Z Orthop Unfall 2013; 151(05): 427-429
DOI: 10.1055/s-0033-1360403
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ): Im Zweifel für die Lebensqualität – auch mal ohne Profis

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Publication Date:
24 October 2013 (online)

 

Die Pflegefachfrau und MSc Organizational Development Mechtild Willi Studer (Jahrgang 1959) ist seit 9 Jahren Leiterin des Pflegemanagements des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) in Nottwil. (Pflegefachfrau ist der Schweizer Diplomtitel nach einem Fachhochschulstudium in Gesundheits- und Krankenpflege).

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Die Pflegefachfrau Helene Lustenberger (Jahrgang 1966) betreut beatmete Patienten im SPZ und bei ParaHelp – einer weiteren Sparte der Schweizer Paraplegiker-Stiftung für die ambulante Versorgung der Betroffenen.

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Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum, einer Spezialklinik für die Versorgung beatmungspflichtiger Patienten, setzt man vor allem auf die Patientenautonomie. 24 h Beobachtung und Pflege rund um die Uhr durch Profis, so erklären zwei Pflegefachfrauen, sei dafür längst nicht immer nötig.

? Wie viele Menschen erleiden im Jahr in der Schweiz neu eine Querschnittlähmung?

Studer (S): Im Durchschnitt etwa einer pro Tag, an die 200 – 300 Betroffene im Jahr.

? Die meisten sind Unfallopfer?

S: Nein. Durch die Unfallverhütungsmaßnahmen ist die Zahl der Verkehrsopfer mit Querschnittlähmung zum Glück gesunken. Gleichzeitig nehmen jedoch immer verrücktere und riskantere Freizeitbeschäftigungen als Ursache zu. Auch Tumore und neuromuskuläre Erkrankungen machen bereits etwa die Hälfte aller krankheitsbedingten Querschnittlähmungen aus.

? Angenommen, ich erleide einen Unfall mit Querschnittlähmung als Folge, wo werde ich danach in der Schweiz als erstes versorgt?

S: Die Betroffenen kommen an ein Polytraumazentrum.

? Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ), an dem Sie beide arbeiten, ist eines davon?

S: Nein. Wir betreiben zwar eine Wirbelsäulenchirurgie mit dem notwendigen Know-How, OPs, Intensivpflegestation und allem, was es für die Akutversorgung braucht. Aber unser Schwerpunkt ist neben der Akutversorgung die Rehabilitation, einschließlich der Betreuung der Patienten mit Querschnittlähmung nach ihrer Entlassung.

? Will sagen, viele Patienten kommen erst nach der Erstversorgung zu Ihnen?

S: Die meisten, ja. Das SPZ ist das Klinikum der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, die sich auf die Versorgung von Patienten mit Querschnittlähmung spezialisiert hat.

? Übernimmt die Stiftung auch die Kosten der Behandlung?

S: Das ist jeweils zur Hälfte Sache der Kassen, oder bei einem Unfall der Unfallversicherungen, sowie zur anderen Hälfte der Kantone. Die Stiftung trug im Jahr 2012 ungedeckte Pflegekosten von rund 4 Mio. CHF.
Unsere Stiftung springt aber finanziell ein, wenn es später Kosten, etwa Pflegekosten gibt, die von keinem Kostenträger übernommen werden. Förderer haben bei einer unfallbedingten Querschnittlähmung Anspruch auf Hilfen in Höhe von maximal 200 000 CHF– etwa für einen erforderlichen Umbau der Wohnung oder des Fahrzeugs.

? Gibt es weitere Zentren für die Versorgung Querschnittgelähmter in der Schweiz?

S: Ja. In Zürich gibt es das Balgrist, ebenfalls getragen von einer Stiftung und an eine Universität angebunden. In Basel gibt es das REHAB, ebenfalls mit einer Stiftung dahinter. Die 4. Institution liegt im Wallis, die Rehaklinik Sion, die von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt, Suva, betrieben wird.

? Ein Schwerpunkt bei Ihnen in Nottwil ist die Versorgung von Patienten mit Hoher Querschnittlähmung, die auf eine künstliche Beatmung angewiesen sind…

Lustenberger (L): Ja, das sind zwar nur einige Dutzend Menschen in der Schweiz...

S: Aber in der Tat überweisen auch andere Institutionen beatmungspflichtige Patienten in der Regel zu uns, auch für einen Weaning-Auftrag. Wir sind für diese Patienten heute in der Schweiz eine bevorzugte Adresse. Die hohe Kompetenz dazu haben wir uns in den letzten 10 Jahren erarbeitet.

