Aktuelle Dermatologie 2015; 41(05): 200-206
DOI: 10.1055/s-0034-1391962
Von den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kosmetik im Wandel der Jahrtausende[*]

The Change of Cosmetics Over Milleniums
E. G. Jung
,
J. Funke
1   Psychologisches Institut der Universität Heidelberg
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
21. Mai 2015 (online)

 

Zusammenfassung

Die Kosmetik sowohl in ihrer dekorativen als auch in den invasiv persistierenden Formen ist Kultur-begleitend dokumentiert, also stabil über Jahrtausende. Sie bereichert maßgeblich die Darstellung von Macht, Rang und Funktion in den herrschenden Schichten. In den Zeiten florierender Hochkulturen findet Kosmetik zudem Eingang in weitere Gesellschaftsschichten. Selbstdarstellung und Attraktivitätsgestaltung treten in den Vordergrund.

In Mittelalter und früher Neuzeit ist eine wellenförmige Bedeutung der Kosmetik festzustellen. Neben Kriegen und Seuchen werden ursächlich auch christliche Wertvorstellungen diskutiert. Der Wandel ist frappierend.

Seit dem 20. Jahrhundert erlebt die Kosmetik, zunächst als Hygienemaßnahme und zur Körperpflege, einen ungeahnten Aufschwung. Zunehmend wird Schönheit und Jugendlichkeit („Anti Aging“) als Ziel und Zweck in den Vordergrund gestellt und persistierende Ausschmückungen (Tattoo, Piercing) nehmen überhand. Kosmetik ist gleichsam allgegenwärtig und gestaltet die persönliche Attraktivität im Wechselspiel von Schönheit und Hässlichkeit. Partnerwahl, einst der frühen Erwachsenenzeit vorbehalten, wird zur lebenslangen Herausforderung und ist weitgehend entkoppelt von der Fortpflanzung. Ohne kosmetische Bemühungen geht es kaum mehr.


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Abstract

The decorative cosmetics as well as in the invasive and therefore persistent form are documented as accompagniants of the cultural development over milleniums. Cosmetics enrich the presentation of power, ranking and function of leaders. In times of flourishing high cultures the cosmetics infiltrates as well broad classes of the urban societies. Later on self-presentation and the optimisation of once personal attractivity became additional arguments for new cosmetic impulses.

Through the middle age and early modern times cosmetics may be characterized by a distinct waving of its importance. Apart of wars and epidemic diseases, the discussion if this phenomenon inflicts values of Christianity as well. The changing is remarkable.

In the 20th century a dramatic increase of cosmetics is observed in the direction of personal hygiene and beauty culture. Juvenation and anti aging are the “new goals”, and persistent decorations, tattoos and piercings, as well as body paintings are the instruments of increasing importance. Cosmetics in all its decorative and persistent forms became omnipresent. To reach the aim of an optimal presentation of personal attractivity, cosmetics play a risky game to balance between the two edges of a virtual scale from eternal beauty to ugliness.

The election of sexual partnership, once a task of younger adults, got by anticonception and social reorganisations, a lifelong provocation, and is now independent of reproduction. Without cosmetics nearly nothing goes in the new world.


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Einleitung

Schönheit und deren Inhalte werden von den Ästhetikern und den Kunstwissenschaftlern eifrig und unter allen möglichen Aspekten diskutiert, ohne eine dauerhafte und allgemein akzeptierte Formulierung zu finden. Einst war Schönheit die möglichst originalgetreue Abbildung nach der Natur. Später beanspruchten die schaffenden Künstler (und vielgestalte Experten) die Kompetenz, Schönheit zu definieren und zu diktieren. Und weit verbreitet steht immer noch die Meinung, Schönheit sei vor allem das, was gefällt, „das, was mich aus den Socken haut“ (Sabrina von der Ley, in [1]). James Elkins spricht gar von einer Bankrotterklärung seiner Fachrichtung [1]. Die Debatte geht weg von der Frage „Was ist schön?“ weiter zu „Was empfinden wir als schön?“. Die Vorgabe war einst von der Schöpfung vorgegeben, dann wird die Deutungshoheit vom schöpferischen Menschen als Kreator beansprucht und dennoch ist die Sicht des Empfängers (Fachleute und Laien) noch immer und in vielen Beziehungen kraftvoll wirksam [2] [3] [4].

