Gesundheitswesen 2014; 76(07): 404-405
DOI: 10.1055/s-0034-1384538
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Äskulaps Töchter

M. Wildner
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85762 Oberschleißheim

Publication History

Publication Date:
10 July 2014 (online)

 
Zoom Image
Prof. Dr. med. Manfred Wildner

Äskulap – griechisch Asklepios – gilt als der mythologische Urvater der Ärzteschaft. Noch heute finden sich Anklänge an ihn z. B. in Form des Äskulap-Stabes. Dieser von einer Schlange, der Askulapnatter, umwundene Wanderstab ist bis heute das Symbol des ärztlichen wie auch des pharmazeutischen Berufstandes. Folgt man der griechischen Mythologie, so hatte er zusammen mit seiner Frau Epione (die Lindernde) 4 Töchter: Iaso (die Heilende), Aegle (die schön Schimmernde), Hygieia, welche für Gesundheit und kluge Lebensführung stand und Panakeia, die Allheilerin. Hinzu kamen 4 Söhne. 2 von Ihnen werden von Homer in seiner Ilias erwähnt, wo sie in den Kämpfen um Troja als Wundärzte große Verehrung erfuhren. So könnte man mit etwas Freimut in den Kindern des Asklepios verschiedene Fachrichtungen der modernen Medizin wiederfinden: Bei den Söhnen die operativen Fachgebiete, bei den Töchtern die kurative und rehabilitative Medizin bzw. psychologische Therapie (Iaso), die Pharmazie (Panakeia), Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz (Hygieia) und – last but not least – vielleicht auch Wellness und ästhetische Medizin (Aegle). Die Richtigkeit dieser Interpretation sei dahingestellt. Festgestellt werden kann jedoch eine gleichberechtigte Beteiligung des weiblichen Geschlechts in der Nachfolge des großen Arztes Asklepios.

Hier drängt sich die Frage nach der heutigen Rolle von Geschlechteraspekten im Gesundheitswesen auf. Das Überwiegen von weiblichem Personal in der Pflege und in vielen Heil- und Hilfsberufen hat eine lange Tradition – wenngleich Führungsposi­tionen noch immer überproportional häufig von Männern besetzt werden. Dies betrifft nicht nur die Pflege. In der Pharmazie sind mehr als 4 von 5 Berufstätigen weiblich, in den Apotheken sind es 9 von 10. Auch in der Ärzteschaft vollzieht sich ein Wandel. Während bei den berufstätigen Ärztinnen und Ärzten das Geschlechterverhältnis bei­nahe ausgeglichen ist, mit bekannten erheblichen Variationen zwischen den Fachgebieten, gilt dies nicht für die neu approbierten Berufsanfänger. Hier überwiegen die weiblichen Absolventinnen bereits im Verhältnis 6:4. Betrachtet man die ­Studienanfänger, so sind mehr als 2 von 3 weiblich – mit steigender Tendenz.

Aus dieser nüchternen Berufsdemografie leiten sich eine Vielzahl von Fragen und Handlungsbedarfen ab. Die Fragestellungen betreffen die verfügbare Arbeitszeit nach erfolgreicher Ausbildung, die regionale Verteilung der Ärztinnen und Ärzte, Präferenzen hinsichtlich der beruflichen Tätigkeit als selbständige oder angestellte Ärztinnen und Ärzte sowie Fragen nach dem Zusammenhang zwischen biologischem Geschlecht und sozialen geschlechtsbezogenen Rollenzuschreibungen. Dies sind nur einige Beispiele. Auf eine Überschätzung des Arbeitszeiteffektes durch die häufigere Teilzeittätigkeit von Ärztinnen ist hingewiesen worden: Die tatsächliche Differenz scheint bei 10–15% zu liegen [1]. Präzisiert man die Frage der Geschlechterrolle zu einer Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit in den Heil- und Hilfsberufen, so ergeben sich für Frauen besondere Herausforderungen. Im Vordergrund steht die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese allgemeine Frage lässt sich noch einmal differenziert stellen, nämlich in Bezug auf besondere Lebenslagen, wie Schwangerschaft, Geburt und Kinderbetreuung in den verschiedenen Phasen von Kindheit und Jugend, zudem oft mit Bezug auf die Pflege von Angehörigen. Die informelle Pflege wird häufig von weiblichen Angehörigen geleistet. Zudem sind Frauen in der Gemeindearbeit und im bürgerschaftlichen Engagement besonders häufig tätig. Eng verknüpft sind damit besondere Herausforderungen im Arbeitsschutz und in der betrieblichen Gesundheitsförderung, auch unter Aspekten der Burn-out Prophylaxe.

