In der modernen Diabetologie geht es längst nicht mehr nur um den Blutzucker. Die Behandlung muss vielmehr den ganzen Patienten im Blick haben, sich an seiner generellen Stoffwechselsituation ausrichten und auch die Lebenssituation und die soziale Einbindung des Patienten und dessen individuelle Bedürfnisse berücksichtigen. "Wir bewegen uns immer mehr weg von der glukozentrierten und hin zu einer patientenzentrierten Behandlung", betonte Dr. Marcel Kaiser, Diabetologische Schwerpunktpraxis in Frankfurt, bei einem Post-EASD-Pressegespräch in Köln. Er führte als Beleg hierfür das gemeinsame Positionspapier der internationalen und europäischen Fachgesellschaften ADA (American Diabetes Association) und EASD (European Association for the Study of Diabetes) an, in dem explizit eine patientenzentrierte Therapie des Typ-2-Diabetes gefordert wird [
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].
Algorithmus mit Spielraum für individualisiertes Vorgehen
Der Typ-2-Diabetes ist laut Kaiser ein heterogenes Krankheitsbild, was sich in den Therapiestrategien niederschlägt: "Es ist ein Unterschied, ob wir einen hochbetagten Patienten zu behandeln haben oder eine rüstige Rentnerin, die noch sehr mobil ist, oder hingegen einen berufstätigen Mann in den besten Jahren", erläuterte der Diabetologe. Das Therapieziel muss in allen Fällen in einer ganzheitlichen Risikoreduktion bestehen. Wie diese zu erwirken ist, ist nach Kaiser individuell festzulegen und mit dem Patienten abzustimmen. Neben der Einstellung des Blutzuckers spielt hierbei vor allem das Hypoglykämierisiko eine wesentliche Rolle.
Der im ADA/EASD-Positionspapier formulierte Therapiealgorithmus sieht initial eine Änderung des Lebensstils sowie eine Therapie mit Metformin vor. Wenn dies nicht ausreichend ist, wird eine Zweifachkombination und gegebenenfalls eine Dreifachkombination sowie eine Insulintherapie empfohlen. Welches Therapeutikum im Einzelfall in der zweiten und dritten Stufe der Therapie zu wählen ist, hängt von der Situation des Patienten ab. Steht die Vermeidung einer Hypoglykämie im Vordergrund, so ist neben Metformin laut Kaiser ein GLP-1-basiertes Therapeutikum wie beispielsweise das humane-GLP-1-Analogon Liraglutid (Victoza®) einzusetzen. Dies ist ebenso der Fall, wenn therapeutisch auch eine Gewichtsreduktion anzustreben ist.
Zielkorridor statt strenger Zielmarken
Der neuen Betrachtungsweise des Diabetes mellitus trägt auch die aktuell überarbeitete Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) zur Therapie des Typ-2-Diabetes Rechnung [
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]. Denn in der neuen NVL werden keine konkreten Zielvorgaben mehr gemacht. Es wurden vielmehr Zielkorridore formuliert. So ist beispielsweise beim HbA1c-Wert ein Zielkorridor von 6,5–7,5 % angegeben, was nach Kaiser Spielraum für eine individuell angepasste Diabetestherapie lässt.
Dabei sind stets der Nutzen und die potenziellen Risiken der gewählten Substanzen insbesondere auch im Hinblick auf Hypoglykämien sowie eine Gewichtszunahme abzuwägen. Es geht zudem nicht nur um die Höhe der Blutzuckerwerte, zu den Therapiezielen gehört explizit auch die Verbesserung der Lebensqualität, der Therapiezufriedenheit und der Therapieadhärenz, zitierte der Diabetologe die NVL. Dazu Kaiser: "Starre Therapieschemata im Sinne einer Stufentherapie werden den medizinischen Erfordernissen und auch den individuellen Patienten nicht gerecht und sind nicht mehr leitlinienkonform".
Frühe optimale Diabetestherapie zahlt sich langfristig aus
Dabei sollte laut Prof. Dr. Werner Kern, Endokrinologikum Ulm, schon von Krankheitsbeginn an eine möglichst optimale Diabetestherapie erfolgen. Das zahlt sich auf lange Sicht aus: "Wird der Blutzucker von Anfang an ideal eingestellt, so profitieren die Patienten davon noch viele Jahre später", so Kern [
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]. Es kommt nach seinen Worten dann seltener zu mikro- wie auch makrovaskulären Ereignissen. Es besteht eine praktisch lineare Korrelation zwischen der kardiovaskulären Ereignisrate und der Qualität der Therapie im frühen Erkrankungsstadium, wie eine Beobachtungsstudie über einen Zeitraum von 16 Jahren dokumentiert [
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].