Die Kosmetik ist seit jeher bestrebt Schönheit darzustellen, zu betonen und korrigierend einzugreifen, um individuelle Abweichungen der natürlichen Idealausprägung anzunähern. Schönheit allgemein ist ein Ziel der dekorativen Kosmetik. Dem steht zur Seite, und gewinnt an Bedeutung, dass auch Persönlichkeit, individueller Anspruch sowie Attraktivität mit besonderen Effekten befriedigt werden möchten. Invasive und operative Methoden werden nicht gescheut, besondere Wirkungen und eine gewisse Dauerhaftigkeit zu erlangen. Dekorative und vor allem invasive, in die Haut gebrachte Symbole, mittels Tattoo und Piercing, finden seit jeher reiche Verwendung zur Kennzeichnung von Stellung, Rang und Zugehörigkeit, wobei einerseits diese belegt werden oder anderseits die Einordnung in eine Randgruppe dauerhaft festgeschrieben wird. Zusätzlich kommen neuerdings Bestrebungen hinzu, mit persistenter Symbolik auch individuelle Attraktivität besonders auszudrücken [5].


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Kosmetik im Wandel der Zeiten

Seit wir überlieferte Dokumente der frühen Hochkulturen einsehen können, sind menschengefertigte und ausdrucksstarke Veränderungen und Eingriffe in die äußere Erscheinungsstruktur bekannt. Es sind dies sichtbare Zeichen der nonverbalen Kommunikation, also das, was wir heute als Kosmetik bezeichnen. Das griechische Wort „kosmetikos“ hat doppelte Bedeutung: ordnen und schmücken. Mit „ordnend“ sind Darstellungen, Zeichen und Symbole zu verstehen, die Zugehörigkeit oder Zuordnung zu Macht, Rang und Funktion vermitteln. Mit „schmückend“ hingegen ist das Streben nach Schönheit und Attraktivität sowie die individuelle Darstellung gemeint.

Kosmetik ist sowohl in den dekorativen wie auch in den persistenten Formen seit frühester Kulturation, über Jahrtausende bis heute, weit verbreitet und vielseitig eingesetzt.

Kosmetik ist Kultur-begleitend, stabil und omnipräsent über alle Zeiten. Variabel allerdings ist, über die Epochen gesehen, die Verbreitung und die Bedeutung, ebenso wie die eingesetzten Mittel und ganz speziell die anvisierte Zielrichtung kosmetischer Bemühungen. Darum geht es im Folgenden.


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Die ersten Darstellungen von Menschen

Sie stammen aus den Höhlen in Frankreich und Spanien und sind 15- bis 30-tausend Jahre alt [6]. Neben vielfältigen und künstlerisch wertvollen Darstellungen von Tieren, deren Charakteristika und deren Jagd, kommen die Menschen als Jäger, und auch dies nur selten, zur Darstellung. Zudem erscheinen sie als Mischwesen mit Tierköpfen oder Masken, den divinen Anspruch andeutend, und mit Betonung der Geschlechtsteile. Frauendarstellungen aus denselben frühen Epochen finden sich als Votivfiguren (Schnitzereien in Stein, Elfenbein oder Holz) und werden wegen der Überbetonung weiblicher Attribute als Venusfiguren bezeichnet. Ritualinsignien sind nicht dargestellt. Ausschmückungen der Personen, ihrer Gesichter oder Betonung von Augen oder Lippen fehlen. Allenfalls können Einfärbungen von Gesichtern als frühes Zeichen von Schmücken gedeutet werden.

In den frühen Stammenskulturen der Steinzeit waren die rituellen und die therapeutischen Markierungen Aufgabe der Priesterschaft; also rituelle Handlungen in engem Zusammenhang mit den Göttern und deren Diensten. Bei zunehmender Differenzierung und Spezialisierung haben die Heiler (Medizinmänner) die therapeutischen Riten ausgefeilt und auch Körperpflege, Reinigung und rituelle Waschungen einbezogen. Die Heiler waren also auch die ersten Träger kosmetischer Kompetenz. Dazu kommen auch die speziellen Ausschmückungen zum Kampf (Kriegsbemalung), zur Jagd und für Partnerwahl und Fortpflanzung.

Im 5. Jahrtausend v. Chr. kommt es in Europa zu einer ersten Welle von dekorativen Bemühungen mit Schneckenhäusern, Muscheln und mit Henna zum Einfärben von Haut und Haaren. Es ist dies die Zeit fortgeschrittenen Ackerbaus, erster astronomischer Kultanlagen und der „Bandkeramik“ als Schmuck an Tongefäßen. Die eindeutigen Ausschmückungen am Körper sind passagerer Art und werden zusätzlich, ja ergänzend, aufgetragen zu den permanenten rituellen („tribal“) Zeichnungen auf und in der Haut durch Tätowierungen und Piercings. Diese Durchmischung von rituellen Marken und passageren Ausschmückungen hält sich bis heute bei den Indianern sowie in den traditionellen Völkern und Stämmen in Afrika [7], Polynesien und auch im asiatischen Raum.

