Intensivmedizin up2date 2013; 09(04): 264-266
DOI: 10.1055/s-0033-1358954
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Blutersatz kein einfacher Algorithmus[*]

Die Europäische Arzneimittelbehörde hat entschieden: Hydroxyethylstärke kann weiter als Blutplasma-Ersatz verwendet werden
Hugo Van Aken
,
Norbert Roewer
,
Kai Zacharowski
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Korrespondenzadressen

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Hugo Van Aken, FRCA, FANZCA
Direktor der Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie
Universitätsklinikum Münster
Albert-Schweitzer-Campus 1, Gebäude A1
48149 Münster
Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Norbert Roewer
Direktor der Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie
des Universitätsklinikums Würzburg
Oberdürrbacher Straße 6
97080 Würzburg
Univ.-Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski, FRCA
Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie
Universitätsklinikum Frankfurt
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main

Publication History

Publication Date:
13 November 2013 (online)

 

Seit der ersten publizierten Verwendung einer Infusionslösung bei kritisch kranken Patienten durch Dr. Thomas Latta aus Leith (Schottland), während der englischen Choleraepidemie im Jahre 1832, herrscht eine kontroverse Diskussion über die Vor- und Nachteile der Infusionstherapie. Während die Gabe von Flüssigkeit im Schock, einer lebensbedrohlichen Verminderung der Blutzirkulation, zu einer Kreislaufstabilisierung führt und somit lebensrettend sein kann, geht eine Flüssigkeitsüberladung mit einer Ödembildung (Gewebeaufschwemmung) einher, die ihrerseits die Entstehung eines tödlichen Organversagens begünstigen kann. Eine Maßnahme, die in einer frühen Phase lebensnotwendig ist, kann Patienten also im weiteren Verlauf – und insbesondere bei unsachgemäßer Handhabung – schaden.

Erstaunlicherweise konnte trotz der weltweiten Verwendung verschiedenster Infusionslösungen bislang nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass die Infusionstherapie per se zu einer geringeren Sterblichkeit schwer kranker Patienten führt. Ursächlich hierfür scheint einerseits die Komplexität der Therapie kritisch erkrankter Patienten zu sein, andererseits die erheblichen Unterschiede in der klinischen Anwendung der Infusionstherapie. Obgleich bislang kein allgemein gültiger Konsens bezüglich der „richtigen“ Behandlungsalgorithmen für die Infusionstherapie existiert, legen aktuelle klinische Erkenntnisse nahe, dass in der kritischen frühen Phase von Schockzuständen, den ersten 6 bis 24 Stunden (den sogenannten „golden hours“), eine zielgerichtete Infusionstherapie die Sterblichkeit reduziert und daher sinnvoll ist. Nach der Stabilisierung des Kreislaufs sollte möglichst wenig Flüssigkeit infundiert werden, da eine positive Flüssigkeitsbilanz mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit eines multiplen Organversagens einhergeht.

Ähnlich unklar wie Zeitpunkt, Dosis und Zielgrößen der Infusionstherapie ist die Wahl der zu verwendenden Infusionslösung. Während bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausschließlich wässrige Salzlösungen (sog. Kristalloide) zur Verfügung standen, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Makromoleküle entwickelt, die die Verweildauer der Infusionslösung im Blut und somit deren Effektivität steigern sollten. Diese so genannten Kolloide wurden zunächst vornehmlich in Kriegszeiten eingesetzt, um den Blutverlust Schwerverletzter schnell und nachhaltig ausgleichen zu können, weil deren Verweildauer in der Blutbahn länger als die der Kristalloiden Lösungen ist. In den letzten Jahrzehnten wurden moderne Kolloide zunehmend auch bei großen Operationen oder kritisch kranken Patienten mit Schockzuständen verwendet. Die offenkundige Effektivität in der initialen Kreislaufstabilisierung hat zu einer weiten Verbreitung der Kolloide geführt.

Während die initiale Kreislaufstabilisierung insbesondere beim Blutungsschock mit Kolloiden effektiver ist als mit Kristalloiden, konnten große klinische Untersuchungen keinen klaren Überlebensvorteil zeigen. Die besten Beweise aus klinischen Studien mit Blick auf günstige Wirkungen existieren aktuell für die Verwendung balancierter (d. h. an die Elektrolytzusammensetzung des Blutplasmas angepasster) Lösungen an Stelle der klassischen isotonen Kochsalzlösung (Natriumchlorid-Lösung 0,9 %), die nachweislich zu mehr Nierenversagen und Dialysepflichtigkeit führt. Dennoch ist die isotone Kochsalzlösung leider weiterhin die weltweit mit Abstand am häufigsten eingesetzte Infusionslösung.