? Wie leben solche Patienten heute in der Schweiz? Können Sie nach der Reha wieder nach Hause?

L: Oh ja. Selbst von den Patienten, die 24 h am Tag beatmet werden müssen, gehen 2 / 3 wieder nach Hause. 1 / 3 geht auf eigenen Wunsch in eine spezialisierte Pflegeinstitution, von denen es Einrichtungen gibt, die wir mit aufgebaut haben. Zuvor sind alle Patienten aber in der Regel etwa ein Jahr hier bei uns.

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(© Fotolia. Peter Atkins)

? Recht lange …

L: Erfreulicherweise ist diese Zeit deutlich kürzer geworden. Als ich vor 10 Jahren hier angefangen habe, gab es Patienten, die sogar 2 oder 3 Jahre hier waren. Das eine Jahr brauchen wir, um unsere Patienten für ein Leben draußen vorzubereiten. Und nicht nur sie, vor allem auch Angehörige und die Pflegenden vor Ort, die später die Betreuung und Pflege übernehmen werden.

S: Eine gewisse Zeit der stationären Rehabilitation wird immer nötig sein. Ein Austritt direkt von der Intensivstation nach Hause mit einer Vollbeatmung wäre in jeder Hinsicht riskant. Gerade für das soziale Umfeld ist es wichtig, dass die Menschen erkennen, wie Pflege und Betreuung in einer häuslicheren Umgebung funktionieren.

? Wie machen Sie das, die Familie kommt in die Klinik und arbeitet mit?

L: Durchaus. Wir schulen alle. Am wichtigsten ist es, die Betroffenen zu schulen. Diese sollen und können dann später ihre Pflegenden, Angehörigen, aber auch Laien, instruieren. Wir bieten auch Kurse für externes Personal an.

? Ein Beispiel? Nötig ist gewiss ein sichererer Umgang mit dem Beatmungsgerät?

L: Natürlich. Sie müssen aber unterscheiden, nicht alle Patienten werden invasiv beatmet. Manche kommen vielleicht auch 24 h am Tag mit einer Atemmaske aus, oder brauchen sie nur nachts oder nur bei Bedarf. Andere benötigen 24 h die invasive Beatmung über eine Trachealkanüle, wieder andere nur für 12 h. Das sind ganz unterschiedliche Schweregrade, die ihre eigenen Ansprüche an die Versorgung haben und wo natürlich alle den Umgang mit ihren Geräten erst lernen müssen.

? Was üben Sie noch?

L: Wir können bei sehr vielen, auch schwer gelähmten Betroffenen eine Ersatzatmung trainieren, mit der sie sich im Notfall für ein paar Minuten selber über Wasser halten können. Das heißt Froschatmung, da wird mittels modifizierter Schluckbewegung Luft in die Lunge gepresst.

? Das geht, obwohl ich gelähmt bin?

L: Es ist sogar einfacher, das einem Gelähmten beizubringen als einem Nicht-Gelähmten. Viele Patienten haben noch eine gewisse funktionierende Restmuskulatur. Und die kann auftrainiert werden.

? Wie viel professionelle Aufsicht und Pflege ist nach der Entlassung nötig? Man stelle sich vor, nachts fällt plötzlich das Beatmungsgerät aus …

S: Ein Restrisiko bleibt immer. Das wird mit der Entscheidung, mit einer Beatmung zu Hause zu leben, in Kauf genommen zugunsten von mehr Lebensqualität.

? Was meinen Sie?

L: In Deutschland wird das anders befolgt. Eine professionelle Pflegeperson muss dort rund um die Uhr gerade für solche Notfälle anwesend sein. Das sehen wir hier nicht so. Wenn Angehörige den Wunsch haben und es sich zutrauen, ihre Betroffenen zu versorgen, dann können und dürfen sie bei uns diese Pflege übernehmen, respektive mithelfen. Wir schulen sie dafür zuvor intensiv. Zusätzlich überlegen wir natürlich immer zusammen mit allen, wie viel professionelle Pflege dann noch nötig ist und organisieren sie über die Spitex.

? Spitex?

S: Die ambulante Pflege ist in der Schweiz per Gesetz eine kommunale Aufgabe. Spitex steht für spitalexterne Hilfe, Gesundheits- und Krankenpflege – das sind Non-Profit als auch kommerzielle Pflegedienste [ 4 ].