Aktuellen Daten einer Beobachtungsstudie zufolge konnte durch einen frühzeitigen Einsatz einer GLP-1 basierten Therapie mit Liraglutid eine ausgeprägtere HbA1c-Senkung erzielt werden als bei späterem Behandlungsbeginn. Nach dem Ergebnis der EVIDENCE-Studie [
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] wurde der HbA1c-Wert bei Patienten, die Liraglutid erst nach einer Krankheitsdauer von 10 Jahren erhielten, im Mittel um 0,76 % gesenkt, ein laut Kern "ohne Zweifel klinisch bedeutsamer Effekt". Ausgeprägter aber war mit einer HbA1c-Reduktion von 1,01 % der Therapieeffekt bei Behandlungsbeginn nach einer Krankheitsdauer von 5–10 Jahren und von sogar 1,22 %, wenn die Liraglutid-Gabe bereits in den ersten 5 Jahren nach Diagnosestellung gestartet wurde (Abb. [
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]) [
5
]. Die am stärksten ausgeprägte HbA1c-Senkung wurde mit einem Rückgang um 1,40 % bei Patienten erwirkt, die vor Liraglutid mit nur einem anderen Antidiabetikum behandelt worden waren [
5
].
Abb. 1 Die mittlere HbA1c-Reduktion unter Liraglutid ist besonders hoch, wenn die Behandlung schon frühzeitig gestartet wird [mod. nach [
5
]].
Das Fazit des Mediziners: "Liraglutid verbessert die Blutzuckereinstellung am deutlichsten bei Patienten mit kürzerer Erkrankungsdauer und geringer Vormedikation – dann also, wenn die Weichen gestellt werden für die kommenden Jahre und auch für das langfristige Risiko kardiovaskulärer Ereignisse".
Inkretin-basiert ist nicht gleich Inkretin-basiert
Nicht alle Inkretin-basierten Strategien sind gleich in ihrer Wirksamkeit und auch im Hinblick auf die Therapiezufriedenheit gibt es deutliche Unterschiede. Das belegt nach Kern eine Studie, bei der Patienten zusätzlich zu Metformin zunächst mit dem DPP-4-Hemmer Sitagliptin behandelt wurden und die Therapie nach einem Jahr auf das humane-GLP-1-Analogon Liraglutid umgestellt wurde [
6
], [
7
]. Zwar wurde durch Sitagliptin eine stabile Reduktion des HbA1c-Wertes erwirkt, die Umstellung auf Liraglutid aber führte laut Kern zu einer weiteren signifikanten Absenkung des HbA1c. Unter dem DPP-4-Inhibitor wurde ein leichter Gewichtsrückgang registriert, durch die Umstellung auf Liraglutid konnte die Gewichtsreduktion aber erheblich verstärkt werden, es resultierte eine signifikante Abnahme des Körpergewichtes um durchschnittlich 1,6 kg unter Liraglutid 1,2 mg bzw. 2,5 kg bei der 1,8 mg Dosierung [
7
].
Bemerkenswert ist nach Kern ein weiterer Effekt: Unter Liraglutid erreichten eindeutig mehr Patienten das vereinbarte Therapieziel. War dieses als HbA1c-Wert unter 7 % unter Vermeidung von Hypoglykämien und einer Gewichtszunahme definiert, so erreichten dieses Ziel unter dem DPP-4-Inhibitor rund 18 %, jedoch unter Liraglutid etwa die Hälfte der behandelten Patienten (Liraglutid 1,8 mg) bzw. rund 40 % unter 1,2 mg Liraglutid [
6
].
Patienten bevorzugten Injektion
Dies schlägt sich nach Kern in einer höheren Therapiezufriedenheit nieder: Obwohl die Behandlung nach der Umstellung statt mit Tabletten per subkutaner Injektion erfolgte und zudem initial mit mehr Übelkeit verbunden war, ergab sich insgesamt bei der Befragung der Patienten mittels eines standardisierten Fragebogens eine signifikant höhere Therapiezufriedenheit unter Liraglutid (Abb. [
2
]).
Abb. 2 Nach Umstellung der Behandlung von Sitagliptin auf Liraglutid steigt die Therapiezufriedenheit der Patienten signifikant an.
nach Pratley R et al. Diabetes Care 2012; 35: 1986–1993
Das bekräftigt eine Befragung der Patienten nach ihrer Therapiepräferenz nach Aufklärung über die Wirkung, Nebenwirkungen und Art der Anwendung. Fast 2/3 der Patienten gaben an, bei ihrer Diabetestherapie die Einnahme von Liraglutid zu bevorzugen [
8
].
Wird mit Metformin plus Liraglutid das vereinbarte Therapieziel nicht erreicht, so ist nach Kern eine Add-on-Gabe von Insulin detemir empfehlenswert. Die Behandlung bewirkt eine weitere Reduktion des HbA1c. Das geschieht Studien zufolge in aller Regel, ohne dass es zu einer Gewichtszunahme unter der Gabe des langwirksamen Insulinanalogons kommt [
9
].
Christine Vetter, Köln
Quelle: Media Lunch post-EASD: "Individualisierte Therapiekonzepte des Diabetes Typ 2 – vom Zielkorridor zum Patient Need", am 17. Oktober 2013 in Köln.
Dieser Text entstand mit freundlicher Unterstützung durch Novo Nordisk Pharma GmbH, Mainz