„Caring“ statt „Curing“, mit womöglich geschlechtsspezifischen Risiken hinsichtlich der psychischen Gesundheit [2]? Im Zusammenhang mit Pflege und weiblicher Psychologie wurde von der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan die These einer eigenständigen „weiblichen“ Ethik aufgestellt: dem zu Folge werden von Frauen in Differenz zu „männlicher“ Ethik Werte wie Empathie, Mitgefühl und Beziehungsqualitäten vertieft geschätzt und respektiert [3]. Diese andere, weibliche Stimme einer „Ethic of Care“ ist von weiblicher Seite auch heftig kritisiert worden: Als lediglich überkommene Rollenmoral weiblicher Fürsorglichkeit [4] [5]. Bedenkenswert scheint dieser Ansatz zumindest in der heutigen Realität dennoch, trotz auch hier vieler offener Fragen.

Werden sich all diese Fragen zur Rolle der Frauen in der gesundheitlichen Versorgung befriedigend beantworten lassen? Hier ist sicherlich ein einfaches „Ja“ mehr Wunsch als Realität. Allerdings ist eine „Differenz“, wenn vielleicht nur bedingt zu männlicher Berufsethik, so doch zu männlichen Berufsbiografien festzustellen. Die Einstiegsquote in den Arztberuf ist bei Ärztinnen und Ärzten im Vergleich mit anderen Hochschulabsolventen mit über 90% gleichermaßen sehr hoch [7]. Allerdings finden sich schon nach 5 Jahren erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. ­Daten aus dem Hochschulinformationssystem zeigen, dass zu diesem Zeitpunkt nur noch 4 von 5 Frauen berufstätig sind, gegenüber einer fast 100%igen Berufstätigkeit bei Männern [7, Seite 75 ff].

Gründe dafür? Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und vom Europäischen Sozialfonds geförderte KarMed-Studie untersucht unter anderem auch die berufliche und private Situation von Ärztinnen und Ärzten zu Beginn der fachärztlichen Weiterbildung [6]. Ärztinnen und Ärzte unterscheiden sich demnach schon zu diesem Zeitpunkt in vielen karriererelevanten Aspekten. Dabei scheint eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen beruflichen und häuslichen Aufgaben bei Paaren mit mindestens einem ärztlichen Partner auch unabhängig von Kindern gegeben zu sein. Unterschiede zwischen den alten und den neuen Ländern wurden ebenfalls beobachtet: In den neuen Bundesländern waren Kinder häufiger vorhanden und auch häufiger in professioneller Kinderbetreuung. Die SwissMedCareer-Studie berichtet den Befund, dass Ärztinnen bei einer Hinwendung zur Elternschaft mit traditionellen Rollenmerkmalen einerseits karrierebezogene Nachteile aufweisen, andererseits im Geschlechtervergleich hohe Werte bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit [8].

Auch die berufliche Mobilität zwischen den Geschlechtern ist unterschiedlich, bei Frauen und tradi­tioneller Rollenteilung ist sie häufig familiär bedingt eingeschränkt. Besondere Arbeitszeitmodelle und Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind damit insbesondere für Familien relevant. Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen in vergleichbarem professionellem Umfeld. Wichtige Handlungsfelder für Gesundheitseinrichtungen sind bezogen auf die Zukunft damit die Themen Arbeitszeitgestaltung, Kinderbetreuung, Angehörigenpflege, Aspekte des Wiedereinstiegs in den Beruf sowie Dual-Career Optionen, also die Unterstützung des Lebenspartners bei dessen oder deren beruflicher Tätigkeitsaufnahme. Lesens- und beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Checklisten des Deutschen Ärztinnenbundes zu Themen wie „Medizin studieren mit Kind“, „Das familienfreundliche Krankenhaus“, „Die familienfreundliche Niederlassung“ oder das „Memorandum zur Verbesserung der beruflichen Entwicklung von Ärztinnen“ (www.aerztinnenbund.de).

