Pneumologie 2014; 68(10): 700
DOI: 10.1055/s-0034-1389760
Buchbesprechung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit

Contributor(s):
S. Ewig
Maio G.
Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit.

Stuttgart: Trias; 2014. 217 S., 19,99 €
ISBN: 978-3-8304-6749-6
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Publication History

Publication Date:
07 October 2014 (online)

 

    Zugegeben: der Titel hört sich „etwas steif an. Es scheint etwas von „Keine Experimente“ darin zu schwingen. Doch weit gefehlt. Es geht dem Autor um nicht „weniger als eine „Anleitung zum guten Leben“, so wie sich Ethik seit Aristoteles immer verstanden hat. Und dieses entscheidet sich auch ganz wesentlich im eigenen Verhältnis zu Gesundheit, Krankheit und Tod.

    Sonderbar: Themen, die eher den Ethik-Spezialisten vorbehalten scheinen wie die Grenzen der Reproduktionsmedizin, die Pränataldiagnostik und die Organtransplantation fügen sich nahtlos ein in Gedanken über die Antiaging-Medizin, die Gesundheitskompetenz des Bürgers, den Wert des Alters, die Patientenverfügung und die Kunst des Sterbens. Wie fügen sich diese scheinbar disparaten Themen zusammen? In allen diesen Kapiteln ist das Leitmotiv die Frage, was die Möglichkeiten der medizinischen Techniken für uns bedeuten: Ist der Fortschritt der Technik auch einer, der unser Leben besser macht oder fügt er diesem umgekehrt ganz neue Belastungen zu? An keiner Stelle wird die Technik verdammt; ganz im Gegenteil. Aber immer wird sie unvoreingenommen und unaufgeregt, aber auch in aller Konsequenz hinterfragt.

    Und es wird deutlich, dass ein grundsätzlich Bedenkliches geschehen ist: Die Medizin steht in der Gefahr, den Menschen als voraussetzungsloses Wesen zu betrachten, das sich nur sich selbst verdankt, andererseits jede Angewiesenheit, jedes Annehmen als Zumutung zurückweist. Auf diesem Hintergrund sieht sie nur das Machbare, und das Machbare als das Gebotene an. Das Bewusstsein des Verdanktseins, das neue Räume für ein Geschehenlassen und für eine nüchterne Abwägung von Chancen und Risiken medizinischer Interventionen eröffnet, ist ihr fremd geworden. Stattdessen setzt sie ganz auf das Programm der permanenten Perfektionierung und Steigerung der Lebensoptionen, das ganz im Gegensatz zu seinen Verheißungen im Ergebnis offensichtlich nicht mehr, sondern weniger Autonomie bzw. gutes Leben erbringt. Denn Autonomie und ein gutes Leben, so wird Maio nicht müde entlang der einzelnen Problemfelder zu erläutern, ist nur möglich im Bewusstsein des Verdanktseins, des Angewiesenseins auf den Nächsten und des Getragensseins durch Kontakt zu einem Seinsgrund.

    Die auf diesem Hintergrund ausgebreiteten Gedanken zu einer Kultur des Sterbens sind besonders beeindruckend und für jeden Arzt lesenswert, wenngleich die Fragen, die durch das Sterben und den Tod gestellt werden, noch wesentlich bohrender gestellt werden könnten. Doch wie sollte ein solches Kapitel zu einem „befriedigenden“ Ergebnis führen?

    Am Schluss sei bemerkt: Obwohl an keiner Stelle theologisch-christliche Bezüge hergestellt werden, liest sich der Text wie solche von guten christlichen Theologen. Wäre die Frage zu stellen: Braucht es eigentlich keiner Theologie, um zu diesen Schlüssen zu kommen, oder ist die ganze Argumentation ohne diesen säkularisierten Hintergrund eigentlich nicht tragfähig? Was meint eigentlich der Bezug auf einen „Seinsgrund“? Ist Annehmen, ist Versöhnung allein innerhalb dieser Welt überhaupt denkbar? Welchen Tod kann man annehmen, welchen nicht? Diese Fragen sind allerdings höchsten Nachdenkens wert.

    Prof. Dr. med. Santiago Ewig, Bochum


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