So zeigt die über 5000 Jahre alte Gletschermumie des Ötzi über 50 teils gruppiert stehende Kohlenstoff-Tätowierungen, denen rituelle und möglicherweise auch therapeutische Bedeutung zugemessen wird [8].


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Ein Höhepunkt im alten Ägypten

In den frühen Hochkulturen der fruchtbaren Flusstäler in Mesopotamien, an Nil, Indus und in China findet sich schon sehr früh eine hochentwickelte und differenzierte Kosmetik im rituellen Bereich, aber zusätzlich auch schon zur Darstellung von Schönheit und Attraktivität. Dokumentiert ist dies in großer Vielfalt in den Fürstenhäusern und deren Hofstaat. Die weite Verbreitung von Salbenreibepaletten (teils mit eingravierten Rezepturen) und von Instrumenten zur dekorativen Kosmetik aber lässt vermuten, dass diese auch in der urbanen Bevölkerung weit verbreitet waren und differenziert zur Anwendung kamen. Eine Vielzahl von Farbstoffen mineralischer und organischer Art waren bekannt, darunter auch giftige! Neben manchen streichfähigen Grundlagen (Salben, Cremen, Öle etc.) zum flächigen Auftragen auf die Haut wurden reichlich Düfte verwendet und alles zusammengesetzt mit Accessoires wie Haarkonstrukten, Kopfschmuck und Symbolzeichen aller Arten. Im Papyros Ebers aus dem Jahre 1552 v. Chr. sind sowohl medizinische wie auch kosmetische Rezepturen und auch die Anleitungen zu deren Anwendung verewigt und legen nahe, dass Medizin und Kosmetik in einer Hand lagen [9].

Die Gesichtskosmetik konzentrierte sich auf die Hervorhebung der Augenpartie (Vorbild „Horusauge“) und des Mundes, also eine Betonung derjenigen Gesichtspartien, die der Fokussierung, dem Blickfang und der erotischen Attraktivität dienen. Schönheit und Attraktivität waren erklärte Ziele. Die Besonderheit der sozialen Stellung wurde schon damals, wie heute, bei Mann und Frau durch das gepflegte Äußere ausgedrückt.

Und das Schönheitsideal wurde dargestellt und überliefert in Nofretete (die Schöne), der Gattin des Pharao Echnaton, und in Nefertari (die Allerschönste), Gattin des Pharao Ramses II.

Also gab es schon eine idealtypische oder gar individuelle Note in der Gestaltung der äußeren Erscheinungsform. Dies kam aber nicht nur den lebenden Personen zugute, sondern auch den Verstorbenen, die für ihren Weg durch die Totenwelt, und allenfalls eine erwartete Auferstehung, erkennbar und reich geschmückt wurden. Im alten Ägypten ist dies gut dokumentiert und oblag hochrangigen Spezialisten am Hofe, einer für den Körper (Vorsteher beider Bäder), einer für die Haartracht und ein weiterer für die Nagelpflege.

Die Griechen und später die Römer übernahmen die gepflegte Kosmetikkultur vorwiegend von den Ägyptern und verfeinerten die zur dekorativen Kosmetik eingesetzten Mittel und deren Kombinationen.

Die Waschungen und Bäder wurden rituell und zunehmend auch zur Reinigung und Hygieneprophylaxe gepflegt. Heilquellen wurden zu Volksbädern ausgebaut, Kultstädten einst, aber immer mehr auch soziale Kondensationsorte.

Die Rohstoffe und die Manufaktur wurden kommerzialisiert, die Importe vor allem aus dem vorderen Orient gesichert und die Massenproduktion dem Bedarf angepasst. Reichhaltige Sortimente von Geräten und kosmetischen Instrumenten wurden hergestellt und imperiumweit verbreitet. Aber immer noch gehören Kosmetik und Körperpflege zur Medizin. Der römische Arzt Galenus aus Pergamon (129 – 201 n. Chr.) gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Zubereitung von Arzneimitteln und Kosmetika, jetzt „Galenik“ genannt. Zeitlos blieb seine als „Kaltcreme“ bezeichnete Zubereitung zur Pflege trockener und juckender Haut mit einer Rezeptur aus Olivenöl, Bienenwachs und Rosenwasser.

