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DOI: 10.1055/s-0034-1383074
DKOU 2014 – Wissen schafft Vertrauen
DKOU 2014 – Science Creates TrustSehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Wissen beruht auf Daten, deren Interpretation ergibt Fakten. Als verantwortungsvolle Mediziner verknüpfen wir Fakten mit unseren Erfahrungen. Dies zusammen ergibt unser Können. Damit sind wir gute Mediziner. Seit Gründung unserer Gesellschaft verfolgen wir dieses Prinzip einer wissenschaftlichen Fachbetrachtung, geben Grundsätze von Generation zu Generation weiter und verstehen so unsere Entwicklung.
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Wissen ist damit die Basis für unsere heutigen Therapiemöglichkeiten und die sind das Ergebnis intensiver Forschung und Entwicklungen in Orthopädie und Unfallchirurgie. Osteoporose-, Arthritis- und Arthrosepatienten können heute von Medikamenten profitieren und Operationen seltener werden lassen. Knorpelgewebe lässt sich replizieren und bei jungen Menschen zur Defektdeckung transplantieren. Osteosyntheseimplantate und Endoprothesen sind heute knochenverträglich, bruch- und abriebsicher und werden millionenfach eingesetzt. Dank unserer Forschung wissen wir heute mehr über Allergien und Infektionen.
Das Wissen in unserer Welt akkumuliert allerdings in rasender Geschwindigkeit. Es gibt Betrachtungen, nach denen bis 1950 ein halbwegs gebildeter Mensch ein Großteil dieses Wissens lernen konnte. Seitdem versuchen Generationen von Philologen das steigende Wissen in die mehr oder weniger unverändert bestehende Schulzeitdauer unserer Kinder zu pressen. Ähnlich geht es den Studenten an den Universitäten. Das medizinische Wissen wächst ebenfalls exponentiell. Warum wundern wir uns, wenn wir in permanenten Reformen von Studiengängen trotzdem nie zur Ruhe kommen und die Nachbesserung zum Alltag geworden ist?
Die Antwort auf Wissensvermehrung bei unveränderter menschlicher intellektueller Kapazität liegt in der Differenzierung zwischen Spezialwissen und Grundwissen. Die zunehmende Komplexität verlangt Spezialisten, die sich mit Problemen bis ins Detail auskennen, aber nicht alle Probleme beherrschen. Diese müssen jedoch ein Grundwissen beherrschen, um im gemeinsamen Austausch mit anderen Spezialisten sprachfähig zu bleiben.
Orthopädie und Unfallchirurgie ist ein Fach, das auf der einen Seite diagnostisches und pathoanatomisches Wissen verlangt. Auf der anderen Seite werden manual-konservative und operative Fähigkeiten verlangt. Wir wissen heute aus der Neurophysiologie, wie sehr sich solche motorische Kompetenz aus sich wiederholenden Versuchen, Reaktionen und erneuten Versuchen ergibt. Motorische Kompetenz kann man nicht intellektuell lernen, man muss sie erfahren.
Nun ändert sich aber auch die Perspektive unserer Gesellschaft – wir akzeptieren heute keine Fehler und verstehen nicht mehr, dass Wissens- und Fähigkeitsvermehrung eigentlich mit einem dauerhaften „trial and error“ einhergeht. Wir haben mittlerweile in vielen Feldern erkannt: Innovationen der Zukunft liegen weniger in neuen Implantaten, mehr in Verfahren, die Fehler reduzieren, Sicherheit erhöhen und den Erfolg noch näher an die 100 % bringen. Nach dem Vorbild der Luftfahrtsicherheit sind hier Zentren und Register eine wesentliche Innovation. Die zertifizierten EndoCert©-Endoprothetikzentren und das Deutsche Endoprothesenregister sind die Meilensteine der letzten Jahre auf dem Weg zu mehr Sicherheit. Solche Projekte verlangen große Anstrengungen in der Versorgungsforschung, um Sicherheit und Qualität in Zahlen ausdrücken zu können und vergleichbar zu machen. Eine ähnlich fortschrittliche Entwicklung ist das deutsche Traumanetzwerk verbunden mit dem Traumaregister. Hier arbeiten Kliniknetzwerke bei der Versorgung von Schwerverletzten zusammen, um jedes Unfallopfer schnellstmöglich von einem Spezialisten versorgen zu lassen. Schwerstverletzte haben heute eine Wahrscheinlichkeit von über 80 % zu überleben. Deutschland ist hier der Vorreiter für europäische und internationale Entwicklungen.
Die Logik unserer Wissensentwicklung bedeutet für die deutsche Orthopädie und Unfallchirurgie eine viel intensivere Auseinandersetzung mit der notwendigen Spezialisierung, als das bisher geschehen ist. Wenn wir verstanden haben, dass es nur mit zunehmender Spezialisierung weitergeht, müssen wir sinnvolle Gebiete definieren. Wir müssen als deutsche Orthopäden und Unfallchirurgen für unsere junge Generation klare Spezialisierungsfelder definieren und eine Spezialisierung nicht der freien Entwicklung überlassen. Wir müssen aber auch verstehen, das die Versorgungsrealität einen Einfluss auf die Spezialisierung hat. Insbesondere in der Versorgung von Unfallpatienten greifen Mechanismen, die ein breiteres operatives Spektrum notwendig machen als in der Behandlung von elektiven Patienten. Aber wir müssen solche Traumatologen als Spezialisten verstehen und entwickeln, nicht als Kollegen für das gesamte Fach. Die Forderung nach einem Generalisten ist ebenso obsolet wie die alte Debatte Spezialist vs. Generalist. Heute muss definiert werden, welche Therapieformen sich sinnvoll zusammenfassen lassen, welches Basiswissen über das gesamte Fach der Kollege benötigt und welche Formen der kollegialen Zusammenarbeit für die Zukunft notwendig sind.
