Z Orthop Unfall 2013; 151(05): 430-432
DOI: 10.1055/s-0033-1360404
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – Jörg Giesecke: Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch Profis zwingend notwendig

Further Information

Publication History

Publication Date:
24 October 2013 (online)

 

Jörg Giesecke (Jahrgang 1962) arbeitet im Sozialdienst im Zentrum für Rückenmarksverletzte des Unfallkrankenhauses Berlin. Der Diplom-Sozialarbeiter ist obendrein Sprecher für den Sozialdienst im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegie (DMGP).

Zoom Image

Der Sozialarbeiter Jörg Giesecke vom Unfallkrankenhaus Berlin schätzt die Qualität der ambulanten Versorgung von beatmungspflichtigen Querschnittpatienten heute insgesamt hoch ein. Allerdings, so seine Forderung, müssen sich die erstbehandelnden Zentren mehr auch um die Lage vor Ort kümmern.

? Hat jede Klinik in Deutschland, die Patienten mit Querschnittlähmung versorgt, solch eine Einrichtung für den Sozialdienst?

Ja, das ist überall so, neudeutsch für das Überleitungs-Management. Bei einer Querschnittlähmung sind ja alle Lebensbereiche des Patienten betroffen, seine Selbstständigkeit, Beruf, die sozialen Aspekte. Da braucht es Profis, die all diese Dinge mit dem Patienten neu klären.

? Um wie viele Patienten kümmern Sie sich?

Derzeit kommen hier bei uns 1,5 Stellen für Sozialarbeit auf 60 Betten für Querschnittgelähmte.

? Wie viele Betroffene sind es im Jahr in Deutschland?

Es sind derzeit nach Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) an die 2 000 neue Patienten mit Querschnittlähmung pro Jahr (‣ Abb. [ 1 ])

Zoom Image
Abb. 1 Neue Patienten mit Querschnittlähmung pro Jahr (Schätzwerte) (Quelle: Arbeitskreis Querschnittlähmungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung).

? Wir wollen vor allem über die Versorgung jener besonders schwer betroffenen Gruppe sprechen, die nicht mehr selber atmen kann.

Da kommen jährlich 30 bis 40 Patienten neu dazu. Allerdings sind die Zahlen schwierig. Sehr wahrscheinlich gibt es eine hohe Dunkelziffer.

? Wieso Dunkelziffer?

Viele dieser Patienten landen gar nicht in einem Querschnittzentrum, sondern in irgendeiner neurologischen Früh-Reha. Oder in einem Kreiskrankenhaus und werden daher von der Statistik der DGUV nicht erfasst. Dabei müssen querschnittgelähmte Patienten möglichst gleich in ein spezielles Zentrum.

? Erklären Sie uns bitte den Pfad der Versorgung von Anfang an. Sind Unfälle heute noch die Hauptursache?

Ihr Anteil nimmt ab. Andere Ursachen, etwa Tumorerkrankungen als Ursache nehmen zu.

? Angenommen, es ist ein Unfall, der zu einer Querschnittlähmung führt, wie überleben Patienten mit Atemschädigung überhaupt? Sie bräuchten doch akut sofort eine Beatmung, die es so schnell kaum gibt?

Viele Betroffene bilden erst nach einem Unfall ein Ödem aus, das ihre Atmungsfähigkeit auf Dauer schädigt, so dass sie noch eine Weile Luft bekommen. Es ist auch daher ganz wichtig, dass qualifizierte Hilfe schnell vor Ort ist, die beatmet, bis der Notarzt kommt.

? Wohin soll der Betroffene dann?

Der Patient sollte möglichst direkt in ein Behandlungszentrum für Querschnittgelähmte verlegt werden. Allerdings ist unbestritten, dass die operative Versorgung der Wirbelsäule auch von vielen Unfallchirurgien oder Neurochirurgien vorgenommen werden kann. Hier gilt, dass er unmittelbar nach Versorgung der Wirbelsäule in ein Querschnittzentrum verlegt werden sollte. Wir haben den Eindruck, dass viele Unfallchirurgen und Orthopäden nicht wissen, wo die Zentren sind.

? Wo sind sie?