L: Aber wie schon gesagt, es gibt kein Gesetz, das professionelle Pflegekräfte 24 h am Tag vor Ort fordert. Ich kenne in der Schweiz überhaupt nur einen Fall, bei dem eine 24-h-Betreuung organisiert wurde.

? Aber angenommen, ich wünsche als Patient solch eine Rundumbetreuung durch einen Pflegedienst, bekomme ich sie dann in der Schweiz über Kassen, Unfallversicherung und Kantone wirklich bezahlt?

S: Oft nur zum Teil. Die medizinische Behandlungspflege wird von der Krankenoder Unfallversicherung bezahlt. Im Krankheitsfall übernimmt die öffentliche Hand die Restkosten. Sie ist per Gesetz aber nur im Krankheitsfall dazu verpflichtet.

? Also wäre etwa die regelmäßige Kontrolle und Anpassung eines Beatmungsgeräts solch eine Behandlungspflege?

S: Zum Beispiel, ja. Für diese medizinische Pflege müssen Sie aber einen Eigenanteil von bis zu 15,95 CHF am Tag zahlen. Und dies ungeachtet davon, ob und wie viel Vermögen sie haben.
Außerdem kennen wir die Betreuungsleistungen. Das ist Hilfe beim Essen, Aufstehen, Einkaufen, Versorgung der Wohnung, Gang zur Toilette und mehr – die Grundpflege. Dafür gibt es Leistungen aus der Invalidenversicherung als so genannte Hilflosenentschädigung. Gezahlt wird in drei verschiedenen Höhen, je nach Pflegestufe. Am Ende aber müssen Betroffene in der Regel die gesamten Kosten für diese Betreuungsleistungen selber zahlen und das sind schnell einige 10 000 CHF im Monat. Dafür reichen die Versicherungsleistungen oft nicht aus.

? Und ich muss dann für die Betreuung notfalls auch mein Vermögen einsetzen?

S: Für viele Querschnittgelähmte kann das so passieren, ja. Es gibt Freibeträge: 37 500 CHF für eine einzelne Person und 60 000 CHF für ein Ehepaar. Alles, was Sie darüber hinaus an Vermögen haben, müssen Sie einsetzen.

? Ein Haus?

S: Ein Haus oder eine Wohnung bis zum Wert von 300 000 CHF, muss nicht veräußert werden, wenn Sie selber darin wohnen. Darüber hinaus müssen Sie unter Umständen eine Hypothek aufnehmen. Die Finanzierung der Betreuung ist ein Riesenproblem in der Schweiz und das Thema Sozialversicherungen ein Dschungelbuch an Vorschriften. Und wir sehen in der Tat Fälle, bei denen eine Betreuung auch aus finanziellen Gründen nur mit großer Mithilfe der Angehörigen geht.

? Also gibt es durchaus finanziellen Druck auf Angehörige, Pflege zu übernehmen?

L: Nein, bei unserem Konzept für beatmungspflichtige Patienten steht der Kostenfaktor ganz sicher nicht im Vordergrund. Außerdem ist just diese Gruppe Querschnittgelähmter bei den Finanzen auch eher im Vorteil. Solange Sie noch nicht älter als 65 Jahre sind, können Betroffene bei einer krankheitsbedingten Querschnittlähmung von der Invalidenversicherung obendrein noch einen Assistenzbeitrag erhalten. Zusammen mit der Rente und der Hilflosenentschädigung kann das knapp reichen, um alles finanzieren zu können – ohne eigene Rücklagen anzutasten.

S: Wobei etliche Betroffene dann aus Kostengründen für die Betreuung auch ungelernte Kräfte aus dem Ausland engagieren. Mit Profis allein geht diese Rechnung längerfristig nicht auf. Und deshalb erachten wir es als Auftrag von unseren Patienten, auch dieses Laienpersonal zu schulen.

? Stellt sich erneut die Frage – können Laien diese Betreuung übernehmen? Wissen sie im Notfall wirklich, was zu tun ist?

L: Ja, das geht. Die Beatmungsgeräte geben ja Alarm. Alle unsere Patienten, die 24 h beatmet sind, haben daheim immer 2 Beatmungsgeräte. Ich bleibe dabei, gut geschulte Angehörige oder Pflegende können damit umgehen, das Gerät zum Beispiel auswechseln. Außerdem organisieren wir bei Bedarf die Möglichkeit zur Videokonsultation. Angehörige oder Pflegende können bei uns rund um die Uhr anrufen und uns mit einer installierten Kamera zeigen, hier ist das Problem, was soll ich machen?

? Und mit der Telefonleitung gibt es dann kein Problem?