In der spätrömischen Zeit mehren sich dann Stimmen, welche vor übermäßiger Nutzung von Kosmetika warnten. Hier anknüpfend erhoben auch die frühen christlichen Autoren Vorbehalte gegen Kosmetik. Dies führte im frühen Mittelalter zu einer deutlich abnehmenden Nutzung von schönheitsfördernder Kosmetik. Die innere Schönheit vor Gott, nicht die sündhafte, also nicht „gottgefällige“ Eitelkeit wurde propagiert. Eine Frau, die ihr Gesicht bemalte und die Lippen schminkte, geriet in Gefahr, als Hure diffamiert zu werden. So hat das Christentum wesentlich zum Niedergang der Kosmetikkultur im Mittelalter beigetragen.


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Mittelalter

Im römischen Reich wurde die Kultur, und damit auch die Kosmetik, im ganzen Mittelmeerraum und sogar darüber hinaus standardisiert und hochgehalten. Mit dem Zusammenbruch des Imperium Romanum sind die römische Organisation, die Reichsstruktur und auch die Kultur weitgehend zusammengebrochen, und damit auch die Kosmetik. Dazu kommt, dass mit dem Aufkommen des Christentums ein grundsätzlicher Wertewandel eintritt. Die Schönheit wird als Eitelkeit (Vanitas) diskriminiert. Das gottgefällige Leben erfordert die Reinheit von Körper und Seele, weshalb die dekorative Kosmetik zurücksteckt, während dem Badewesen zur Gewährung von Sauberkeit und Reinlichkeit des Körpers, und symbolisch auch der Seele, besondere Bedeutung zukommt. Allerdings bricht die gemeinsame Badekultur gewaltig ein, da sie bald als Brutstätte zur Ansteckung mit der ab 1495 neu in Europa aufkommenden epidemischen Syphilis eruiert wurde.

Der wellenförmige Verlauf von Bedeutung und Verbreitung der Kosmetik über alle Zeiten und Epochen ist von der Arbeitsgruppe von Frau Prof. Dr. Martina Kerscher an der Universität Hamburg [10] in vorbildlicher Weise aufgearbeitet und bildhaft dargestellt worden ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Entwicklungsgeschichte der Kosmetik in Wellen [10].

Diese und die folgenden Überlegungen beziehen sich auf den Europäischen Raum und die USA, also auf „hellhäutige Menschen“ (Kaukasier). Bei Menschen mit stark pigmentierter oder gar schwarzer Haut sind ähnliche, aber doch spezifisch andere Beobachtungen und Reaktionsweisen zu registrieren, insbesondere die Probleme mit den Versuchen, den Hauttyp artifiziell zu verändern (Strecken der Kraushaare, Aufbleichung der schwarzen Haut und deren Gegenreaktion: „black is beautiful“).

Die mehrere Jahrhunderte lang gehaltene Kosmetikkarenz wurde nur sehr langsam aufgelockert. Dies geschah vorerst durch neue Farben und verführerische Düfte aus dem Orient infolge des aufkommenden Handels und mächtig befördert durch die Kreuzzüge vom 11. bis 13. Jahrhundert. Sinnesfreudige Diesseitigkeit kommt auf und wird vorerst von der Ritterschaft getragen. Die verfeinerten Sitten wurden alsbald und freudig von den Stadtbürgerschaften übernommen. Dazumal erfolgte auch die Herauslösung der kosmetischen Maßnahmen aus dem Bereich der Medizin. Dies wird dem französischen Hofchirurgen Henri de Mondeville (1260 – 1320) zugeschrieben [10]. Diese Trennung wurde erst vor einigen Jahrzehnten durch die gegenseitige Annäherung im operativen Bereich wieder gelockert.


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Aufschwung im 14. – 18. Jahrhundert

In der Renaissance kam die dekorative Kosmetik wieder in Schwung, nicht zuletzt durch Impulse aus dem Orient und einem neuen, von den damals aufkommenden anatomischen Studien geprägten Körperverständnis. Das Schönheitsideal wurde, wie in der Kunst, aus der Antike übernommen. Die vornehme Blässe wurde durch Bleichmittel und Puder vermittelt, wobei leider auch giftige Chemikalien (Blei, Quecksilber und Arsen etc.) mit ihren Folgen zur Anwendung kamen.

