Die Versorgung eines Vergewaltigungsopfers in der Notaufnahme ist besonders anspruchsvoll:
Fehlleistungen bei der Befunderhebung haben zwar in der Regel keine gravierenden gesundheitlichen
Folgen. Allerdings können sie weitreichende juristische Konsequenzen zur Folge haben
[1], da sich das gerichtliche Urteil letztlich auf die in der Notfallsituation erhobenen
Beweismittel stützt.
Darüber hinaus sind die Möglichkeit der Übertragung von Infektionserkrankungen abzuwägen
und entsprechende diagnostisch-therapeutische Maßnahmen in die Wege zu leiten. Gleiches
gilt für die eventuelle Notwendigkeit einer Empfängnisverhütung. Im Sinne einer akuten
Krisenintervention muss man zudem dafür sorgen, dass die Patientin psychologische
Unterstützung erhält, und sie ggf. in eine sichere Unterbringung übergeben. Aufgrund
der großen psychischen Belastung der Patientin sind Doppeluntersuchungen zu vermeiden
– daher ist frühzeitig eine gynäkologische und rechtsmedizinische Beurteilung zu gewährleisten.
Der folgende Artikel soll dem (Notfall-)Mediziner Schritt für Schritt ein klinisch-forensisches
Basiswissen vermitteln, das ihm die komplexe Versorgung dieser Patientinnen erleichtert
und zur adäquaten Spurensicherung und fachgerechten Probenaufbewahrung beiträgt.
Epidemiologie sexueller Straftaten
Epidemiologie sexueller Straftaten
Im Jahr 2012 wurden 8031 Vergewaltigungen bzw. sexuelle Nötigungen deutschlandweit
zur Anzeige gebracht. Dabei waren 99 % der Beschuldigten männlichen und 96 % der Opfer
weiblichen Geschlechts. Lediglich bei 21 % der Opfer bestand keine Vorbeziehung zum
Täter. Eine Aufklärung der angezeigten Sexualverbrechen gelang in rund 80 % der Fälle
[2]. Auch heute noch muss man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, da viele Opfer
aus Scham, Angst oder einer persönlichen Beziehung zum Täter das Verbrechen nicht
anzeigen. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind besonders gefährdet, z. B.:
-
Behinderte
-
Obdachlose
-
Homo- und Transsexuelle
-
Prostituierte [3]
Zudem nehmen Sexualstraftaten unter Alkohol- und Drogeneinfluss deutlich zu [4].
Vorstellung in der zentralen Notaufnahme
Vorstellung in der zentralen Notaufnahme
Medizinische Aspekte
Neben den vom Rettungsdienst zugewiesenen Patientinnen stellen Notfallambulanzen häufig
einen zentralen Anlaufpunkt für die eigeninitiierte Vorstellung von Opfern sexualisierter
Gewalt dar. Sie suchen nicht nur medizinische Hilfe aufgrund physischer und psychischer
Verletzungen, sondern brauchen Rat bez. möglicher Folgen: v. a. ungewollte Schwangerschaften
oder potenziell übertragene infektiöse Erkrankungen. Obwohl die Ressourcen in der
Notaufnahme häufig zeitlich und personell begrenzt sind, bedarf es hier der einfühlsamen
Anamneseerhebung und anschließender Untersuchung.
Rechtliche Aspekte
Neben den medizinischen Aspekten muss man auch die rechtlichen Belange berücksichtigen:
Die Patientin sollte darüber aufgeklärt werden, dass eine ausführliche Untersuchung
in erster Linie dazu dient, die körperliche und seelische „Integrität“ wiederherzustellen.
Andererseits ist sie jedoch auch Grundlage für eine vollumfängliche Beweissicherung
als Basis für eine mögliche Anzeige. Die Untersuchung und Behandlung erfolgt in jedem Fall unabhängig von einer späteren
Anzeige!