L: Nein. Die Zentrale ist dafür rund um die Uhr besetzt. Und die Kamera, das ist ein sicheres Programm, das geht über das Internet.

? Sind Ihre Patienten womöglich ab und an sogar völlig alleine unterwegs?

L: Es sollte eigentlich immer jemand in der Nähe sein. Wenn unterwegs dann das einzige Beatmungsgerät wider Erwarten ausfällt, muss manuell mit einem Beatmungsbeutel beatmet werden. Wobei das aber, ich wiederhole, eben auch Freunde, Angehörige, Kollegen übernehmen können.
Und wir haben Patientinnen, die sich in der Tat sogar wünschen, auch mal alleine, ohne Aufsicht etwas unternehmen zu können. Es ist die freie Entscheidung des Betroffenen, ob er dafür gewisse Restrisiken tragen will. In Deutschland gibt es da viel mehr Vorschriften, auch die, dass Beatmete eine Beobachtung rund um die Uhr brauchen.

? Auch in Deutschland kann ein Patient darauf verzichten, wenn er meint, dass es ohne geht.

S: Ja. Aber mein Eindruck ist, wir setzen in der Schweiz etwas mehr auf die Autonomie und letztlich auf die Lebensqualität der Patienten.

L: Wir haben beatmete Kinder, die wieder in eine Schule gehen, da trainiere ich dann auch den Chauffeur, die Lehrer in der Schule, damit alle im Notfall wissen, was zu tun ist.
Wir haben auch eine Patientin, die Architektur studiert. Sie hat sich selber ein Netz mit anderen Studentinnen aufgebaut, die nicht von der Pflege sind. Sie hat so 24 h am Tag eine Person um sich.

? Gibt es Leute, die wieder arbeiten können?

L: Das geht. Computer, Informatik, eine kaufmännische Lehre im Büro kann man machen. Zum Teil hat man noch Restfunktion in einer Hand. Oder man kann vielleicht noch einen Infrarotknopf über die Zunge bedienen, und damit eine Maus steuern. Aber dafür brauchen Sie als Arbeitgeber Unterstützung auf vielen Ebenen, die Sie von uns erhalten.

? Wie alt kann jemand in der Schweiz werden, der beatmungspflichtig ist?

L: Wir haben einen Patienten, der seit etwa 16 Jahren mit dieser Beatmungsnotwendigkeit rund um die Uhr lebt. Und die Zeiten steigen generell eher weiter an.

? Woran liegt das?

S: Wenn Sie mich fragen, dann liegt das an der heute umfassenderen Betreuung. Hinzu kommt die bessere soziale Integration. Wenn man zuhause gut aufgehoben ist, hat man auch weniger Komplikationen. All diese Faktoren zusammen beeinflussen die qualitative und quantitative Lebenserwartung.

? Es ist sicher Ihr Ziel, möglichst viele Leute wieder nach Hause zu kriegen?

L: So wie es von Patienten und Angehörigen gewünscht wird. Jene, die auf etwas mehr Sicherheit setzen, ziehen eher ein Heim vor.

? Es gibt in Deutschland so genannte Wohngemeinschaften, in denen beatmungspflichtige Patienten versorgt werden. Von denen haben manche offenbar einen schlechten Pflegeschlüssel …

L: Da gibt es einen Unterschied zu Deutschland. Zum Beispiel können die Spitäler in Deutschland die Patienten nach der Entlassung nicht mehr ambulant weiterbetreuen. Die Spezialisten aus dem Klinikum sind dann außen vor. Das ist schlecht. Insbesondere für beatmete Patienten ist eine nahtlose integrierte Versorgung entscheidend für den Erfolg.

? In der Schweiz bleiben Sie als Zentrum weiter in der Versorgung dabei?

L: So ist es. Die meisten Patienten werden ein Leben lang hier mitversorgt.

S: Unsere Stiftung hat ja gerade den Auftrag zur lebenslangen ganzheitlichen Begleitung aller Betroffenen mit Querschnittlähmung. Ob sie beatmet sind oder nicht, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Wir sind gegen die Ghettoisierung von beatmeten Patienten. Sie und ihre Angehörigen sollen vielmehr schnell spüren, dass sie unter anderen Menschen leben können. Wenn da nur so monitorisierte "Lazarettsituationen" sind, ist das rein mental schon eine Belastung. Mehr Lebensqualität und im Zweifel etwas weniger Sicherheit, das ist unsere Devise.

Das Interview führte Bernhard Epping

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(© Thieme Verlagsgruppe, Studio Blofield)

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