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DOI: 10.1055/s-0033-1359971
Mitteilungen des Arbeitskreises der Chefärzte und Chefärztinnen von Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern in Deutschland (ACKPA)
- Suizide und Suizidversuche
- Antidepressiva verringern nicht die Rate an Suizidversuchen oder Suiziden
- Literatur
Suizide und Suizidversuche
Suizidalität ist für unsere Kolleginnen und Kollegen am Allgemeinkrankenhaus ein häufiges Thema. Sei es, dass wir die Menschen konsiliarisch auf den Intensivstationen untersuchen, oder sie an unseren Kliniken weiterbehandeln: Der Umgang mit suizidalen Menschen und ihren Angehörigen gehört zu unseren zentralen Aufgaben. Die Behandlung ist hierbei nicht vorrangig eine pharmakologische, sondern erfordert die Entwicklung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung.
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Hierfür sind eine ausreichende Personalausstattung und entsprechend geschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erforderlich, wofür ackpa sich stets in der Vergangenheit stark gemacht hat und auch in Zukunft mit aller Kraft einsetzen wird.
Wir publizieren an dieser Stelle eine Ergänzung von zwei aktiven Mitgliedern des „ackpa-Qualitätszirkels Psychopharmakologie“ zu zwei Stellungnahmen der DGPPN. Uns ist es wichtig, eine – gegebenenfalls auch kontroverse – Diskussion zu ermöglichen. Es entspricht dem Selbstverständnis von ackpa, dass wissenschaftliche Einschätzungen, gerade auch wenn sie nicht im Einklang mit psychiatrischen Meinungsführern sind, auf direktem Weg, ohne komplizierte Entscheidungsprozesse innerhalb von Fachgesellschaften oder aufwändige Review-Verfahren, unmittelbar den klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen zur Kenntnis gelangen. Daher hat ackpa sich zur Veröffentlichung hier auf den ackpa-Mitteilungsseiten entschieden.
Antidepressiva verringern nicht die Rate an Suizidversuchen oder Suiziden
Tom Bschor und Ingrid Munk
Erklärung zu den Publikationen der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) vom März 2013
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Presseinformation „Antidepressiva helfen Selbstmorde zu verhindern“
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„Stellungnahme zur ARD Reportage ‚Gefährliche Glückspillen‘ vom 18. Februar 2013“
In einer Stellungnahme sowie einer Presseinformation (www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen.html) vom März 2013 geht die DGPPN auf den Zusammenhang von Suizidalität und Antidepressiva-Verordnungen ein. Die Presseinformation ist mit den Worten überschrieben:
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„Antidepressiva helfen Selbstmorde zu verhindern“.
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Im Text heißt es: „Die antidepressive Behandlung senkt die Suizidalität – das wurde insbesondere für SSRI belegt.“
In der Stellungnahme wird mitgeteilt:
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„Jede erfolgreiche Therapie, ob Pharmako- oder Psychotherapie, kann Suizidalität verhindern; das gilt insbesondere für eine Behandlung mit SSRI.“
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„Pharmakotherapie stellt zusammen mit Psychotherapie die Grundlage einer evidenzbasierten Depressionsbehandlung dar und damit auch der Suizidprävention.“
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„Eine Erhöhung der Rate an Suizid und Suizidversuchen bei Erwachsenen durch Antidepressiva, insbesondere SSRI, ist nicht bewiesen. Man muss eher vom Gegenteil ausgehen.“
Dazu stellen wir fest:
1.
Die Formulierungen von Stellungnahme und Presseinformation suggerieren eine suizidverhindernde Wirkung von Antidepressiva. Die Verwendung des Sammelbegriffes „Suizidalität“ durch die DGPPN für, wie die Autoren es definieren, „suizidales Denken, Suizidversuch und den vollendeten Suizid“ vermengt das Auftreten suizidaler Gedanken mit Suiziden und Suizidversuchen. Die Stellungnahme der DGPPN lässt sich daher so interpretieren, als gebe es wissenschaftliche Beweise für eine suizid- und suizidversuchsenkende Wirkung von Antidepressiva. Die Überschrift der Presseinformation („Antidepressiva helfen Selbstmorde zu verhindern“) drückt dies sogar explizit aus. Dies ist aber nicht zutreffend.
Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und hieraus abgeleitete Metaanalysen gelten als die methodisch hochwertigste Grundlage zur Beforschung von Arzneimittelwirkungen. Ferner ist es in der medizinischen Wissenschaft Konsens, dass nach Möglichkeit harte, patientenrelevante Outcomeparameter herangezogen werden sollen. Dies ist bei der genannten Fragestellung die Anzahl von Suizidversuchen und Suiziden.