Im letzten Jahrzehnt hat eine Vielzahl klinischer Studien den Einfluss der am häufigsten verwendeten Gruppe von Kolloiden, der sogenannten Hydroxyethylstärke-Lösungen, im Vergleich zu Kristalloiden auf die Sterblichkeit und das Organversagen kritisch kranker Patienten evaluiert. All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass der Einschluss der Patienten in die Studien (meist auf Grund der aufwändigen Gruppenzuordnungs- und Einwilligungsverfahren) erst mehr als 24 Stunden nach Beginn der kritischen Erkrankung – also jenseits der „golden hours“ – erfolgte. Zu diesem Zeitpunkt war die initiale Stabilisierung bereits abgeschlossen, und die meisten Patienten waren kreislaufstabil. Dennoch wurden die Patienten nach Studieneinschluss mit zum Teil hohen Dosierungen von Hydroxyethylstärke bzw. Kristalloiden behandelt, teilweise auch mit veralteten Lösungen. Es ist für die Autoren nicht verwunderlich, dass diese Studien entweder keinen Vorteil oder sogar Nachteile (insbesondere ein häufigeres Nierenversagen) einer Therapie mit Hydroxyethylstärke gegenüber Kristalloiden gezeigt haben, da Kolloide nicht nur potenter in der Kreislaufstabilisierung sind, sondern bei Fehlanwendung auch ein höheres Potenzial für Nebenwirkungen haben. Trotz der offensichtlichen Schwächen der o. g. Studien, waren die Ergebnisse für die Europäische Arzneimittelbehörde (European Medicines Agency: EMA) Anlass, den Nutzen und das Risiko von Hydroxyethylstärke grundlegend neu zu bewerten. Kurz vor Abschluss dieses Bewertungsverfahrens wurden die Ergebnisse einer internationalen Studie bekannt, die erstmals bereits im akuten, noch unbehandelten Schock den Einfluss von Kolloiden gegenüber Kristalloiden auf die Sterblichkeit von 2854 kritisch kranken Patienten untersuchte. Diese mittlerweile im hochrangigen „Journal of the American Medical Association“ (JAMA) publizierte Untersuchung zeigte nach 90 Tagen eine geringere Sterblichkeit der Patienten, die initial mit Kolloiden behandelt wurden. Die vorwiegend verwendete Kolloidlösung war die Wachsmaisstärke-basierte Hydroxyethylstärke 6 % HES 130/0,4.

6 % HES 130/0,4 ist aktuell die modernste und wissenschaftlich am besten untersuchte Kolloidlösung. Zulassungsstudien zeigten die Effektivität und Sicherheit der Verwendung im Rahmen von Operationen mit hohem Blutverlust. Aktuell konnte eine südafrikanische Studie deutliche Vorteile von 6 % HES 130/0,4 gegenüber Kristalloiden in der Schockbehandlung von Schwerverletzten mit offenen Wunden zeigen. Auch in einigen tierexperimentellen Untersuchungen wurde ein positiver Einfluss von 6 % HES 130/0,4 auf die Entzündungsreaktion und die Gewebedurchblutung gezeigt. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang ferner, das Medikament HES in 6 %iger Konzentration (130/0,4), streng von anderen verfügbaren Hydroxyethylstärke-Präparaten zu unterscheiden. Ein Vorteil dieser Lösung ist die kürzere Halbwertszeit und die reduzierte Verweildauer im Organismus sowie die deutlich verminderte Beeinflussung der Blutgerinnung und Nierenfunktion. HES-Lösungen der älteren Generation (z. B. 10 % HES 200/0,5 oder 6 % HES 200/0,62) neigen auf Grund ihrer langen Halbwertszeit besonders zu Ablagerungen im Gewebe und haben dadurch ein erheblich höheres Risiko für Nebenwirkungen. Bereits Anfang 2000 konnte gezeigt werden, dass die Infusion dieser Lösungen vermehrt zu akutem Nierenversagen und Dialysepflichtigkeit führt, so dass es verwunderlich ist, dass 2003 noch eine große klinische Studie unter Verwendung von 10 % HES 200/0,5 in Deutschland initiiert wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits 6 % HES 130/0,4 zur Verfügung stand.