Diese Kliniken sind alle auf der Seite der DMGP aufgeführt (5). Rehabilitation und Versorgung dieser Patienten erfordern Spezialkenntnisse. Sie brauchen aktivierende Pflege. Sie müssen zum Beispiel so vermeintlich banale Dinge wissen, dass Sie solche Leute intermittierend, an die 5-mal am Tag katheterisieren und eben nicht einfach einen Dauerkatheter anhängen. Physiotherapie, Ergotherapie, Logotherapie, und beim Beatmen erst recht: Wenn man da lange wartet, dann ist das tote Zeit.

? Lernen die Patienten wieder sprechen?

Ja. Man kann es trainieren, so dass wieder eine Kommunikation geht. Obwohl es oft schwierig bleibt, sie zu verstehen.

? Wie lange bleibt ein Patient mit einer hohen Querschnittlähmung stationär bei Ihnen?

Das ist individuell unterschiedlich. Selten verlassen Sie jedoch vor Ablauf eines halben Jahres das Klinikum. Ziel für jeden Querschnittgelähmten ist natürlich, wieder in sein eigenes soziales Umfeld zu können.

? Und klappt das?

Wenn wir uns gut kümmern, klappt das sehr oft, ja.

? Welche Betreuung braucht solch ein Patient, wenn er wieder in seiner Wohnung ist?

Bei der Beatmung muss man differenzieren. Nicht alle brauchen rund um die Uhr über ein Tracheostoma eine invasive Beatmung. Dennoch brauchen alle Betroffenen mit Atemstörung 24 h lang eine Überwachung.

? Ein Profi muss rund um die Uhr dabei sein? Eine examinierte Krankenpflegerin oder ein Pfleger?

Ja. So sehen das unsere Empfehlungen von der DMGP.

? Wie teuer ist das?

Ich habe da nur den Stundensatz im Kopf. In Berlin sind wir bei der AOK bei 28 Euro für die Pflegekräfte.

? Also mal 24 h am Tag, mal 365 Tage, das wären gut 240 000 Euro im Jahr?

Die Größenordnung, ja.

? Werden die Kosten von der Versicherung getragen?

Zum großen Teil ja. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat das in Richtlinien zur häuslichen Krankenpflege mit angesprochen (6). Man muss aber sagen, am Ende haben erst die Gerichte diese permanente Krankenbeobachtung als Behandlungspflege definiert und den Rechtsanspruch so festgelegt.

? Wer übernimmt konkret?

Das ist hochkomplex. Wir haben bei Erkrankungsfällen oder Freizeitunfällen zwei Kostenträger, die für die Pflege zuständig sind. Ein beatmeter Patient wird immer grundpflegerisch versorgt. Zuständig ist dann die Pflegekasse. Behandlungspflege hingegen, etwa alles rund um die Beatmung, ist Sache der Krankenkasse. Und damit haben wir das Dilemma.

? Wieso? Der Arzt wird vermutlich Krankenpflege rund um die Uhr verschreiben?

So ist es. Der muss bei diesen Betroffenen in Deutschland eine 24-h-Pflege rezeptieren.

? Damit wäre aber alles geregelt, damit sitzt jemand ja 24 h neben dem Bett?

Ja, aber die Frage ist, wer nun was bezahlt. Prozesse darum gingen am Ende mehrfach bis vor das Bundessozialgericht. Das hat mittlerweile entschieden: Immer dann, wenn eine Behandlungspflegekraft auch die Grundpflege mit leistet, müssen sich die gesetzliche Kranken- und Pflegekasse die Kosten teilen, da beides von einund derselben Person erbracht wird (Anm. Red., zwei Grundsatzurteile dazu sind die des Bundessozialgerichts vom 10.11.2005 – Aktenzeichen B3 KR 38/04 R und vom 17.06.2010 – Aktenzeichen B3 KR 7/09 R).

? Da sitzt womöglich in der Praxis ein- und die gleiche Person und schreibt von 12:30 bis 13:00 Uhr Grundpflege auf, danach Behandlungspflege, da nur Beobachtung?

Ja, da wird eine minutengenaue Liste erstellt. Und jetzt kommt eben doch wieder ein Finanzproblem. Denn bei der Pflegekasse haben wir einen Deckel. Eine Sachleistungsgrenze von derzeit 1 550 Euro in der höchsten Pflegestufe.

? Das heißt, die Betroffenen müssen darüber hinaus eine eventuell hohe Eigenbeteiligung aufbringen?

Ja, das ist zwar jetzt nach der neuen Rechtssprechung weniger als 1 000 Euro im Monat. Aber die hat man auch nicht immer in der Tasche.
Trotzdem halte ich das Geld nicht für das Hauptproblem. Die Finanzierung der Pflege ist in Deutschland oft gut gesichert. Das Problem ist eher, dass viele Betroffene mit ihrem Pflegedienst richtig Krach haben.

