Empfehlungen zur Plazentarphase
Die Gültigkeit der S1 Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG)
von 2008 zur „Diagnostik und Therapie peripartaler Blutungen“ ist aktuell abgelaufen und wird
zurzeit überprüft. In dieser – nicht mehr gültigen – Leitlinie wurde empfohlen, die
manuelle Plazentalösung in die Wege zu leiten, wenn sich diese nach einer vaginalen Geburt nicht
innerhalb von 30 Minuten nach Geburt des Kindes löst und/oder wenn ein Blutverlust > 500 ml
vorliegt [[2]]. Empfehlungen zum Vorgehen während der
physiologischen Plazentarperiode bei Frauen ohne Risiken wurden in dieser nicht mehr gültigen
Fassung nicht ausgesprochen.
Auch die Leitlinie des britischen National Institute for Health and Clinical Excellence
Institute (NICE) “Intrapartum care: care of healthy women and their babies during
childbirth” von 2007 wird aktuell überarbeitet und voraussichtlich im Oktober 2014
veröffentlicht.
NICE ist ein staatliches Institut, mit der Aufgabe, evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für
Fachkräfte, aber auch für Patienten zu publizieren. An der Entstehung werden alle betroffenen
Berufsgruppen beteiligt. Die Entwicklung wird transparent dargelegt und durchläuft etliche
Stationen. Vor der Veröffentlichung wird eine Leitlinie durch externe nationale, mit dem Thema
vertraute Institutionen geprüft. Die publizierten Leitlinien werden regelmäßig revisioniert.
Im vorläufigen Entwurf vom Mai 2014, der noch nicht verabschiedet ist, werden ein modifiziertes
aktives und ein physiologisches Management der Plazentarphase unterschieden.
Im vorläufigen Entwurf der Leitlinie wird das Informieren der Frauen vor der Geburt über die
beiden Vorgehensweisen und deren jeweiligen Vor- und Nachteile betont. Nur so können sie eine
eigene informierte Entscheidung treffen.
In diesem Leitlinienentwurf wird Frauen das modifizierte aktive Vorgehen empfohlen, jedoch
sollten Frauen ohne Blutungsrisiko, die sich ein physiologisches Management wünschen, in
dieser Entscheidung unterstützt werden [[3]].
Management der Plazentarperiode Entwurf von NICE [[
3]]
Das modifizierte aktive Management beinhaltet:
-
Routineanwendung von Uterotonika (10 IU Oxytocin i. m.)
-
Zeitversetztes Trennen der Nabelschnur
-
Kontrollierter Nabelschnurzug bei Vorliegen von Lösungszeichen
Das physiologische Management beinhaltet:
-
Keine Routineanwendung von Uterotonika
-
Kein Abklemmen der Nabelschnur vor Ende der Pulsation
-
Plazentageburt durch Mitschieben der Frau
Nach der Routinegabe von Oxytocin –beim modifizierten aktiven Management – wird im vorläufigen
Entwurf empfohlen, nicht vor Ablauf der ersten Minute nach Geburt und noch vor Ablauf der
ersten 5 Min. nach Geburt abzunabeln. Falls eine Frau wünscht, dass die Nabelschnur später
als 5 Min. nach Geburt getrennt wird, sollte auch hier ihre Entscheidung unterstützt werden.
Nach diesem Leitlinienentwurf ist eine verzögerte Plazentarperiode 30 Min. nach modifiziertem
Management und 60 Min. nach physiologischem Management zu diagnostizieren.
Schönberner spricht sich dahingegen für eine zeitlich unbegrenzte Plazentarperiode aus [[4]]. Chalubinski et al. verweisen im Lehrbuch Die Geburtshilfe
darauf, dass die routinemäßige Gabe von Uterotonika eine unnötige Medikalisierung der Geburt ist
und Risikopatientinnen vorbehalten bleiben sollte. Bei gewissenhafter Beobachtung der
physiologischen Nachgeburtsperiode kann eine postpartale Blutung rasch erkannt und therapiert
werden [[4]].
Vorgehen während der Plazentarperiode in Hebammenkunde 2013 [[
5]]
Psycho-physiologische Plazentarperiode:
-
informierte Wahl der Frau, partnerschaftliche Beziehung zwischen Gebärenden und
Hebamme
-
Schutz der Intimsphäre, um Physiologie und hormonelle Regelkreisläufe zu
unterstützen
-
Ungestörter Kontakt der Mutter zu Kind und Partner
-
Abschirmung der Familie vor Schmerz, Stress, Kälte, Lärm
-
1:1 Betreuung
Abwartende Gewinnung der Plazenta:
-
Abwarten der Lösungszeichen
-
Spontane Plazentageburt durch mütterliches Schieben oder Schwerkraft
-
Keine Uterotonika
-
Trennung der Nabelschnur frühestens mit Ende des NS-Pulses, spätestens nach
Plazentageburt
Aktive Gewinnung der Plazenta:
Im Lehrbuch Hebammenkunde unterscheidet Steininger drei Vorgehensweisen: eine
psycho-physiologische Plazentarperiode sowie eine abwartende und eine aktive Gewinnung der
Plazenta [[5]].
