u. U. verheerende – Komplikation erleiden.

    Peniskarzinome

  • Laut AAP braucht es zwischen 909 und 322 000 Beschneidungen, um einem Peniskarzinom vorzubeugen.

  • Peniskarzinome sind mit einem Erkrankten von 100 000 Männern pro Jahr eine der seltensten Krebserkrankungen der westlichen Welt und treffen fast immer alte Menschen.

  • Wird ein Karzinom früh erkannt, ist die Überlebenswahrscheinlichkeit hoch.

  • Einer Infektion mit dem Papillomavirus, das u. a. verantwortlich gemacht wird, kann man mithilfe von Kondomen und Impfungen vorbeugen.

  • Auch für das Peniskarzinom gilt: Die Inzidenz in den USA ist vergleichbar mit der nordeuropäischen (USA: 75 % beschnittene Nicht-Juden und Nicht- Muslime, nördliches Europa: 10 %)

    "Traditionelle" sexuell übertragene Krankheiten

  • Daten, die vermuten lassen, dass Beschneidungen Genitalherpes und -warzen vermeiden können, basieren in erster Linie auf Studien mit Erwachsenen im sub-saharischen Afrika.

  • Gegen Syphilis, Gonorrhö und Chlamydien bietet die Beschneidung keinen überzeugenden Schutz.

  • Demgegenüber schützen Kondome zu nahezu 100 % vor sexuell übertragbaren Erkrankungen.

  • In der Regel sind Jungen im Alter des ersten sexuellen Kontakts alt genug, um sich selbst für oder gegen eine Beschneidung zu entscheiden.

    HIV und AIDS

  • Drei randomisierte und kontrollierte Studien aus Uganda, Kenia und Südafrika lassen vermuten, dass eine Beschneidung im Erwachsenenalter zu einer merklichen Reduzierung der heterosexuellen HIV-Übertragung führen kann und zwar in Regionen, in denen die HIV-Prävalenz extrem hoch ist. Die Studien weisen darauf hin, dass die Beschneidung in den ersten Jahren nach der Operation die Infektionsrate heterosexueller Männer (nicht aber Frauen) von 2,5 auf 1,2 % halbiert. Andere Studien konnten diesen Zusammenhang jedoch nicht herstellen.

  • HIV-Infektionen in der westlichen Welt betreffen vornehmlich homosexuelle Männer, zu dieser Gruppe existieren keine Daten.

  • In den USA, mit vielen beschnittenen Männern, sind die HIV-Raten und die Raten anderer sexuell übertragbarer Erkrankungen höher als in den meisten europäischen Ländern mit sehr viel weniger Beschnittenen.

  • Auch hier gilt: In der Regel sind Jungen im Alter des ersten sexuellen Kontakts alt genug, um sich selbst für oder gegen eine Beschneidung zu entscheiden.

Auch weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass die Vorhaut als stark innerviertes Gewebe durchaus eine Funktion erfüllt, auf die ein erwachsener Mann, wenn vor die Wahl gestellt, vielleicht nicht verzichten möchte.

Fazit

Die Autoren legen plausibel dar, warum es keinen medizinisch sinnvollen Grund gibt, eine rein präventive Beschneidung vorzunehmen. Drei der 4 fraglichen Gründe, die die AAP nennt, könnten zu dem warten, bis sich ein Junge selbst entscheiden kann.


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Kommentar

Präventiver Nutzen klar widerlegt

Spätestens seit dem sog. "Beschneidungsurteil" des Kölner Landgerichts vom 7. Mai 2012 wird die Debatte über die Beschneidung von männlichen Säuglingen und Kleinkindern nicht nur in Deutschland auf einem sehr emotionalen und von vielerlei Befindlichkeiten bestimmtem Niveau geführt. Sachliche Argumente, wie etwa der medizinische Nutzen oder das Risiko, geraten dabei vielfach – ebenso wie das Wohl des Kindes, um das es eigentlich geht – in den Hintergrund. In diese Debatte hat nun die American Academy of Pediatrics (AAP) eine Analyse veröffentlicht mit dem Resümee, der medizinische Nutzen der Neugeborenenbeschneidung würde dessen Risiken übersteigen und damit den Eingriff rechtfertigen [ 1 ]. So hat sich die AAP eindeutig positioniert (was bislang nicht der Fall war) und hat damit innerhalb wie außerhalb der USA teilweise große Empörung hervorgerufen.