? Wieso das?

Was die permanente Anwesenheit einer Pflegekraft bedeutet, kann man sich als Gesunder eigentlich gar nicht vorstellen. Die Patienten haben keine Privatsphäre mehr.

? In der Schweiz setzt man daher auf mehr Autonomie, die ständige Beobachtung ist offenbar nicht der Regelfall.

Ich finde sie aber trotz allem wichtig und richtig.

? Sicherheit geht vor?

Schon. Natürlich machen wir so etwas niemals gegen den Willen eines Patienten. Kein Patient kann zu solch einer Beobachtung gezwungen werden. Andererseits habe ich noch nie erlebt, dass ein Patient sagt, er will gar keine Betreuung durch einen Dienst.

? Können nicht die Angehörigen übernehmen?

Ich kenne kaum überzeugende Beispiele dafür. Das heißt dann eben auch, dass in der Nacht die Ehefrau jedes Mal aufwachen und gucken muss, wenn es vielleicht Probleme mit dem Beatmungsgerät gibt. Das führt dann unter Umständen sogar schnell zur Katastrophe.

? Es gibt doch aber ein zweites Gerät für diesen Fall? Das würde dann doch automatisch anspringen?

Nein, eben nicht. Wenn Sie eine Dauerbeatmung haben und der Gerätealarm los geht, haben Sie maximal 2 Minuten Zeit, um zu reagieren, zu schauen, wo das Problem ist, um dann eventuell ein Ersatzgerät zu starten, dass Sie aktiv neu anschließen müssen. In der Zeit kann man nicht in einem Zentrum anrufen, den zuständigen Arzt an die Strippe kriegen, und dann durchgeben, welche Probleme da sind. Dafür brauchen Sie Profis vor Ort. Die DMGP fordert deshalb ja für Pflegeheime, dass bei einem Alarm eine Pflegekraft binnen 60 Sekunden am Bett sein muss.

? Ohne 24-h-Pflege geht es nicht?

Die ist eigentlich nicht zu diskutieren. Man kann und soll Angehörige natürlich mit einplanen. Angehörige sind aber aus emotionalen Gründen nicht die Geeignetsten. Wir haben immer wieder gerade bei Kindern erlebt, dass Eltern in Stresssituationen viel zu emotional reagieren.

? Und, klappt das mit den Profis alles draußen vor Ort?

Wir halten Kontakt nach draußen, fahren nach der Überleitung 1- bis 2-mal vor Ort und schauen uns um. Und es gibt immer wieder schlimme Beobachtungen.

? Bitte…

Da finden Sie dann, wie in einer Wohnung ein Beatmungsgerät in einen Schrank eingebaut ist, so dass man beim Notfall gar nicht drankommt.

? Wie kommt das?

Diese Menschen brauchen ja einen ganzen Fuhrpark an Geräten zuhause. Beatmungsgeräte 2x, Pulsoximeter 1x, Absauggeräte 2x und und.... Jetzt haben wir aber in der gesetzlichen Krankenversicherung die Ausschreibungspflicht bei Hilfsmitteln. Dadurch kommt immer häufiger vor, dass nicht ein Sanitätshaus alleine die Versorgung leistet, sondern 6, 7 verschiedene.

? Und dann werkelt und stöpselt jeder, wie er denkt?

Genau. Motto: Wieso soll ich da was für alle verbessern? Ich stecke einfach noch eine Dreiersteckdose an und mach mich vom Acker. In einem Fall haben wir einmal 15 Steckdosen ineinander gesteckt vorgefunden. Und ich kenne ähnliche Berichte aus dem ganzen Bundesgebiet.

? Da ist doch eine Pflegekraft rund um die Uhr? Die könnte doch von Anfang an einschreiten?

Sicher, sollte sie auch. Wir haben aber Pflegekräftemangel in Deutschland, und deshalb längst nicht immer die qualifiziertesten Leute vor Ort.

? Also kommen Sie Herr Giesecke und stöpseln selber alles richtig ein?

Nein. Wenn ich so etwas sehe, dann sorge ich dafür, dass die Pflegekraft das macht und dass sich so etwas nicht wiederholt. Nie wieder. Wer vor Ort ist, muss schließlich handeln. Wir können nicht jeden Patienten permanent aufsuchen. Das ist limitiert auf 2 Besuche nach der Entlassung. Auch in den WG´s wären im Übrigen mehr Besuche nötig.