Anamnese
Grundsätzlich muss man alle Einzelheiten der Tat erfragen und entsprechend dokumentieren
(Infokasten). Bei polizeibeauftragten Untersuchungen gilt: Die Schilderung des Tathergangs
durch die Polizei kann im Wissen, jedoch in Abwesenheit des Opfers erfolgen und als
Grundlage für ergänzende anamnestische Fragestellungen dienen. Somit kann man zumindest
teilweise vermeiden, das Opfer mit Mehrfachbefragungen zu belasten.
Praxistipps: wichtige Anamnesefragen [
1]
-
Die 6 „Ws“ (Wer? Was? Wann? Wo? Wie viele? Welche Handlungen?)
-
Gibt es akute Verletzungen? Bestehen Schmerzen oder Blutungen?
-
Wie hat sich das Opfer nach der Tat verhalten? (Wechsel der Kleidung, Reinigung des
Körpers)
-
Hat das Opfer Medikamente, Drogen oder Alkohol vor oder zum Tatzeitpunkt konsumiert?
Bestehen amnestische Defizite?
-
Kam es täterseitig zu einer Ejakulation und wohin? Kam es zu sonstigen Sekretantragungen
(z. B. Speichel)?
-
Wann war die letzte Menstruationsblutung? Liegt eine Schwangerschaft vor? Wann und
mit wem war der letzte einvernehmliche Geschlechtsverkehr? Befindet sich die Patientin
in regelmäßiger gynäkologischer Behandlung?
-
Wurden Verhütungsmittel verwendet?
Die körperliche Untersuchung
Die körperliche Untersuchung
Allgemeine Grundlagen
Vorbereitung
Prinzipiell sollte man für eine ruhige Atmosphäre in einem separaten Untersuchungsraum
sorgen und längere Wartezeiten vermeiden. Während der Untersuchung sollte eine weibliche
Drittperson anwesend sein, insbesondere wenn für die körperliche Untersuchung keine
Ärztin verfügbar ist. Um das Gefühl des erneuten „Entblößens“ zu vermeiden, sollte
bei der Ganzkörperuntersuchung schrittweise vorgegangen werden und lediglich die aktuell
zu untersuchende Region entkleidet werden. Das Tragen von Handschuhen und Mundschutz
ist zur Vermeidung einer Kontamination obligat. Nach Aufklärung über den Untersuchungszweck
und -hergang muss man – die Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Patientin vorausgesetzt
– das Einverständnis zur Untersuchung, Probenentnahme, Sicherstellung und Weitergabe
von Beweismitteln einholen und schriftlich dokumentieren.
Anzeige
Ist eine Anzeige beabsichtigt, gilt dies ebenso für die Schweigepflichtentbindung.
Prinzipiell erfolgt die Untersuchung unabhängig von einer Anzeigenerstattung. Lehnt
die Patientin eine Anzeigenerstattung ab, sollte man sie über die Möglichkeit einer
vorsorglichen Asservierung von Spurenmaterial aufklären.
Versorgung von Verletzungen
Lebensbedrohliche Verletzungen müssen sofort behandelt werden. Dabei sollte man nach
traumatologischen Standards zur Sicherung der Vitalfunktionen vorgehen (z. B. nach
ATLS®-Schema: Advanced Trauma Life Support). Wenn möglich sollte man die zu versorgenden
Verletzungen vorab fotografisch dokumentieren (Übersichts- und Detailaufnahme mit
Maßstab) [5]. Kleinere Verletzungen sind hingegen der rechtsmedizinischen Untersuchung hintanzustellen.
Sollte es bei der Vergewaltigung zu traumatologisch relevanten Verletzungen gekommen
sein, muss man eine entsprechende radiologische Diagnostik in die Wege leiten. Bei
analer Penetration und damit assoziierter Schmerzsymptomatik ist ggf. eine Röntgen-Abdomen-Übersicht
in Linksseitenlage zum Ausschluss einer Darmperforation zu ergänzen.
Extragenitale Verletzungen
Juristisch bedeutsam
Bei mehr als zwei Drittel der Vergewaltigungsfälle kommt es zu extragenitalen Verletzungen;
diese sind somit häufiger zu beobachten als genitale Traumata [6]. Aus juristischer Sicht ist der Nachweis derartiger Verletzungsmuster entscheidend,
da diese meist zweifelsfrei eine Gewaltanwendung belegen und dem oft täterseitig geäußerten
Einwand widersprechen, alles sei freiwillig erfolgt.
