Z Gastroenterol 2013; 51(10): 1199-1201
DOI: 10.1055/s-0033-1357025
Mitteilungen der DGVS
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gemeinsame Stellungnahme der Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) zur Linaclotid-Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gemäß § 35a SGB V (Dossierbewertung)

V. Andresen
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P. Layer
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Publication History

Publication Date:
22 October 2013 (online)

Allgemeine Anmerkungen

Wirksamkeit der aktuellen Therapie des Reizdarmsyndroms

Beim Reizdarmsyndrom handelt es sich um eine chronische Funktionsstörung des Verdauungstraktes, die durch die Symptome Bauchschmerzen, Blähungen und Stuhlgangsveränderungen (Obstipation, Diarrhoe) charakterisiert ist [1].

Bei der Behandlung des Reizdarmsyndroms gibt es keine etablierte Standardtherapie. Vielmehr kommt ein großes Spektrum unterschiedlichster, grundsätzlich probatorischer Therapieformen zum Einsatz, das von Allgemeinmaßnahmen über Ballaststoffe, Probiotika, Phytotherapeutika und einer Vielzahl von medikamentösen, in der Regel nicht für das Reizdarmsyndrom zugelassenen Therapieoptionen bis hin zu psychotherapeutischen Verfahren reicht.

Mit diesen oft in Kombination eingesetzten Maßnahmen können die Beschwerden bei vielen Betroffenen gelindert werden. Demgegenüber besteht bei einer Untergruppe eine schwere Symptomatik, die sich in vielen Fällen als weitgehend therapierefraktär erweist. Die therapeutischen Limitationen in dieser Untergruppe werden belegt durch eine Vielzahl von Studien, die übereinstimmend eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität von Reizdarmpatienten nicht nur im Vergleich zur Normalpopulation, sondern auch im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen belegen. Gerade bei hoher, chronifizierter Symptomlast und fehlenden medikamentösen Therapieperspektiven erhält eine Reihe von medikamentös ausbehandelten Patienten schließlich längerfristige Psychotherapien. Zu den weiteren Konsequenzen der unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten zählen eine erhebliche sozioökonomische Belastung durch Arbeitsunfähigkeit sowie unnötige und kostenintensive Wiederholungsdiagnostik (Literatur siehe S3-Leitlinie [1]).

Dabei wird die symptomorientierte Behandlung zur Verbesserung der eingeschränkten Lebensqualität vor allem auch deswegen erschwert, weil die Wirksamkeit aller bislang verfügbaren Therapien grundsätzlich unsicher ist, sich dabei in der Regel auf Einzelsymptome beschränkt und bei manchen Therapieformen überdies durch lokale und systemische Nebenwirkungen kompromittiert wird. Dies limitiert eine effektive Behandlung vor allem bei den dann meist erforderlichen Kombinationstherapien.

Die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom schreibt hierzu (Auszüge) [1]:

Statement 1–1–7: Lebensqualität

Patienten mit einem Reizdarmsyndrom erfahren eine deutliche Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität im Vergleich zur Normalpopulation, im Vergleich zu anderen chronischen Erkrankungen erfahren die Reizdarmpatienten z. T. eine stärkere Beeinträchtigung.

Statement 4–1–4:

Auf Grund der Heterogenität des Reizdarmsyndroms gibt es keine Standardtherapie. Deswegen hat jede Therapie zunächst probatorischen Charakter.

Im Gegensatz zu den bisherigen Therapieoptionen steht mit Linaclotid nun erstmals ein Medikament für das Reizdarmsyndrom mit Obstipation zur Verfügung, das in großen Studien eine signifikante therapeutische Wirksamkeit für den gesamten Symptomkomplex gezeigt hat.