Im Barock wurde Kosmetik wichtiger und verbreitete sich über die Länder Europas. Die Körperpflege wurde weitgehend ohne Wasser verrichtet. Allenfalls wurde Weinessig zum Abreiben des Körpers verwendet. Wasser diente eher zur Wäsche der Kleidung. In den höfischen Gesellschaften und bald auch im Stadtbürgertum derjenigen Territorien, die von Kriegshandlungen verschont blieben, kam die sogenannte trockene Kosmetik auf. Mit Puder, Schminken, Pomaden, mit phantasievollen Perücken und üppiger Kleidung bemühten sich alle, Frauen und Männer, Jung und Alt, dem neuen Ideal zu entsprechen. Mit den in großer Vielfalt aufkommenden Duftstoffen und Parfüms soll die mangelhafte Körperpflege kompensiert oder wenigstens überduftet werden. Die vornehme Blässe soll sich, wie schon einmal bei Salamon (AT, Hohelied, 1,3 – 6, [11]), deutlich abheben von der umweltbedingten Bräunung, welche vor allem den Landarbeiter zeichnet.

Im Zuge der Aufklärung im 19. Jahrhundert wurde die Natürlichkeit wieder entdeckt und rational angepriesen. Luft, Wasser und Licht wurden als jedermann zugängliche Mittel zur Ertüchtigung von Körper und Geist propagiert. Bergsteigen und Schwimmen wird angepriesen zur Ertüchtigung des Volkes. Die dekorative Kosmetik hingegen wurde eindrücklich reduziert, ja teilweise als „Unsitte“ verschrien.


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Die neue Zeit

Die Kosmetik hat im 20. Jahrhundert und bis jetzt einen gewaltigen Aufschwung genommen und in mehreren Beziehungen einen Wandel der Ziele und der Mittel durchgemacht. Der Boom ist unvergleichlich und betrifft alle, Männer und Frauen sowie alle Lebensalter.

Zum Ersten hat sich eine Kosmetikindustrie etabliert. Feine Rezepturen sowie artifizielle Düfte wurden bereitgestellt, die Großproduktion von Massenartikeln sowie von differenzierten Serien für jeden Hauttyp und für individuelle Ansprüche in Angriff genommen. Den Anfang machten L’Oreal 1909, Helena Rubinstein 1912 und Coco Chanel 1913 in Paris. Diesen folgten bald viele weitere. Auch alteingesessene Kulturgüterproduzenten eröffneten eigene Fachbereiche für Körperpflege, Kosmetik, Haarpflege und Düfte.

Der Aufschwung der permanenten Tätowierungen, aber auch von Piercing und Branding gehört dazu. Waren Tattoos jahrhundertelang ein Charakteristikum von Randgruppen oder Ausgestoßenen, der Vogelfreien (Fleur de Lyss), die lebenslang gezeichnet waren und dauerhaft in einer Nische verbannt blieben, so hat sich dies grundsätzlich geändert. Tattoos sind in Mode gekommen, je nach Erhebung tragen 30 % und mehr der jungen Leute solche. Es sind dies vielgestalte „tribal tattoos“, deren Motive den Mustern der rituellen Zeichen im Altertum und der traditionellen archaischen Stämme in Afrika [7] sowie in der Südsee entnommen sind. Manche sind auch als Blickfang, als Schmuck, andere als Bildergeschichten und weitere als Beschwörung zu verstehen. Sie alle dienen nicht dem Ausschluss, sondern bezeichnen oft die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einer besonderen Person. Sie werden stolz und sichtbar getragen, dienen also dem Ausdruckswillen und der Attraktivität der Träger. Sie sind zusammen mit dekorativer Kosmetik, Haartracht und Kleidung gefügige Instrumente zum Ausdruck von Gesinnung und Absicht des Trägers oder der Trägerin. Dies erlaubt eine besondere und individuelle Gestaltung der Körpersprache. Der Körper wird gelegentlich sogar zur Installation, wird „Kunstobjekt“, zuweilen auch mit Marktwert.

Die Entwicklung der Gesellschaft mit ihren Gruppen und Werten, nicht unwesentlich mitbewegt durch Kriege und Migration, führt zwangsläufig auch zu einer ganz anderen und neuen Stellung der Kosmetik. Die Voraussetzungen hierfür sind vielfältig.