Schon heute funktionieren viele Kliniken mit Departments oder Sektionen. Unsere Qualitätsanstrengungen mit EndoCert© und TRAUMA-Netzwerken treiben die Entwicklung, man muss selektionieren oder größer, spezialisierter werden. Spezialisierung bedeutet daher, dass man sich entscheiden muss. Wir sind an ordnungs- und gesundheitspolitische Veränderungen gewöhnt, mit zunehmender Spezialisierung nehmen wir uns jedoch unsere Flexibilität, auf solche Veränderungen zu reagieren. Das verhindert unsere Entwicklung, obwohl wir die Notwendigkeit der Entwicklung zu mehr Spezialisierung irgendwie längst alle verstanden haben.
So ist die Geschichte der Orthopädie und Unfallchirurgie eine einzige Zeitreise in die Spezialisierung, wobei jede Generation immer noch einen universellen Anspruch auf einen Großteil der von ihr beherrschten Medizin gestellt hat und die Entwicklung am liebsten angehalten hätte. Im 18. Jh. haben Bader Zähne gezogen und Gelenke bandagiert, im 19. Jh. haben sich Orthopäden und Chirurgen entwickelt, und im 20. Jh. sich die Unfallchirurgen als Spezialität der Chirurgie definiert. Unsere Fachgesellschaft Orthopädie und Unfallchirurgie bildet nun einen gemeinsamen Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie aus, der genau das Basiswissen für die Kommunikation unter Spezialisten beherrschen muss. Aber danach kommt seine Spezialisierung und diese müssen wir in der nächsten Dekade gestalten und lenken.
Müssen wir nun bei dieser Entwicklung mit aller Kraft noch mehr Wissen generieren? Geht es ohne Innovationen, ohne neue Forschung und Therapieentwicklungen?
Wer zu den vielen erfolgreich Behandelten gehört, kann sich heute auf ein funktionierendes Skelettsystem verlassen, genießt hohe Lebensqualität und ist sogar wieder sportfähig. Wer gesund ist, schaut auf seine Krankenkassenbeiträge und wünscht sich Kostenkontrollen – dies allerdings ist die Arroganz der Gesunden.
Selbst bei einer der erfolgreichsten chirurgischen Therapien der Nachkriegszeit, der Endoprothetik mit Prothesenstandzeiten über 96 % nach 15 Jahren, gibt es Schicksale. Wir müssen akzeptieren, dass Wissen und Erkenntnisse über spezielle Eigenschaften unserer Kunstimplantate verzögert wahrgenommen werden können. Wir müssen akzeptieren, dass die bakterielle Infektion von Kunstimplanataten nicht beseitigt, sondern nur verringert ist. Wir müssen vor allem aber auch akzeptieren, dass die Gesellschaft sich verändert. Mit Alterung und Adipositas werden wir mehr komplizierte Frakturen im Alter erleben und auch elektive Operationen entsprechend anpassen müssen.
Uns steht heute ein breites Spektrum an medikamentösen, operativen und physikalisch-manuellen Behandlungsmöglichkeiten zu Verfügung. Nicht alle Verfahren sind hinreichend bewertet – dafür brauchen wir die Wissenschaft. Aber schon heute müssen wir als Orthopäden und Unfallchirurgen ein vertrauensvoller Berater unserer Patienten sein, der hilft, in dem breiten Spektrum der Therapieangebote zurechtzukommen. Anders als in der Vergangenheit sollen Patienten in alle Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Sie sollen die objektiven Vor- und Nachteile sowie Risiken der Therapien erfahren. Information ist ärztliche Zukunftsaufgabe. Dadurch stärken wir das Vertrauen zwischen Ärzten und Patienten.
Aber Vertrauen bedeutet auch, dass wir das Fach weiterentwickeln, dass wir nach Verbesserungen suchen und für die Herausforderungen der Zukunft neue notwendige Konzepte erarbeiten. Dafür brauchen wir die Wissenschaft und das Vertrauen der Patienten, dass wir verantwortungsvoll mit ihr umgehen.
In diesem Sinne müssen wir uns mit dem Wissen auseinandersetzen und dessen Konsequenzen aktiv lenken. Der wissenschaftliche Diskurs findet in herausragenden Zeitschriften und auf Kongressen statt. Wir wünschen daher eine interessierte Auseinandersetzung mit dieser Ausgabe der Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie und laden Sie im Namen unserer Fachgesellschaften herzlich zum Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie DKOU 2014 im Oktober nach Berlin ein.
Ihre
Henning Windhagen
Bertil Bouillon
Johannes Flechtenmacher
Präsidenten des DKOU 2014
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