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DOI: 10.1055/s-0034-1387359
„Alle machen mit“ – Titelbildwettbewerb geht in die zweite Runde
„Everyone is in“ – Cover Picture Contest Starts in its Second RoundKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
07 November 2014 (online)
Richard Avedon (1921 – 2004) war einer der erfolgreichsten Modefotografen des 20. Jahrhunderts, aber er machte viel mehr. Die Sammlung Brandhorst in München zeigt im Jahr 2014 seine „Murals“, riesige Fotografien, die sich horizontal über vielleicht 8 Meter ausdehnen, etwa mit den Personen von Andy Warhols Factory, den amerikanischen Amtsträgern während des Vietnamkriegs im Saigon des Jahres 1971 sowie der Familie des Poeten Allen Ginsberg. In Avedons Werkserie „In the American West“ finden sich beeindruckende Porträts von armen Leuten, Arbeitern und nichtsesshaften Menschen des amerikanischen Westens, überhaupt sind die Porträtfotografien von Menschen – seien sie arm oder reich, mögen sie Marylin Monroe, Samuel Beckett heißen oder öffentlich „namenlos“ sein, von verblüffender Direktheit.
Und warum macht Avedon 1963 Fotos im East Louisiana State Mental Hospital? Warum sind in Katalogen (neben dem Bezug zur psychischen Erkrankung seiner Schwester Louise) Bezugnahmen auf Institutionskritik und Bücher wie Goffmans „Asylums“ zu finden? Wie kommt es, dass uns als Teil dieses Werks – wie ein Solitär, aber dennoch selbstverständlich dazugehörend – die erschütternden, institutionelle Versorgung, Armut und Vernachlässigung (und Menschen in chronischer Erkrankung und Institutionalisierung) zeigenden Fotos entgegentreten?
Das ist, weil das Thema „Verrücktheit“ oder „Madness“ eine wichtige Stellung in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt. Die psychiatrischen Reformen waren in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern eng mit anderen politischen Protest- und Bürgerrechtsbewegungen verbunden, die Reformen in Italien, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland erreichten einen ungewöhnlichen, parteienübergreifenden Konsens bei der politischen Umsetzung großer Datenerhebungen und Reformentwürfe. Meilensteine wie der Bericht der Joint Commission in den USA, die Mental Health Acts in den USA (1946) und in Großbritannien (1959), die Gründung des National Health Service (UK 1948) und des National Institute of Mental Health (USA 1949) wie auch die Psychiatrie-Enquête (Bundesrepublik Deutschland 1975) verraten die Priorisierung des Feldes, die Forderung nach Gleichstellung psychisch Kranker, die Integration der Psychiatrie ins allgemeine medizinische Versorgungssystem und die Gleichstellung psychisch kranker mit somatisch kranken Menschen. Getragen waren die Bemühungen von einem (bei aller, oft heftigen fachlichen Kontroverse) recht breiten Konsens unter den Professionellen sowie von einer stabilen Verankerung im gesellschaftlichen Diskurs. Die Bilder von Institutionen waren eben vielerorts in Zeitungen, Kinos, an Universitäten, in der Welt der Kultur und auch im fachlichen Diskurs bekannt und stets präsent.
Und so wie die Reformen und Verbesserungen bei den Behandlungs- und Versorgungsstandards in psychiatrischen Institutionen entscheidend von den politischen Rahmenbedingungen und den tragenden gesellschaftlichen Überzeugungen geprägt sind [1] [2], so sind die psychischen Störungen nur gesellschaftlich, nur in menschlichen Beziehungen und sozialen Interaktionen zu fassen, ja sie benötigen die soziale Welt, damit sich ihre wesentlich interpersonellen Äußerungen überhaupt manifestieren können. Burns [3] nennt in einem aktuellen, bei Penguin Books erschienenen Buch die Psychiatrie „Our Necessary Shadow“ – und er schreibt:
The existence of mental illnesses is only possible because we are self-aware and reflective. They have always been with us. Just as mental illnesses reflect what is human and difficult about us so the drive to relieve this suffering is even more human [3].
In diesem unverzichtbaren Bezug auf die soziale Welt und Kultur im weitesten Sinne ist das Arbeitsfeld der Psychiatrie der Welt der Kunst ganz nah. Psychiatrische Systeme sind aus der Gesellschaft geformt, ihre Veränderung folgt den Änderungen des Denkens, des Fühlens, der Paradigmen und Normen, die eine Gesellschaft bestimmen.