Es sind dies die Umwertung zur Ego-Gesellschaft [12] mit Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung in vorderer Linie. Die neue Rollenverteilung in Partnerschaften spielt eine Rolle, von denen es viel gibt, zusätzlich zur traditionellen Ehe. Die zeitliche Befristung derselben sowie die finanziellen und sozialen Absicherungen von Alleinerziehenden, von getrennt Lebenden und von Benachteiligten wirken sich aus. All dies und noch viel mehr führt zu einer neuen, offenen Gesellschaft mit neuer Verteilung der Rollen. Die vielen „Singles“, vermehrter Partnerwechsel, frühe Hilfe zur Kinderbetreuung und der Anspruch aller, in den Arbeitsprozess und dessen soziale Infrastruktur eingebunden zu werden, führen zu neuen Bedürfnissen. Dazu dient, unter anderem, die Kosmetik in besonderer Weise. Gleichzeitig änderten sich auch die biologischen Bedingungen und Möglichkeiten. Die zuverlässige und der Kontrolle der Frauen überstellte Verhütung und die Geburtenregelung hormoneller Art (Antibaby-Pillen), also die Trennung von Sex und Fortpflanzung, sowie die zeitlich befristeten Partnerschaften führen dazu, dass die Partnerwahl eine lebenslange und immer wieder vordringliche Aufgabe geworden ist. Attraktivität und erotische Kommunikation wird dominierendes Anliegen von Männern und Frauen, jederzeit und überall. Dies bringt auch für die Kosmetik neue Aufgaben und Ziele und fordert von dieser neue Möglichkeiten und Angebote. In solchem Zusammenhang entwickelten sich in der Kosmetik eine Fülle von dekorativen und vor allem invasiven, also bleibende Veränderungen bewirkenden Verfahren und Methoden. Es wird nicht nur dekoriert und geschmückt, mit Accessoirs versehen und mit Düften ausgestattet, nein, es wird auch operiert, abgesaugt, unterspritzt, Falten gefüllt und Muskeln sowie Hautdrüsen mit Botox vorübergehend gelähmt. Dazu wird die Hautoberfläche geschliffen, geschält, bestrahlt und mit präzisen Wachstumsstimuli angeregt. Und es wird auch geschützt vor den schädlichen Anteilen der natürlichen Sonnenbestrahlung, geschützt vor der lichtbedingten vorzeitigen Alterung der Haut und vor lichtinduzierten Hautkrebsen. Der „Jugendwahn“ umfasst auch die Haut. „Anti Aging“ heißt die Devise und Verjüngung („rejuvenation“) ist Anspruch [13].

Nach wie vor dient Kosmetik in ihrer schmückenden Bedeutung der Schönheit, der Attraktivität und der individuellen Darstellung. Kriterien zur Bemessung der Schönheit eines Gesichtes sind Ausgewogenheit, regelmäßige Hautoberfläche sowie rötliche Tönung. Die experimentelle Psychologie nimmt diese Kriterien auf, um Selbsteinschätzung mit der Fremdbeurteilung zu vergleichen. Nachdem Evidenz besteht, dass die kosmetischen Anwendungen im Gesicht (Puder, Schminke und Tönung, Lippenrot) Effekte auf den Träger selbst und auf die Fremdbewertung haben [14], ist man auf der Spur derselben ins Gehirn gegangen [15]. Vergleicht man in homogenen Gruppen (Studenten) aufgrund dieser Kriterien Männer und Frauen in der Selbst- und Fremdwirkung, so zeigt sich regelmäßig eine Fehleinschätzung, geschminkte Gesichter wirkten attraktiver als ungeschminkte. Dies wird „pluralistic ignorance“ [16] genannt. Bei Frauen ist dieser Effekt etwas geringer als bei Männern. Frauen überschätzen die Annahme, dass Männer verstärkte Kosmetik bei Frauen besonders attraktiv finden. Dies gilt umgekehrt auch, wenngleich in geringerem Ausmaß. Diese weit verbreitete Fehleinschätzung, dass mehr Kosmetik zu höherer Attraktivität führe, verhindert die Beschränkung auf ein optimales Ausmaß. Solches gilt nicht nur für Männer und Frauen in der Selbst- und Fremdbeurteilung, sondern verleitet auch die Medien und die Industrie zur Propagierung ungezügelter, das Optimum verfehlender Anwendung. So viel zu Attraktivität, welche die dekorative Kosmetik zur Angleichung der Gesichter an die idealtypische Schönheitsidee verwendet.

Dies aber scheint in der neuen Zeit nicht mehr zu genügen. Im Zuge der Selbstverwirklichung und der lebenslangen Partnersuche ist eine ebenso permanente wie wirksame Selbstanpreisung und „Zurschaustellung“ angesagt. Dazu sind drastischere Effekte nötig, um die individuelle Attraktivität zu erhöhen, ja bisweilen ins Extreme zu steigern. Dieser Prozess umfasst den ganzen Körper, schließt Kleidung, Schmuck und Putz, Farbe, Düfte und ganz besonders Kosmetik ein und fasst alles zur Präsentation und „Eigenwerbung“ zusammen.