Ebenso unterscheiden sich die chemische Zusammensetzung, die Molekülstrukturen und die pharmakologischen Wirkungen verschiedener HES-Lösungen in Abhängigkeit vom zur Herstellung verwendeten Rohmaterial erheblich. In diesem Zusammenhang konnten in ersten experimentellen und klinischen Untersuchungen Unterschiede der aus Wachsmaisstärke hergestellten 6 % HES 130/0,4 gegenüber der aus Kartoffelstärke bestehenden 6 % HES 130/0,42 aufgezeigt werden. Leider werden sowohl in systematischen Übersichtsarbeiten als auch in Empfehlungen und Leitlinien sämtliche Hydroxyethylstärke-Präparate unabhängig und unterschiedslos von Zusammensetzung und Rohmaterial gemeinsam betrachtet. Dabei sind die meisten älteren HES-Lösungen mittlerweile gar nicht mehr für den klinischen Einsatz verfügbar.

Die aktuellen Daten und die Einschätzung zahlreicher Experten haben bewirkt, dass die EMA die Verwendung von 6 % HES 130/0,4 für die Therapie von Patienten mit akutem Blutverlust (z. B. im Rahmen von Unfällen oder operativen Eingriffen) weiter zulässt. Bei schweren Infektionen (Sepsis), Verbrennungsschock oder kritisch kranken Patienten soll in Zukunft auf Hydroxyethylstärke-Lösungen verzichtet werden, bis weitere Daten verfügbar sind, die eine eindeutige Einschätzung des Nutzen-Risiko-Spektrums bei diesen Patienten erlauben.

Generell bleibt festzuhalten, dass die Infusionstherapie sich in den letzten Jahrzehnten als eine zunehmend komplexe Thematik darstellt, bei der sowohl Zeitpunkt, Dosis, Zielparameter, als auch die zu wählende Substanz Anlass kontroverser Diskussionen sind. Nach kritischer Interpretation sämtlicher vorliegender Daten unterstützen die Autoren die Entscheidung der EMA, die Zulassung moderner Hydroxyethylstärke-Lösungen als Blutplasmaersatz aufrecht zu erhalten. Ein wesentliches Forschungsziel der folgenden Jahrzehnte muss es sein, die Datenlage zur Infusionstherapie bei kritisch kranken Patienten durch gut konzipierte Studien mit Patienten-zentrierten Endpunkten zu verbessern und somit evidenzbasierte Behandlungsalgorithmen zu generieren. Ganz im Gegensatz zu diesem Ziel stehen Berichte, die durch unzureichend differenzierte Darstellung von Fakten (siehe u. a. FAZ-Beitrag vom 09. 10. 2013 unter der Rubrik „Natur und Wissenschaft“) zu einer Verunsicherung nicht nur unserer Patienten sondern auch der klinisch tätigen Ärzte führen. Letztlich muss es im Interesse aller sein, die existierenden Daten zu medizinischen Themen sachlich und neutral zu interpretieren, ohne voreilig weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen, die eine Therapie mit potenziell lebensrettenden Medikamenten künftig unmöglich machen könnten.

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Hugo Van Aken
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Norbert Roewer
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Kai Zacharowski

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* Frankfurter Allgemeine Zeitung, Natur und Wissenschaft, 30.10.2013, Nr. 252, S. N2, „Für Blutersatz kein einfacher Algorithmus“ von Hugo Van Aken, Norbert Roewer und Kai Zacharowski.


  • References

  • 1 Annane D et al. CRISTAL: Colloids Compared to Crystalloids in Fluid Resuscitation of Critically Ill Patients: A Multinational Randomised Controlled Trial. JAMA 2013; DOI: 10.1001/jama.2013.280505. Published online October 9 2013

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60590 Frankfurt am Main

  • References

  • 1 Annane D et al. CRISTAL: Colloids Compared to Crystalloids in Fluid Resuscitation of Critically Ill Patients: A Multinational Randomised Controlled Trial. JAMA 2013; DOI: 10.1001/jama.2013.280505. Published online October 9 2013

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