Wir verfügen über eine breite Erkenntnis aus doppelblinden RCTs zur Frage, ob Antidepressiva die Anzahl von Suizidversuchen und Suiziden reduzieren. Sechs große, hochrangig publizierte Metaanalysen verglichen die Raten von Suiziden und Suizidversuchen von Patienten, die in randomisierten, doppelblinden Studien (RCTs) entweder ein Antidepressivum oder Placebo erhalten hatten:
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Gunnell et al. BMJ 2005 [1]
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Hammad et al. J Clin Psychopharmacol 2006 [2]
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Khan et al. Am J Psychiatry 2003 [3]
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Khan et al. Int J Neuropsychopharmacol 2001 [4]
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Khan et al. Arch Gen Psychiatry 2000 [5]
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Fergusson et al. BMJ 2005 [6]
Die kleinste der 6 Metaanalysen umfasste knapp 20 000, die größte knapp 90 000 Patienten. Es handelt sich im Wesentlichen um die Auswertung der Wirksamkeitsstudien von typischerweise bis 12 Wochen Dauer, in denen Suizidversuche und Suizide als schwerwiegende unerwünschte Ereignisse sorgfältig gezählt werden.
In keiner der Metaanalysen wird eine signifikant geringere Zahl von Suiziden oder Suizidversuchen in der Antidepressiva-Gruppe festgestellt, auch nicht in der Gruppe der SSRI. In der größten Metaanalyse [6] war die Rate von Suiziden und Suizidversuchen (kombiniert) unter SSRI sogar signifikant höher als unter Placebo. In einer darüber hinaus vorliegenden Analyse von doppelblinden RCTs [7] fand sich ebenfalls weder für die 77 Kurzzeit- (bis 8 Wochen), noch für die 8 Langzeitstudien ein Anhalt für weniger Suizidversuche oder Suizide unter Antidepressivum als unter Placebo.
2.
Es ist erstaunlich, dass die DGPPN keine dieser einschlägigen Analysen erwähnt, sondern als einzige Quelle zu dieser Fragestellung eine ganz andere Publikation [8] anführt.
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Die von der DGPPN zitierte Arbeit [8] enthält keine Aussagen zu Suizidalität. Vermutlich meint die DGPPN Gibbons et al. [9].
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Die DGPPN schreibt, dass 51 Studien in die Analyse von Gibbons et al. eingeflossen seien. Tatsächlich sind es nur 41.
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Es handelt sich um die kleinste Analyse zu dieser Fragestellung mit lediglich gut 9000 Patienten.
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Die Analyse von Gibbons et al. beschränkt sich auf 2 Antidepressiva (Fluoxetin und Venlafaxin).
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Im Unterschied zu den 6 oben genannten Metaanalysen verwenden Gibbons et al. kein hartes Outcomekriterium (Suizidversuche und Suizide), sondern beziehen sich maßgeblich auf das Item 3 auf der Hamilton-Depressionsskala (Lebensüberdruss-Todeswunsch-Suizidgedanken-Suizidversuche) [10]. Die Skala ist jedoch nur für ihren Summenscore validiert, der Wert einzelner Items für eine valide wissenschaftliche Analyse ist zweifelhaft. Zu Suiziden und Suizidversuchen kann die Analyse letztlich keine Aussagen treffen, da im Verlauf aller Antidepressiva- und Placebotherapien nur zwei Suizide (je einer unter Fluoxetin und Placebo) und 11 Suizidversuche (Aufteilung nicht mitgeteilt) auftraten.
3.
Die DGPPN stellt sich mit ihrer Stellungnahme in Widerspruch zu der von ihr selbst initiierten und koordinierten S3-Leitlinie Unipolare Depression [11], in der es in Empfehlung 3-87 heißt: „Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität sollten Antidepressiva nicht eingesetzt werden.“
Zusammenfassend ist festzustellend, dass die Frage, ob Antidepressiva bei kurzfristigem und mittellangem Einsatz Suizide und Suizidversuche reduzieren auf einer breiten, qualitativ hochwertigen Datenbasis leider verneint werden muss. Diese Erkenntnis ist nicht zu verwechseln mit der ebenfalls diskutierten Frage, ob Antidepressiva Suizidalität sogar induzieren. Hierfür gibt es Hinweise, aber die Erkenntnislage ist schwächer und weniger eindeutig.
Prof. Dr. Tom Bschor
Abteilung für Psychiatrie, Schlosspark-Klinik
Heubnerweg 2, 14059 Berlin
Tel.: + 49/30/3264-1352/3
Fax: + 49/30/3264-1350
Dr. Ingrid Munk
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum Neukölln
Rudower Str. 48, 12351 Berlin
Tel.: + 49/30/130 142270
Fax: + 49/30/130 143424
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Literatur
- 1 Gunnell D, Saperia J, Ashby D. Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and suicide in adults: meta-analysis of drug company data from placebo controlled, randomised controlled trials submitted to the MHRA’s safety review. BMJ 2005; 330: 385-389
- 2 Hammad TA, Laughren TP, Racoosin JA. Suicide rates in short-term randomized controlled trials of newer antidepressants. J Clin Psychopharmacol 2006; 26: 203-207
- 3 Khan A, Khan S, Kolts R et al. Suicide rates in clinical trials of SSRIs, other antidepressants, and placebo: analysis of FDA reports. Am J Psychiatry 2003; 160: 790-792
- 4 Khan A, Khan SR, Leventhal RM et al. Symptom reduction and suicide risk in patients treated with placebo in antidepressant clinical trials: a replication analysis of the Food and Drug Administration Database. Int J Neuropsychopharmacol 2001; 4: 113-118
- 5 Khan A, Warner HA, Brown WA. Symptom reduction and suicide risk in patients treated with placebo in antidepressant clinical trials: an analysis of the Food and Drug Administration database. Arch Gen Psychiatry 2000; 57: 311-317
- 6 Fergusson D, Doucette S, Glass KC et al. Association between suicide attempts and selective serotonin reuptake inhibitors: systematic review of randomised controlled trials. BMJ 2005; 330: 396-402
- 7 Storosum JG, van Zwieten BJ, van den Brink W et al. Suicide risk in placebo-controlled studies of major depression. Am J Psychiatry 2001; 158: 1271-1275
- 8 Gibbons RD, Hur K, Brown CH et al. Benefits from antidepressants synthesis of 6-week patient-level outcomes from double-blind placebo-controlled randomized trials of fluoxetine and venlafaxine. Arch Gen Psychiatry 2012; 69: 572-579
- 9 Gibbons RD, Brown CH, Hur K et al. Suicidal thoughts and behavior with antidepressant treatment reanalysis of the ran-domized placebo-controlled studies of fluoxetine and venlafaxine. Arch Gen Psychiatry 2012; 69: 580-587
- 10 Hamilton M. A rating scale for depression. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1960; 23: 56-62
- 11 DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression. 1.. Auflage Berlin, Düsseldorf: DGPPN, ÄZQ, AWMF; 2009. Internet: www.dgppn.de www.versorgungsleitlinien.de www.awmf-leitlinien.de
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Gunnell D, Saperia J, Ashby D. Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and suicide in adults: meta-analysis of drug company data from placebo controlled, randomised controlled trials submitted to the MHRA’s safety review. BMJ 2005; 330: 385-389
- 2 Hammad TA, Laughren TP, Racoosin JA. Suicide rates in short-term randomized controlled trials of newer antidepressants. J Clin Psychopharmacol 2006; 26: 203-207
- 3 Khan A, Khan S, Kolts R et al. Suicide rates in clinical trials of SSRIs, other antidepressants, and placebo: analysis of FDA reports. Am J Psychiatry 2003; 160: 790-792
- 4 Khan A, Khan SR, Leventhal RM et al. Symptom reduction and suicide risk in patients treated with placebo in antidepressant clinical trials: a replication analysis of the Food and Drug Administration Database. Int J Neuropsychopharmacol 2001; 4: 113-118
- 5 Khan A, Warner HA, Brown WA. Symptom reduction and suicide risk in patients treated with placebo in antidepressant clinical trials: an analysis of the Food and Drug Administration database. Arch Gen Psychiatry 2000; 57: 311-317
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- 8 Gibbons RD, Hur K, Brown CH et al. Benefits from antidepressants synthesis of 6-week patient-level outcomes from double-blind placebo-controlled randomized trials of fluoxetine and venlafaxine. Arch Gen Psychiatry 2012; 69: 572-579
- 9 Gibbons RD, Brown CH, Hur K et al. Suicidal thoughts and behavior with antidepressant treatment reanalysis of the ran-domized placebo-controlled studies of fluoxetine and venlafaxine. Arch Gen Psychiatry 2012; 69: 580-587
- 10 Hamilton M. A rating scale for depression. J Neurol Neurosurg Psychiatry 1960; 23: 56-62
- 11 DGPPN, BÄK, KBV, AWMF, AkdÄ, BPtK, BApK, DAGSHG, DEGAM, DGPM, DGPs, DGRW (Hrsg) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression. 1.. Auflage Berlin, Düsseldorf: DGPPN, ÄZQ, AWMF; 2009. Internet: www.dgppn.de www.versorgungsleitlinien.de www.awmf-leitlinien.de