Ein Teil der "empörten" und mit dieser Diskussion fachlich sehr vertrauten Mediziner aus Europa hat sich daraufhin zu einer Autorengemeinschaft zusammengeschlossen und eine Gegenstellungnahme zu dieser Analyse ebenfalls in "Pediatrics" veröffentlicht. Es ist dem Journal durchaus sehr zu verdanken, diese Gegendarstellung trotz erheblich hoch aufgestellter Hürden im Hinblick auf den Reviewprozess anzunehmen und zu veröffentlichen.

Der Wert dieser Gegendarstellung liegt darin, dass nach Sichtung sämtlicher und teilweise nicht in dem AAP-Report enthaltener Literatur der dort behauptete medizinisch präventive Charakter einer Neugeborenenbeschneidung klar widerlegt wird. Und zwar für alle aufgeführten Erkrankungen, nämlich die (unkomplizierten) Harnwegsinfektionen, die Malignome (z. B. Penis-CA), die sexuell übertragbaren Erkrankungen wie Genitalherpes, aber auch die Übertragung von HIV und AIDS.

Präventive Maßnahmen erfordern eine besondere Sorgfalt hinsichtlich Indikationsstellung und Komplikationsrate, da sie bei Menschen angewendet werden, die prinzipiell gesund sind. Sie müssen schwere Erkrankungen sicher verhindern und ihr Nutzen muss in einem positiven Verhältnis zu ihren Nebenwirkungen stehen. Sie sind auch nur dann sinnvoll, wenn es keine weniger invasive Methode gibt, dasselbe Ziel zu erreichen. Für präventive Maßnahmen bei Neugeborenen und Kindern ist zudem der Nachweis erforderlich, dass sie bereits in einem Alter notwendig sind, in dem der Patient noch nicht selbst über die Notwendigkeit befinden kann. Dieser präventive Charakter einer Zirkumzision, gerade im Hinblick auf die sexuell übertragbaren Erkrankungen, wird in dieser Arbeit besonders eindrücklich widerlegt.

Komplikationsraten und ethische Aspekte nicht berücksichtigt

Die Autoren stellen außerdem klar, dass sich sämtliche Empfehlungen auch der WHO zur Beschneidung als präventive Maßnahme zur Verbreitung sexuell übertragbarer Erkrankungen (wesentlich basierend auf Daten aus Studien in Afrika) zum einen nie auf Kinder beziehen und sich zum anderen nicht auf nordamerikanische oder europäische Verhältnisse übertragen lassen. Demgegenüber stehen aber Komplikationsraten bis zu 20 %, wobei diese in psychosexueller Hinsicht im AAP-Report überhaupt nicht berücksichtigt worden sind. Ebenso spielen die so wichtigen ethischen Aspekte der Rechtfertigung einer medizinisch nicht indizierten Zirkumzision im Hinblick auf die miteinander konkurrierenden Rechte auf die körperliche Unversehrtheit Schutzbefohlener einerseits und das elterliche Sorgerecht auf der anderen Seite in dem AAPReport keine Rolle.

Unbedingt lesenswert

Dieser Artikel muss für alle Mediziner, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, als "unbedingt lesenswert" eingestuft werden. Er vermittelt wohltuend in der oft aufgebrachten Debatte evidenzbasierte Daten (soweit vorhanden) zum medizinischen Nutzen und Risiko der medizinisch nicht indizierten Beschneidung und schafft somit Klarheit in dieser Hinsicht. Darüber hinaus betont er die Wichtigkeit der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die medizinisch-ethische Rechtfertigung dieses Eingriffs.

Die Autoren wähnen in ihrem Titel eine kulturelle Befangenheit in dem AAP-Report. Ist dem so? Wer den AAP-Report im Original liest, wird spätestens nach der dort enthaltenen Empfehlung zur Beschneidungsberatung – und zwar nicht nur pränatal, sondern besser noch präkonzeptionell stattfindend – dem nichts mehr hinzufügen.

Prof. Dr. Maximilian Stehr, Nürnberg


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Prof. Dr. Maximilian Stehr


ist Chefarzt der Kinderchirurgie und -urologie der Cnopfʼschen Kinderklinik in Nürnberg

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  • Literatur

  • 1 American Academy of Pediatrics Task Force on Circumcision. Pediatrics 2012; 130: e756-85

  • Literatur

  • 1 American Academy of Pediatrics Task Force on Circumcision. Pediatrics 2012; 130: e756-85

 
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Die Beschneidung von Jungen kurz nach der Geburt hat laut Experten aus Europa keinen präventiven Nutzen für unkomplizierte Harnwegsinfekte, Peniskarzinome und sexuell übertragbare Krankheiten. (© Jupiterimages)