Die beschriebenen Themen betreffen mit Variationen alle Länder mit entwickelten Marktwirtschaften. Unter der Zielvorgabe einer flächendeckend ausreichenden und balancierten ärztlichen Versorgung legt die OECD 3 Strategien nahe [9]. Die erste Strategie richtet sich auf zukünftige Ärzte und legt ihren Schwerpunkt auf die Auswahl und die gezielte Ausbildung der Medizinstudenten. Die zweite Strategie beschäftigt sich mit den gegenwärtig ärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzten. Hier sind Regula­tionen und Anreize wirksame Steuerungsinstrumente. Eine dritte Strategie besteht darin, mit Weniger auszukommen („do with less“). Damit ist die Akzeptanz eines rückläufigen Personalkörpers im hochqualifizierten ärztlichen Bereich gemeint, welcher bereichsspezifisch durch nichtärztliche Leistungserbringer ausgeglichen werden könnte. Von gleich hoher Bedeutung sind auch Innovationen im Bereich der Dienstleistungserbringung. Diese reichen von einer Technologieunterstützung, von der Telemedizin bis zur Robotik, bis zu einem verbesserten Management der kostbaren profe­ssionellen Ressourcen bzw. umfassen eine Kombination dieser beiden Ansätze. Es steht zu erwarten, dass ein tiefgreifender Wandel in der Kultur der ärztlichen Leistungserbringung bevorsteht.

Mit diesen und ähnlichen Herausforderungen im Gesundheitswesen beschäftigt sich auch die vorliegende Ausgabe: Mit den Überlegungen junger Ärztinnen und Ärzte in Sachsen, aus der Patientenversorgung auszusteigen, mit der Kundenorientierung in der ambulanten Medizin, mit den Erwartungen der Patienten an ihre Hausärzte bzw. -ärztinnen hinsichtlich Prävention und Gesundheitsberatung, mit dem legitimen Verdienst praktischer Ärzte und Ärztinnen in der Einschätzung der Bevölkerung, mit der kritischen Einschätzung des Bereitschaftsdienstes durch die teilnehmenden Ärzte, mit den Assoziationen deutscher Allgemeinmediziner zu muslimischen Patienten, zur Rolle der Gesundheitsämter für die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus, zu beruflichem Selbstverständnis, Ressourcen und Belastungen von Psychologen in rehabilitativen Einrichtungen und aus dem bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) zum Gesundheitsverhalten von 11–17-jährigen Jungen und Mädchen in Deutschland.

Herausforderungen stellen immer auch Chancen dar. So wie ­gesundheitliche Krisen auch als Lebenschancen für Patientinnen und Patienten begriffen werden können, kann auch die mancherorts als Krise erlebte Umstrukturierung im Gesundheitswesen Chancen mit sich bringen. Die Integration beruflicher und privater Lebenssphären betrifft Frauen und ­Männer und sollte als gesamtgesellschaftliche Herausforderung ­begriffen werden, nicht nur, um einen Mangel an personellen ­Ressourcen zu vermeiden [10]. So kann eine verbesserte technologische Unterstützung und ein verbessertes Ressourcenmanagement der Professionen im Gesundheitswesen auch zu einem ­Abbau überzogener Anforderungen und Belastungsspitzen im besten Interesse aller Beteiligter führen. Diese Beteiligten sind die Leistungserbringer selbst, ihr soziales Umfeld sowie die betroffenen Patientinnen und Pa­tienten. Ein Ausblick auf die zukünftige verstärkt „weibliche“ Me­dizin? Mit einem Rückblick auf Asklepios Töchter ist sie möglichweise behutsamer und achtsamer (Iaso), möglichweise stärker auf Präven­tion und eine Förderung der Gesundheit ausgerichtet (Hygieia) und vielleicht auch verstärkt auf Wellness (Aegle). Offen bleibt bei diesem mythologischen Deutungsversuch, ob mit den 4 Töchtern und 4 Söhnen des Asklepios neben der Gleichberechtigung ­womöglich auch ein mittelfristig ausgewogenes Geschlechterverhältnis in der ärztlichen Profession nahegelegt ist.


#

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85762 Oberschleißheim


Zoom Image
Prof. Dr. med. Manfred Wildner