Da in Deutschland (interdisziplinäre) Leitlinien zum Management und zu Routinemaßnahmen in der
Betreuung von Frauen bei einer physiologischen Nachgeburtsperiode fehlen und in der Literatur
sehr unterschiedliche Vorgehensweisen dargestellt sind, stellt sich die Frage, welche Routinen
in der geburtshilflichen Praxis tatsächlich angewendet werden.
Datenerhebung und -auswertung
Auf www.umfrageonline.com erstellte ich im Zeitraum Oktober bis Dezember 2013 eine Umfrage zur
Plazentageburt. Den Link zur Umfrage schickte ich an Kolleginnen mit der Bitte, diesen an andere
Hebammen und Ärztinnen und Ärzte weiterzuleiten, die in Deutschland in der Geburtshilfe tätig
sind. Die Verbreitung des Links zur Umfrage erfolgte zufällig im Schneeballsystem per E-Mail und
über soziale Netzwerke wie facebook und WhatsApp. Es handelt sich somit um einen
zufallsbasierten Querschnitt, der nicht repräsentativ für alle Hebammen und Ärztinnen und Ärzte
gilt. Das Ausfüllen des Fragebogens erfolgte online und anonym auf der Onlineplattform.
Der Fragebogen umfasste insgesamt 16 Fragen, hiervon waren 14 geschlossen und teilweise mit
zusätzlicher Freitextmöglichkeit und 2 offene Fragen. 5 Fragen bezogen sich auf die Person bzw.
auf die Einrichtung. Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse, z. T. differenziert nach
klinischer und außerklinischer Geburtshilfe, deskriptiv vorgestellt. Unberücksichtigt bleibt in
der Darstellung das Vorkommen von Risiken und Pathologien.
Ergebnisse
Teilnehmer
138 Personen nahmen an der Umfrage teil. Da der Umfragelink ungesteuert weitergeleitet wurde,
nahmen 12 Personen an der Befragung teil, die zum Zeitpunkt der Befragung nicht bzw. nicht
umfassend geburtshilflich tätig waren. Sie waren noch in Ausbildung bzw. arbeiteten als
Lehrerinnen für Hebammenkunde, als Wissenschaftlerinnen oder als Heilpraktikerinnen. Die
Antworten dieser 12 Personen wurden aus der Auswertung ausgeschlossen, da es Ziel war
herauszufinden, welche Vorgehensweisen gegenwärtig in der Geburtshilfe tatsächlich
praktiziert werden. Ausgewertet wurden 126 Fragebögen. Hiervon waren 108 Bögen von
Personen, die im Krankenhaus geburtshilflich arbeiten und 18 Bögen von Personen, die
außerklinisch Geburtshilfe leisten.
Zeitpunkt des Abnabelns
Es wurde gefragt, zu welchem Zeitpunkt üblicherweise in der Einrichtung abgenabelt wird.
Abb.
[
1
] zeigt deutlich, dass der übliche
Zeitpunkt des Abnabelns in der Klinik unter 5 Min. liegt. 75,9 % (n = 82) der befragten
Hebammen und Ärztinnen und Ärzte, die in der Klinik arbeiten, nabeln in dieser Zeit ab. In
keiner Klinik, in der die Teilnehmer arbeiten, wird länger als 20 Min. gewartet, bis die
Nabelschnur durchtrennt wird. In der außerklinischen Geburtshilfe nabeln 50,0 % der
Befragten (n = 9) im Zeitraum von 10–20 Min. ab, 38,9 % nach mehr als 20 Min. (n = 7).
Abb. 1 Zeitpunkt des Abnabelns.
Routinemaßnahmen
Auf die Frage, welche Maßnahmen routinemäßig in der Plazentarphase eingesetzt werden, waren
Mehrfachnennungen möglich (Abb.
[
2
]). Eine
deutliche Diskrepanz zwischen klinischer und außerklinischer Geburtshilfe zeigt sich beim
Einsatz von Oxytocin. 55,6 % der befragten Hebammen und Ärztinnen und Ärzte, die im
klinischen Setting arbeiten (n = 60) verabreichen nach jeder Geburt 3 IE Oxytocin i. m.
oder i. v.. Außerklinisch wird Oxytocin routinemäßig nicht eingesetzt.
