Psychiatr Prax 2015; 42(03): 123-124
DOI: 10.1055/s-0034-1387638
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der weiße Kittel ist in der Psychiatrie nicht mehr zeitgemäß – Kontra

The Psychiatristʼs White Coat is Outdated – Contra
Jens Michael Langosch
1   Ev. Krankenhaus Bethanien für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Greifswald
2   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Jens Michael Langosch
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Zusatzbezeichnung Geriatrie
Evangelisches Krankenhaus Bethanien
Gützkower Landstraße 69
17493 Greifswald

Publication History

Publication Date:
08 April 2015 (online)

 

Kontra

Den Reiz der Psychiatrie macht einerseits die Heterogenität der Krankheitsbilder und andererseits die Verbindung von Medizin und Geisteswissenschaft aus. Nach Jahren der Standortbestimmung, in denen sich die Psychotherapie mit ihren vielfältigen Möglichkeiten als integraler Bestandteil des Faches etablierte und selbstverständlicher Bestandteil der psychiatrischen Therapie wurde, kristallisieren sich in den Kliniken zwei Bereiche heraus, in denen Psychotherapie in unterschiedlichem Ausmaß angewandt wird: zum einen die Akutbereiche und die Gerontopsychiatrie mit schweren, oftmals organisch begründeten Krankheitsbildern, zum anderen Bereiche mit größeren psychotherapeutischen Behandlungsanteilen wie z. B. Depressionsstationen. Zu ersterem Bereich zähle ich auch den Konsil- und Liaisondienst für andere medizinische Fachabteilungen.


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Vor allem in Bereichen mit hohem psychotherapeutischem Behandlungsanteil wird gern Alltagskleidung getragen. Der weiße Arztkittel wird oftmals angeschuldigt, eine therapieschädigende Distanz gegenüber den Patienten aufzubauen.

In den letzten Jahren stiegen vor allem in den Versorgungskrankenhäusern die Zahl der organisch (mit-)bedingten psychischen Störungen und die Anzahl und Schwere der organischen Begleiterkrankungen an. Dies hat vor allem zwei sich gegenseitig verstärkende Ursachen, die älterwerdende Patientenklientel und den Entlassungsdruck, der in den organischen Fachabteilungen, zumindest in Deutschland, durch die DRGs entsteht. Je „organischer“ jedoch die Klientel auf einer Station ist, desto weniger taugt der weiße Arztkittel als vermeintliches Statussymbol, sondern er ist vor allem das, wozu er geschaffen wurde, nämlich Arbeitskleidung. Einem Schornsteinfeger oder Bäcker gesteht man diese ja auch zu, und nimmt damit selbstverständlich die Zuordnung zu einer Berufsgruppe in Kauf, ohne die Kleidung auf ein Statussymbol zu reduzieren. Auf einer gerontopsychiatrischen Station mit einem hohen Anteil demenzerkrankter, teils inkontinenter Patienten, von denen noch einige MRSA oder ESBL positiv sind, empfiehlt es sich darüber hinaus, zusätzlich zum Kittel noch weitere Dienstkleidung anzulegen, insbesondere bei den gebotenen körperlichen Untersuchungen. Weiße Dienstkleidung wurde traditionell gewählt, um Verunreinigungen besser zu erkennen. Das Argument aus einigen Untersuchungen, Arztkittel seien obsolet, weil unhygienisch, ist irrig, da es in gleichem Maße auf unsaubere Zivilkleidung zutrifft.

Insbesondere die schwerkranken Patienten mit organischer Beteiligung, aber auch die exazerbierten psychotischen Kranken, sind oftmals dankbar für jede Orientierungshilfe und weiße Dienstkleidung erleichtert ihnen die rasche Zuordnung. Nicht zuletzt strahlt der weiße Kittel auch Kompetenz und Hilfsangebot aus. Recherchen in Diskussionsforen von Patienten im Internet bestätigen dies weitgehend. Das mag man mögen oder nicht, letztlich steht ein langes Medizinstudium und die anspruchsvollste Facharztausbildung aller Zeiten dahinter. Anekdotisch wäre hier noch Folgendes zu berichten: Nachdem wir bei uns in der Klinik vor Jahren begannen, die Dienstkleidung für die Ärzte bereitzustellen und zentral zu reinigen, dauerte es nicht lange, bis Psychologen und Sozialarbeiter in den Akutbereichen und der Gerontopsychiatrie ebenfalls weiße Dienstkleidung wünschten. Dass dadurch deren Verhältnis zu den Patienten belastet worden wäre, ist nicht bekannt geworden. Orientierungshilfe ist auch im Konsildienst gegenüber den ärztlichen Kollegen angebracht: Welcher psychiatrische Konsiliarius wird ernst genommen, wenn er auf der Stroke Unit im Strickpullover unterwegs ist?

Lassen Sie mich noch auf einen anderen Aspekt eingehen: Ich habe häufig beobachtet, dass Kollegen sich – aus welchen Gründen auch immer – scheuen, eine therapeutisch-lenkende Stellung gegenüber Patienten zu beziehen. So ist der Verzicht auf das „Statussymbol“ Kittel oftmals die Abwehr der eigenen Angst vor Zurückweisung durch den Patienten. Der Aufbau einer tragfähigen empathischen Beziehung ist jedoch nicht von Dienstkleidung abhängig, sondern beruht auf Fachkenntnis, einer guten Ausbildung mit Vermittlung der entsprechenden Techniken, Sicherheit, Aufrichtigkeit und nicht zuletzt auf Zielbewusstsein. Patienten durchschauen Anbiederung schnell und legen darauf meistens keinen Wert. Psychotherapie gibt ihnen die Gelegenheit, andere als ihre bekannten Denk- und Verhaltensmuster auszuprobieren. Die althergebrachten Muster erleben sie täglich in ihrer Peergroup. In der Klinik erwarten sie zu Recht Hilfe und Orientierung.

Aus den genannten Gründen plädiere ich für eine differenzierte Betrachtung der Thematik entsprechend des jeweiligen Arbeitsumfelds, und es kann den Therapeuten auf Stationen mit hohem Psychotherapieanteil auch freigestellt werden, ob Arbeitskleidung oder Zivil getragen wird, selbstverständlich in gepflegtem Zustand. In Akutbereichen, dem Konsildienst und der Gerontopsychiatrie empfehle ich unbedingt die Arbeitskleidung Arztkittel. Die These müsste also lauten: „Der weiße Kittel ist in der Psychiatrie heute zeitgemäßer denn je.“


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Jens Michael Langosch

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Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Zusatzbezeichnung Geriatrie
Evangelisches Krankenhaus Bethanien
Gützkower Landstraße 69
17493 Greifswald


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