Die besondere Attraktivität wird, ausgehend von der allgemeinen Schönheitsvorstellung, durch besondere Betonung oder Herausarbeitung der Blickfänger im Gesicht gesucht. Seit Karl Rosenkranz 1853 das Hässliche als wissenschaftlich interessante Gegenposition zur Schönheit berief [17], wird sie als solche verstanden. Im Jahre 2004 setzte Umberto Eco mit einem wunderbaren Bildband die Schönheit [18] in Szene und ergänzte 2007 mit einem ebenso reichhaltigen Band über die Hässlichkeit [19]. Schönheit und Hässlichkeit sind auf einer affektiven Skala diametral entgegengesetzt, bilden also ein richtiges Gegensatzpaar. Die Hässlichkeit orientiert sich einerseits an der antiken Medusa-Figur [20], als Sinnbild der schrecklichen Hässlichkeit, und anderseits an den traditionelle Masken der Alpenländer [20] ([Abb. 2]). So ist die Kosmetik seit jeher eng mit der Mythologie und deren in die Neuzeit transferierten Relikten verbunden [22]. Auf dieser Achse zwischen Schönheit und Hässlichkeit ist also die neue Attraktivität zu suchen. Es ist dies die Attraktivität des Eros, sie ist rücksichtslos, egoistisch und zielorientiert. Sie bedient sich der Kosmetik und schafft spezielle Blickpunkte. Denn Schönheit ohne individuelle Merkmale ist nicht attraktiv genug. Es bedarf der Blickfänger, die den Betrachter „auf einen Blick“, in den ersten knapp drei Sekunden also, anlocken und zu fesseln vermögen [23]. Dies geschieht durch kosmetische Herausarbeitung der beiden Blickfang-Horizontalen im Gesicht:

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Abb. 2 Alemannische Narrenmaske mit übergroßer Nase und verbreiterter Mundhorizontale, wulstigen Lippen und massivem Zahnsatz, sog. „Rottweiler Biss“ [21].

Die Lippenpartie: wird verbreitert, wulstig durch „Filler“ aufgespritzt, wobei kleine Unregelmäßigkeiten toleriert oder sogar als besonderer Blickfang genützt werden. Optisch wird das Lippenrot ausgeweitet und vergrößert ([Abb. 3, 4]), mit grellem Rot und anderen, atypischen Farben knallig hervorgehoben ([Abb. 4, 5]). Eine erweiterte Randbetonung durch Tätowierung mit Farbpigmenten ergibt einen besonderen Touch ([Abb. 6]). Dekorative und auch permanente Lippenkosmetik in größter Vielfalt.

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Abb. 3 Der Clown Ronald McDonald. Der komische Ausdruck wird erreicht durch Reduzierung der Augenhorizontalen auf die zwei Augen, durch eine weiße Gesichtsabdeckung und die rote Überzeichnung der Lippen. Komischer Gesichtsausdruck als ein gewisser Gegensatz zu schön und gerade noch nicht hässlich (Bild: Chris Brown/zoonabra,www.flickr.com).
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Abb. 4 Überzeichnung des Lippenrots mit starker Betonung der geschwungenen Form und besonderer Rottönung [22] (Bild: Univ.-Hautklinik Mannheim, Prof. C. Bayerl).
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Abb. 5 Palette von 66 kommerziellen Lippenstiftfarben [22].
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Abb. 6 Markierung des Lippenrandes als permanentes „Make-up“ zur Betonung der Mundpartie. Sekundäre granulomatöse Fremdkörperreaktion als unerwünschter Nebeneffekt [22] (Bild: Univ.-Hautklinik Mannheim, Prof. C. Bayerl und Dr. G. Feller-Heppt).

Die Augenpartie: wird ausgearbeitet durch teilweise oder komplette Entfernung der Augenbrauen und deren Neuzeichnung in Schwarz oder anderen Tönungen. Augenlider und Augenhöhlen werden in das Dekor mit einbezogen. Die Stärke der Betonung und deren Ausdehnung zur Stirn hin und zur Schläfe erinnert oft an das ägyptische „Horusauge“. Artifizielle Wimpern kommen als auswechselbare Elemente, Lidoperationen zur Öffnung, Straffung oder Verformung als bleibende Eingriffe dazu.

Diese vorwiegend durch dekorative Kosmetik, nicht selten ergänzt durch persistente Eingriffe, erreichten Akzente werden abgerundet durch Haartracht und Kleidung sowie durch spezielle Duftnoten verstärkt.