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Stellungnahme zu spezifischen Aspekten:

Das IQWiG kommt in seiner Nutzenbewertung gemäß § 35a SGB V vom 30.07.2013 zu dem Schluss, dass die Studien des neuen Wirkstoffs Linaclotid zur Behandlung des Reizdarmsyndroms vom Obstipationstyp „keinen Zusatznutzen zur zweckmäßigen Vergleichstherapie zeigen konnten“. Als Vergleichstherapie wurde definiert: Ernährungsumstellung nach ärztlicher Anordnung und symptomatische Therapie.

Dieses Argument kann auf formaler Ebene nachvollzogen werden, denn bei den Zulassungsstudien handelte es sich um Placebo-kontrollierte und nicht um Komparator-Studien. Inhaltlich lässt sich allerdings annehmen, dass den Patienten in diesen Studien kein effektiver Therapieansatz vorenthalten wurde, wie im Folgenden dargelegt.


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Ernährungsumstellung

Beim Reizdarmsyndrom sind allgemeine „ärztliche Anordnungen zur Ernährungsumstellung“ nicht evidenzbasiert.

Die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom schreibt zum Thema Ernährung (Auszüge) [1]:

Statement 4–2–2:

Symptombeeinflussung durch Lebensstil-Modifikation: Es gibt keine generellen Ernährungs- und Lebensstil-Empfehlungen beim Reizdarmsyndrom.


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Symptomatische Therapie

Die Linaclotid-Zulassungsstudien wurden an Patienten mit chronischem (mittlere Erkrankungsdauer 13 Jahre), insbesondere aber auch therapierefraktärem Krankheitsbild durchgeführt. Angesichts der langen Vorgeschichte ist nämlich davon auszugehen, dass die meisten Patienten das gesamte Spektrum der verfügbaren Therapie-Optionen (erfolglos) ausprobiert hatten (bei erfolgreicher Vorbehandlung wären sie wohl nicht mit hoher Symptomlast in die Studien rekrutiert worden). Auch wenn die Unzufriedenheit mit diesen vorherigen Therapieversuchen in den Linaclotid-Studienunterlagen nicht explizit dokumentiert ist, so kann doch die Bereitschaft der Patienten, sich in eine placebokontrollierte Studie mit einer neuen Substanz einschließen zu lassen, als deutliches Indiz dafür gewertet werden, dass die bisherigen therapeutischen Maßnahmen nicht zu einer befriedigenden Beschwerdelinderung geführt hatten.

Im Übrigen war während der Studien ja auch eine Reihe von prinzipiell geeigneten Begleit-Therapien erlaubt: die fortgeführte Einnahme von Ballaststoffen, Probiotika, Antidepressiva sowie zusätzlich ein Laxans als Notfalltherapie.

Es ist zu fordern, dass der pU Studien vorlegt, die diese (indirekten) Hinweise auf einen Zusatznutzen von Linaclotid bei dieser Patientengruppe direkt prüfen.

Insgesamt belegen die vorliegenden Daten aus den Linaclotid- Studien eine so deutliche, überzeugende und klinisch relevante Wirksamkeit [2–4], wie sie bei diesem Krankheitsbild bisher für keine verfügbare Vergleichstherapie bekannt ist: Linaclotid ist die erste Substanz beim Reizdarmsyndrom, deren Studienergebnisse sämtliche Anforderungen sowohl der EMA wie auch der FDA hochsignifikant erfüllten. Konkret wurden alle primären, kombinierten und sekundären Endpunkte erreicht und das gesamte Symptomspektrum ebenso wie die Lebensqualität klinisch relevant gebessert.

Schwere unerwünschte Ereignisse wurden dabei nicht häufiger als bei Placebo beobachtet. Die einzige Nebenwirkung (Diarrhoe) ist als Ausdruck einer überschießenden therapeutischen Wirkung zu interpretieren. Ein besonderer Vorteil von Linaclotid ist die fehlende systemische Exposition, was zu der Sicherheit und Verträglichkeit der Substanz erheblich beiträgt.