Deshalb ist es gar nicht überraschend, dass Richard Avedon mit seinem epochalen, die Gesellschaft als Ganzes erfassenden fotografischen Blick auch auf eine psychiatrische Institution und das Leiden der dort untergebrachten Menschen geblickt hat. So wie Avedon „Alle“ vor die Kamera genommen hat und mit seiner Porträtkunst mit „Allen“ in Dialog treten konnte, so ist in der Psychiatrie der Blick auf „alles Psychische“ (in der Abgrenzung physiologischer Erlebensbreite von den Symptomen von Krankheit) unverzichtbar, die Psychiatrie als Profession und Wissenschaft bemüht sich, die ungeheure Vielfalt der Äußerungen des Psychischen zu ordnen und neben das „Erklären“ krankhafter Phänomene das „Verstehen“ psychischen Erlebens zu setzen.
Während die Psychiatrie ganz „Wissenschaft“ und „Profession“ ist, also eine eigene, spezifische Zeichen- und Wissenschaftssprache und Praxis für das Erkennen und Behandeln psychischer Störungen geschaffen hat (und diese in sich wandelnder gesellschaftlicher Umgebung erneuert), so ist die Psychiatrie immer auch dem Blick auf das Soziale verpflichtet, weil eben die Zeichen von Krankheit im Sozialen erkannt und identifiziert werden – und das Bemühen um ihre Ordnung stets dem ins Soziale eingebetteten Erkennen folgt.
Somit ist die Kunst (oder das Interesse an der Kunst) als „Neugier“ so etwas wie eine Voraussetzung der Entwicklung psychiatrischer Wissenschaft. Diese ist natürlich voller Methodik und kennt eine Vielzahl technischer Aspekte – aber das Erkennen setzt den in die soziale Welt gerichteten Blick voraus. Ebenso sind die Institutionen stets auch ein Spiegel der Gesellschaft, ihrer Vorstellungen vom Leben und von den Räumen, die sie (bei den Quäkern des York Retreat im frühen 19. Jahrhundert ebenso wie später in den psychiatrischen Asylen) dem andersartigen, kranken Menschen zuweist. Es ist unverkennbar, dass die (psychiatrische) Institutionskritik Teil des kulturellen Bildbestands des 20. Jahrhunderts geworden ist.
Daraus folgt: Richard Avedon könnte heute bei der 2. Runde des Titelbildwettbewerbs der Psychiatrischen Praxis als einreichender Künstler dabei sein, ja wir dürfen denken, er wäre vielleicht dabei gewesen. In jedem Fall sind zu diesem Wettbewerb „Alle“ eingeladen, die aus ihrem je eigenen Blickwinkel auf die Erfahrung von psychischer Erkrankung, auf unser Bemühen um Verständnis von Krankheit oder auf die Eigenarten der Behandlung von Menschen in Krisen und psychischen Erkrankungen blicken.
Worum geht es?
Das Ziel sind – analog zum 1. Titelbildwettbewerb [4] – wieder spannende Titelbilder für die nächsten 5 Jahrgänge der Psychiatrischen Praxis. Die Aufgabe der Auswahl der prämierten Werke wird bei 2 Vertreterinnen des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) e. V. (Ruth Fricke, Anja Henning), einem Vertreter des Landesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (LApK) e. V. (Karl-Heinz Möhrmann), dem Direktor des Sprengel Museum Hannover (Dr. Reinhard Spieler) sowie Frau Katrin Stauffer, Programmplanerin des Thieme Verlags und Thomas Becker, Psychiater, liegen.
Die Suche nach einem neuen „Blick“ auf das Subjekt im sozialen Raum, auf psychisches Leiden und die Psychiatrie in der Gesellschaft verspricht, spannend zu werden.
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Literatur
- 1 Priebe S. Wo ist der Fortschritt?. Psychiat Prax 2012; 39: 55-56
- 2 Priebe S, Burns T, Craig TKJ et al. The future of academic psychiatry may be social. Br J Psychiatry 2013; 202: 319-320
- 3 Burns T. Our necessary shadow. The nature and meaning of psychiatry. London: Penguin Books Ltd; 2014
- 4 Becker T. „Jeder Mensch ein Künstler“. Psychiat Prax 2010; 37: 1-2
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Priebe S. Wo ist der Fortschritt?. Psychiat Prax 2012; 39: 55-56
- 2 Priebe S, Burns T, Craig TKJ et al. The future of academic psychiatry may be social. Br J Psychiatry 2013; 202: 319-320
- 3 Burns T. Our necessary shadow. The nature and meaning of psychiatry. London: Penguin Books Ltd; 2014
- 4 Becker T. „Jeder Mensch ein Künstler“. Psychiat Prax 2010; 37: 1-2