Es sei daran erinnert, dass diese angestrebte erotische Attraktivität auf der Skala zwischen Schönheit und Hässlichkeit deutlich von der idealtypischen, ausgewogenen Schönheit abweicht und Elemente als Blickfang nützt, die auf dem Weg zur Hässlichkeit schon recht weit unterwegs sind. Es entstehen Verzerrungen, die, als Blickfang intendiert, ganz leicht zum Komischen, zum lächerlich Clownesken ([Abb. 2]) und bald zu Hässlichkeit tendieren und eher abschrecken. Die Hässlichkeitfalle ist zuweilen eher erreicht als geplant. Auch hier besteht zudem eine Diskrepanz zwischen der Selbst- und der Fremdbewertung.

Die Schönheit von Gesichtern ist nach Erkenntnissen der Psychologie interessanterweise eine Frage der Durchschnittlichkeit: Je mehr man verschiedene Gesichter miteinander verschmelzen lässt, umso attraktiver werden sie von Testpersonen eingeschätzt [24]. Eine Erklärung dafür liefert der Prototypikalitäts-Ansatz [25]: Je prototypischer ein Gesicht ist (je „gesichtsartiger“ also es wirkt), umso attraktiver wird es bewertet. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Gesichter: Gute Exemplare einer Kategorie sind immer die typischsten; das gilt (nach [25]) für Gesichter, aber auch für so heterogene Bereiche wie Armbanduhren, Hunde oder Klavieraufführungen. In diesem Sinn kann Kosmetik dazu beitragen, mehr Durchschnittlichkeit zu erzielen und damit individuelle Abweichungen vom Prototypen zu verdecken.

Selbstverwirklichung, lebensbegleitende erotische Attraktivität und zuweilen eigentliche Körperinstallationen sind die Herausforderungen an die neuen und sehr vielfältigen Möglichkeiten der dekorativen und der invasiv-persistenten Kosmetik.

Die beinahe unbegrenzten Variationsmöglichkeiten der dekorativen Kosmetik laden zu innovativen Versuchen ein, die neue Reaktionen zu erproben, Fehlversuche zu korrigieren und Abenteuerlust zu wecken vermögen. Diesem Spiel der Fremd- und Eigenwirkung ist keine Grenze gesetzt. Es wird also weiter gespielt und eine Grenze ist nicht abzusehen. Anders verhält es sich mit den bleibenden Eingriffen, deren Missgriffe eine Umkehr oder Korrektur benötigen, die oft nicht das Missratene einfach zu löschen vermag, sondern zudem die Gefahr weiterer unerwünschter Effekte birgt. Hier ist vorsorgliche Beratung und Selbstkritik vonnöten und Zurückhaltung geraten, eine hehre Aufgabe.


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Dieser Artikel wird in den „Heidelberger Jahrbüchern“ (ab Jahrgang 2015 in elektronischer Version) der Universität Heidelberg, Band 56 (2015), zum Thema „Welt im Wandel“ (Herausgeber: Michael Wink und Joachim Funke) erscheinen.



Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg


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Abb. 1 Entwicklungsgeschichte der Kosmetik in Wellen [10].
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Abb. 2 Alemannische Narrenmaske mit übergroßer Nase und verbreiterter Mundhorizontale, wulstigen Lippen und massivem Zahnsatz, sog. „Rottweiler Biss“ [21].
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Abb. 3 Der Clown Ronald McDonald. Der komische Ausdruck wird erreicht durch Reduzierung der Augenhorizontalen auf die zwei Augen, durch eine weiße Gesichtsabdeckung und die rote Überzeichnung der Lippen. Komischer Gesichtsausdruck als ein gewisser Gegensatz zu schön und gerade noch nicht hässlich (Bild: Chris Brown/zoonabra,www.flickr.com).
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Abb. 4 Überzeichnung des Lippenrots mit starker Betonung der geschwungenen Form und besonderer Rottönung [22] (Bild: Univ.-Hautklinik Mannheim, Prof. C. Bayerl).
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Abb. 5 Palette von 66 kommerziellen Lippenstiftfarben [22].
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Abb. 6 Markierung des Lippenrandes als permanentes „Make-up“ zur Betonung der Mundpartie. Sekundäre granulomatöse Fremdkörperreaktion als unerwünschter Nebeneffekt [22] (Bild: Univ.-Hautklinik Mannheim, Prof. C. Bayerl und Dr. G. Feller-Heppt).