Abb. 2 Routineinterventionen in der Plazentarphase.
9 der 18 Personen (50 %) der außerklinischen Geburtshilfe, haben angegeben, dass sie
„keinerlei Maßnahmen“ routinemäßig in der Plazentarphase anwenden. 2 dieser 9
Hebammen haben das „Anlegen des Kindes“ zwar als weitere Maßnahme angegeben,
verstehen Stillen jedoch vermutlich nicht als Routinemaßnahme im eigentlichen Sinne. 36
von 108 Personen (33,3 %), die im Krankenhaus arbeiten, gaben an, keine Maßnahmen als
Routine durchzuführen. Hier wird die Antwort von 6 dieser 36 Personen mit weiteren
Maßnahmen kombiniert: mit Kind anlegen, Oxytocin-Gabe, Uterus anreiben und Homöopathie.
Dies zeigt deutlich, dass die Begriffe Routineintervention und „Hands Off“ definiert
werden müssen, um eindeutige Antworten zu erhalten.
Zeitspanne bis zur manuellen Lösung
Die Ergebnisse auf die Frage, wie lange auf die Geburt der Plazenta gewartet wird, bevor eine
manuelle Lösung in die Wege geleitet wird, decken große Unterschiede zwischen
klinischer und außerklinischer Geburtshilfe auf. Die große Mehrheit der klinisch tätigen
Befragten (93,5 %, n = 101) gaben an, noch nicht geborene Plazenten innerhalb von 75
Min. manuell zu lösen, bzw. die Lösung einzuleiten. Dagegen warten 61,1 % der
außerklinisch tätigen Studienteilnehmerinnen länger als 75 Min. (n = 11) auf die
Plazentageburt, bevor sie aktiv werden (Abb.
[
3
]).
Abb. 3 Zeitspanne bis zur manuellen Lösung.
Unberücksichtigt bleibt an der Stelle allerdings, dass neben der Zeitspanne nach Geburt des
Kindes selbstverständlich der Gesundheitszustand der Frau und das Ausmaß der Blutung für
die Entscheidung relevant sind.
Zuständigkeit in der Klinik
Die Frage danach, wer üblicherweise für die Plazentageburt zuständig ist, wurde in der Gruppe
der klinisch tätigen Teilnehmer von 104 Personen beantwortet (n = 108). 84 Teilnehmerinnen
gaben an, dass die Hebamme üblicherweise zuständig ist, in 20 Fällen teilen sich Ärzte und
Hebammen die Zuständigkeit und in keinem Fall hat eine Ärztin, ein Arzt die alleinige
Verantwortung. Dies macht die Bedeutung der Plazentarphase für die Hebammenausbildung und
-forschung sehr deutlich.
Schriftlicher Standard
Die Frage, ob in der Klinik, in der sie arbeiten, ein schriftlicher Standard zur Leitung der
Plazentarphase vorliegt, wurde von 74 befragten TeilnehmerInnen verneint, 8 machten keine
Angaben und in lediglich 26 Fällen lagen solche Standards vor (n = 108).
Fazit
In Deutschland gibt es keine Leitlinie zur Betreuung von Frauen während der physiologischen
Plazentageburt und vermutlich fehlen in der Mehrheit der Kliniken schriftliche Standards zum
Vorgehen. Hier besteht meines Erachtens dringender Handlungsbedarf, insbesondere damit
die wissenschaftliche Evidence zu dieser Geburtsphase mehr Gewicht erhält.
Der Vergleich zwischen klinischer und außerklinischer Geburtshilfe zeigt deutliche
Unterschiede: In der Klinik wird deutlich früher abgenabelt (unter 5 Minuten pp), wird
mehrheitlich Oxytocin routinemäßig angewendet, werden seltener keinerlei Routinemaßnahmen
angewendet. Der Begriff Routineintervention bzw. keinerlei Maßnahmen (hands-off)
sollte – auch in Leitlinien und klinikinternen Standards – definiert werden, da in
einigen Fällen Routinemaßnahmen mit dem Item „keinerlei Maßnahmen“ kombiniert wurden.
Das gemeinsame Ziel in allen Handlungsempfehlungen und aller geburtshilflich Tätigen ist es, Frauen
vor großen Blutverlusten zu schützen. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass in der
außerklinischen Geburtshilfe, also dort wo Hebammen eigenständig arbeiten, wesentlich seltener
interveniert wird. Ich möchte die Kolleginnen in den Kliniken auffordern, sich einzumischen und
das aktuelle evidenzbasierte Wissen einzubringen und anzuwenden. Frauen sollten unterstützt
werden, sich informiert für oder gegen geburtshilfliche Interventionen zu entscheiden.