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Therapiedauer

Ein weiterer Kritikpunkt des IQWiG betrifft die Therapiedauer der Studien, nämlich dahingehend, dass für eine Nutzenbewertung nur eine Mindeststudiendauer von 6 Monaten (24 Wochen) anerkannt wird. Auch wenn es sich bei dem Reizdarmsyndrom um eine chronische Erkrankung handelt, so ist das Beschwerdebild in seiner Ausprägung und Art typischerweise fluktuierend und bedarf daher nicht grundsätzlich einer Dauertherapie. Vielmehr nehmen Reizdarm-Patienten üblicherweise Medikamente bei ihrem Beschwerdemaximum und setzen sie bei Besserung nach gewisser Zeit wieder ab. Wenn eine Reizdarm-Therapie wie Linaclotid also rein symptomatisch wirkt und den Krankheitsverlauf nicht moduliert, ist so ein Vorgehen medizinisch sinnvoll und vertretbar. Daher wird in keinem Fall von vorneherein eine Dauer-Therapie angestrebt.

Die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom schreibt zur Therapiedauer [1]:

Statement 4–1–3:

Ein erfolgreiches medikamentöses Therapieregime kann fortgesetzt, verändert (z. B. als Bedarfs- anstelle der Dauermedikation) oder im Sinne eines Auslassversuchs unterbrochen werden. Diese Optionen gelten auch für nicht-medikamentöse Behandlungskonzepte.

Hierüber sollte in Absprache mit dem Patienten sowie substanz- bzw. interventionsabhängig entschieden werden.

Längerfristige oder wiederholte Therapien mit Linaclotid könnten nur für Patienten mit gutem langfristigem Ansprechen und rückkehrender Symptomlast nach zwischenzeitlichem Absetzen sinnvoll sein. Daher wurde zum Zeitpunkt der Studienplanung von den Zulassungsbehörden EMA und FDA auch eine Therapiedauer von 12 Wochen als ausreichende Therapiezeit anerkannt, um beim Reizdarmsyndrom eine Effektivität der Substanz gegenüber der Vergleichsbehandlung zu untersuchen.


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Trizyklische Antidepressiva

Das IQWiG zieht zu einem Vergleich der Therapiekosten die trizyklischen Antidepressiva Amitriptylin und Imipramin heran. Hier wäre anzumerken, dass trizyklische Antidepressiva aufgrund ihrer obstipierenden Wirkung als Therapieoption beim RDS-O kontraindiziert sind. Bei dieser Reizdarm-Untergruppe sollten als Antidepressiva SSRIs zum Einsatz kommen.

Die S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom schreibt hierzu (Auszüge) [1]:

Statement 6–1–8:

Bei RDS vom Obstipationstyp sollen trizyklische Antidepressiva nicht verschrieben werden.

[Evidenzgrad A, Empfehlungsstärke ↓↓, Konsens]

Statement 8-1–12

SSRI können bei therapierefraktärem RDS-O, insbesondere bei im Vordergrund stehenden Schmerzen und / oder psychischer Komorbidität versucht werden.

[Evidenzgrad B, Empfehlungsstärke ↑, Konsens]


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  • Literatur

  • 1 Rao S et al. A 12-week, randomized, controlled trial with a 4-week randomized withdrawal period to evaluate the efficacy and safety of linaclotide in irritable bowel syndrome with constipation. Am J Gastroenterol 2012; 107 (11) 1714-1724 ; quiz p 1725
  • 2 Chey WD et al. Linaclotide for irritable bowel syndrome with constipation: a 26-week, randomized, double-blind, placebo-controlled trial to evaluate efficacy and safety. Am J Gastroenterol 2012; 107 (11) 1702-1712
  • 3 Quigley EM et al. Randomised clinical trials: linaclotide phase 3 studies in IBS-C – a prespecified further analysis based on European Medicines Agency-specified endpoints. Aliment Pharmacol Ther 2013; 37 (1) 49-61
  • 4 Layer P et al. Irritable bowel syndrome: German consensus guidelines on definition, pathophysiology and management. Z Gastroenterol 2011; 49 (2) 237-293