? WG´s?

Die so genannten alternativen Pflegeeinrichtungen. Pro Forma gibt es da meistens 2 Träger. Einen, der die ambulante Pflege anbietet. Und einen zweiten, der die Wohnung vermietet. Das Wohnteilhabegesetz hier in Berlin sieht zwar eine strikte Trennung vor. Die aber meist nur auf dem Papier besteht. Denn häufig werden die Räume schlicht über einen Trägerverein an- und weitervermietet, den der Pflegedienst gründet.

? Und dann mache ich als Patient einen Mietvertrag für vielleicht eines von 5 Zimmern? Und es gibt Gemeinschaftsräume, in denen der Pflegedienst zum Beispiel morgens ein Frühstück für alle fünf Bewohnerinnen richtet? Die Kosten der Pflege übernimmt die Versicherung?

Genau. Und es gibt durchaus Stellen, wo das gut umgesetzt ist. Fakt ist aber, dass diese WGs zum Sparen einladen. Die Krankenkassen sind glücklich, dass es solche Einrichtungen gibt. Die sind viel billiger als normale Pflegeeinrichtungen, geschweige denn eine Pflege daheim. Für eine 1:1-Betreuung im häuslichen Bereich, fallen 4,6 Stellen an. Es gibt Wohngemeinschaften, da sind bei 5 Bewohnern jeweils nur 2 Pflegekräfte da…

? Ist das nicht ein Verstoß gegen die Vorschriften?

Das ist ein bisschen ein rechtsfreier Raum. Und es kommt immer darauf an. Angenommen, Sie haben 5 Bewohner, die nachts durchschlafen, dann schaffen das auch 2 Nachtwachen alleine. Aber es gibt eine Grenze. Wenn ich höre, bei 12 Bewohnern werden insgesamt für alle Schichten 10 examinierte Pflegekräfte eingesetzt, dann stimmt da was nicht, das ist viel zu wenig. Jedes Zentrum muss deshalb rausfahren und sich solche Einrichtungen vorher anschauen. Wir arbeiten mit einigen zusammen, mit anderen niemals.

? Lebensqualität ist ja nicht nur beatmet werden und ein ausreichender Pflegeschlüssel. Sind die Menschen glücklich?

Man kann sich das nicht vorstellen. Aber wir dürfen den Blick nicht nur darauf richten, wie wir die Betroffenen ärztlich und pflegerisch versorgt kriegen. Man muss die Leute auch beruflich integrieren.

? Geht das?

Bislang ganz selten. Einige Firmen tun sich da hervor, da könnte man derzeit Air Berlin nennen. Die Leute können mit viel Hilfe durchaus am PC arbeiten. Technische Lösungen, Software – solche Arbeiten sind möglich, ja.

? Essen? Ein Schnitzel kriege ich nicht mehr gekaut.

Doch. Es kommt drauf an, normalerweise geht das mit Hilfe. Bei ganz hoher Lähmung wird es schwierig.

? Rotwein?

(Lacht), doch doch, das geht.

? Sex?

Das ist bei einer Querschnittlähmung nicht völlig ausgeschlossen. Es ist von der Lähmungssituation abhängig. Jedes Zentrum für Querschnittgelähmte hat dafür geschulte Experten im Team. Die einem Betroffenen genau erklären können, was noch geht und was nicht.

? Ich stelle mir das plastisch vor, wenn die Pflegekraft da ständig anwesend ist. Im gleichen Raum.

Naja, mit Pragmatismus gibt es da schon Lösungen. Überwiegend sind ja Männer betroffen, und es ist doch eine positive Erfahrung, wenn die merken, dass manche Funktionen doch noch erhalten sind.

? Wie ist die Lebenserwartung für Menschen, die Beatmung brauchen?

Es gibt keine offiziellen Zahlen dazu. Bei unseren eigenen Auswertungen kamen wir retrospektiv vor vielen Jahren auf 10 bis 15 Jahre Lebenserwartung. Wir gehen davon aus, dass diese Zahlen weiter steigen.

Das Interview führte Bernhard Epping


#

Zoom Image
Zoom Image
Abb. 1 Neue Patienten mit Querschnittlähmung pro Jahr (Schätzwerte) (Quelle: Arbeitskreis Querschnittlähmungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung).