Suizide und Suizidversuche
Suizidalität ist für unsere Kolleginnen und Kollegen am Allgemeinkrankenhaus ein häufiges
Thema. Sei es, dass wir die Menschen konsiliarisch auf den Intensivstationen untersuchen,
oder sie an unseren Kliniken weiterbehandeln: Der Umgang mit suizidalen Menschen und
ihren Angehörigen gehört zu unseren zentralen Aufgaben. Die Behandlung ist hierbei
nicht vorrangig eine pharmakologische, sondern erfordert die Entwicklung einer tragfähigen
therapeutischen Beziehung.
Hierfür sind eine ausreichende Personalausstattung und entsprechend geschulte Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter erforderlich, wofür ackpa sich stets in der Vergangenheit stark gemacht
hat und auch in Zukunft mit aller Kraft einsetzen wird.
Wir publizieren an dieser Stelle eine Ergänzung von zwei aktiven Mitgliedern des „ackpa-Qualitätszirkels
Psychopharmakologie“ zu zwei Stellungnahmen der DGPPN. Uns ist es wichtig, eine –
gegebenenfalls auch kontroverse – Diskussion zu ermöglichen. Es entspricht dem Selbstverständnis
von ackpa, dass wissenschaftliche Einschätzungen, gerade auch wenn sie nicht im Einklang
mit psychiatrischen Meinungsführern sind, auf direktem Weg, ohne komplizierte Entscheidungsprozesse
innerhalb von Fachgesellschaften oder aufwändige Review-Verfahren, unmittelbar den
klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen zur Kenntnis gelangen. Daher hat ackpa sich
zur Veröffentlichung hier auf den ackpa-Mitteilungsseiten entschieden.
Antidepressiva verringern nicht die Rate an Suizidversuchen oder Suiziden
Tom Bschor und Ingrid Munk
Erklärung zu den Publikationen der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) vom März 2013
In einer Stellungnahme sowie einer Presseinformation (www.dgppn.de/publikationen/stellungnahmen.html) vom März 2013 geht die DGPPN auf den Zusammenhang von Suizidalität und Antidepressiva-Verordnungen
ein. Die Presseinformation ist mit den Worten überschrieben:
In der Stellungnahme wird mitgeteilt:
-
„Jede erfolgreiche Therapie, ob Pharmako- oder Psychotherapie, kann Suizidalität verhindern;
das gilt insbesondere für eine Behandlung mit SSRI.“
-
„Pharmakotherapie stellt zusammen mit Psychotherapie die Grundlage einer evidenzbasierten
Depressionsbehandlung dar und damit auch der Suizidprävention.“
-
„Eine Erhöhung der Rate an Suizid und Suizidversuchen bei Erwachsenen durch Antidepressiva,
insbesondere SSRI, ist nicht bewiesen. Man muss eher vom Gegenteil ausgehen.“
Dazu stellen wir fest:
1.
Die Formulierungen von Stellungnahme und Presseinformation suggerieren eine suizidverhindernde
Wirkung von Antidepressiva. Die Verwendung des Sammelbegriffes „Suizidalität“ durch
die DGPPN für, wie die Autoren es definieren, „suizidales Denken, Suizidversuch und
den vollendeten Suizid“ vermengt das Auftreten suizidaler Gedanken mit Suiziden und
Suizidversuchen. Die Stellungnahme der DGPPN lässt sich daher so interpretieren, als
gebe es wissenschaftliche Beweise für eine suizid- und suizidversuchsenkende Wirkung
von Antidepressiva. Die Überschrift der Presseinformation („Antidepressiva helfen
Selbstmorde zu verhindern“) drückt dies sogar explizit aus. Dies ist aber nicht zutreffend.
Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und hieraus abgeleitete Metaanalysen gelten
als die methodisch hochwertigste Grundlage zur Beforschung von Arzneimittelwirkungen.
Ferner ist es in der medizinischen Wissenschaft Konsens, dass nach Möglichkeit harte,
patientenrelevante Outcomeparameter herangezogen werden sollen. Dies ist bei der genannten
Fragestellung die Anzahl von Suizidversuchen und Suiziden.
Wir verfügen über eine breite Erkenntnis aus doppelblinden RCTs zur Frage, ob Antidepressiva
die Anzahl von Suizidversuchen und Suiziden reduzieren. Sechs große, hochrangig publizierte
Metaanalysen verglichen die Raten von Suiziden und Suizidversuchen von Patienten,
die in randomisierten, doppelblinden Studien (RCTs) entweder ein Antidepressivum oder
Placebo erhalten hatten:
-
Gunnell et al. BMJ 2005 [1]
-
Hammad et al. J Clin Psychopharmacol 2006 [2]
-
Khan et al. Am J Psychiatry 2003 [3]
-
Khan et al. Int J Neuropsychopharmacol 2001 [4]
-
Khan et al. Arch Gen Psychiatry 2000 [5]
-
Fergusson et al. BMJ 2005 [6]
Die kleinste der 6 Metaanalysen umfasste knapp 20 000, die größte knapp 90 000 Patienten.
Es handelt sich im Wesentlichen um die Auswertung der Wirksamkeitsstudien von typischerweise
bis 12 Wochen Dauer, in denen Suizidversuche und Suizide als schwerwiegende unerwünschte
Ereignisse sorgfältig gezählt werden.
In keiner der Metaanalysen wird eine signifikant geringere Zahl von Suiziden oder
Suizidversuchen in der Antidepressiva-Gruppe festgestellt, auch nicht in der Gruppe
der SSRI. In der größten Metaanalyse [6] war die Rate von Suiziden und Suizidversuchen (kombiniert) unter SSRI sogar signifikant
höher als unter Placebo. In einer darüber hinaus vorliegenden Analyse von doppelblinden
RCTs [7] fand sich ebenfalls weder für die 77 Kurzzeit- (bis 8 Wochen), noch für die 8 Langzeitstudien
ein Anhalt für weniger Suizidversuche oder Suizide unter Antidepressivum als unter
Placebo.
2.
Es ist erstaunlich, dass die DGPPN keine dieser einschlägigen Analysen erwähnt, sondern
als einzige Quelle zu dieser Fragestellung eine ganz andere Publikation [8] anführt.
-
Die von der DGPPN zitierte Arbeit [8] enthält keine Aussagen zu Suizidalität. Vermutlich meint die DGPPN Gibbons et al.
[9].
-
Die DGPPN schreibt, dass 51 Studien in die Analyse von Gibbons et al. eingeflossen
seien. Tatsächlich sind es nur 41.
-
Es handelt sich um die kleinste Analyse zu dieser Fragestellung mit lediglich gut
9000 Patienten.
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Die Analyse von Gibbons et al. beschränkt sich auf 2 Antidepressiva (Fluoxetin und
Venlafaxin).
-
Im Unterschied zu den 6 oben genannten Metaanalysen verwenden Gibbons et al. kein
hartes Outcomekriterium (Suizidversuche und Suizide), sondern beziehen sich maßgeblich
auf das Item 3 auf der Hamilton-Depressionsskala (Lebensüberdruss-Todeswunsch-Suizidgedanken-Suizidversuche)
[10]. Die Skala ist jedoch nur für ihren Summenscore validiert, der Wert einzelner Items
für eine valide wissenschaftliche Analyse ist zweifelhaft. Zu Suiziden und Suizidversuchen
kann die Analyse letztlich keine Aussagen treffen, da im Verlauf aller Antidepressiva-
und Placebotherapien nur zwei Suizide (je einer unter Fluoxetin und Placebo) und 11
Suizidversuche (Aufteilung nicht mitgeteilt) auftraten.
3.
Die DGPPN stellt sich mit ihrer Stellungnahme in Widerspruch zu der von ihr selbst
initiierten und koordinierten S3-Leitlinie Unipolare Depression [11], in der es in Empfehlung 3-87 heißt: „Zur speziellen akuten Behandlung der Suizidalität
sollten Antidepressiva nicht eingesetzt werden.“
Zusammenfassend ist festzustellend, dass die Frage, ob Antidepressiva bei kurzfristigem
und mittellangem Einsatz Suizide und Suizidversuche reduzieren auf einer breiten,
qualitativ hochwertigen Datenbasis leider verneint werden muss. Diese Erkenntnis ist
nicht zu verwechseln mit der ebenfalls diskutierten Frage, ob Antidepressiva Suizidalität
sogar induzieren. Hierfür gibt es Hinweise, aber die Erkenntnislage ist schwächer
und weniger eindeutig.
Prof. Dr. Tom Bschor
Abteilung für Psychiatrie, Schlosspark-Klinik
Heubnerweg 2, 14059 Berlin
Tel.: + 49/30/3264-1352/3
Fax: + 49/30/3264-1350
bschor@schlosspark-klinik.de
www.schlosspark-klinik.de
Dr. Ingrid Munk
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum Neukölln
Rudower Str. 48, 12351 Berlin
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Fax: + 49/30/130 143424
ingrid.munk@vivantes.de
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