Verletzungsarten
Vielfach kommt es zu stumpfer Gewalteinwirkung in Form von Schlägen. Typische Folgen
von Vergewaltigungen sind zudem
-
Fixierungsverletzungen ([Abb. 1]),
-
passive und aktive Abwehrverletzungen v. a. im Bereich der Unterarme, Handrücken und
Finger(-nägel),
-
Widerlagerverletzungen ([Abb. 2]) und
-
Verletzungen durch gewaltsames Entkleiden [1] ([Abb. 3]).
Abb. 1 Fixierungsverletzung: Griffhämatome i. B. der Oberarminnenseite (Bildnachweis: Institut
für Rechtsmedizin Leipzig, Dr. C. König).
Abb. 2 Widerlagerverletzung im Bereich des Beckens (Bildnachweis: Institut für Rechtsmedizin
Leipzig, Dr. C. König).
Abb. 3 Typische Kratzverletzungen nach gewaltsamem Entkleiden (Bildnachweis: Institut für
Rechtsmedizin Leipzig, Dr. C. König).
Eine Auflistung typischer extragenitaler Verletzungsmuster und ihrer jeweiligen Entstehungsmechanismen
findet sich in [Tab. 1].
Tab. 1 Extragenitale Verletzungen mit Entstehungsmechanismus.
Lokalisation
|
Art der Verletzungen
|
Entstehungsmechanismus
|
Kopf
|
punktförmige Rötungen der Kopfhaut
|
Ausreißen von Haaren
|
petechiale Blutungen in Haut und Schleimhäuten
|
Stauungsblutungen nach Angriff gegen den Hals
|
Hämatome an Wangen, Ohren, retroaurikulär
|
Schläge
|
Hämatome und Verletzungen der Mundvorhofschleimhaut
|
Schläge, gewaltsamer Verschluss des Mundes
|
Hals
|
Rötungen, kratzerartige Hautabschürfungen, halbmondförmige Einblutungen, Oberhautverletzungen
(Halsschmerzen, Schluckbeschwerden)
|
Angriff gegen den Hals (Würgen, Drosseln)
|
Rumpfvorderseite
|
Hämatome, insbesondere der Mammae
|
Bissverletzungen, Saugbisse, Griffhämatome
|
Rumpfrückseite
|
flüchtige Rötungen, Unterblutungen, z. T. Exkoriationen über prominenten Knochenpunkten
(Schulterblätter, Dornfortsätze der Brust- und Lendenwirbelsäule, Kreuzbein)
|
Widerlagerverletzungen
|
Becken- und Gesäßregion
|
streifenförmige Exkoriationen und Kratzverletzungen, senkrecht verlaufend
|
Entkleideverletzungen
|
Arme
|
Rötungen, Hämatome, z. T. Kratzverletzungen und flächige Exkoriationen an Oberarmen
|
Griffhämatome, Fixierverletzungen
|
Hämatome, Schwellungen an Unterarmen (bes. ulnar) und Handrücken
|
Abdeck-/Parierverletzungen
|
quer verlaufende, streifige Druckmarken, Hämatome, Exkoriationen im Handgelenkbereich
|
Fesselung
|
glattrandige Verletzungen an Händen (bes. Handflächen)
|
Abwehr gegen Angriff mit scharfem Werkzeug
|
Beine
|
Rötungen, Hämatome, Kratzverletzungen besonders an den Oberschenkeln innenseitig
|
Spreizverletzungen, Entkleideverletzungen
|
doppelstreifig angeordnete Unterblutungen
|
Schläge mit Stock o. ä.
|
Zu untersuchende Körperstellen
Bei der ausführlichen körperlichen Untersuchung – im Sinne eines „secondary survey“
– ist darauf zu achten, dass insbesondere Verletzungen sowie Antragungen im Bereich
verdeckter Körperstellen, wie z. B. der behaarten Kopfhaut, der Diagnostik nicht entgehen
[1]. Sonst könnten folgende Verletzungen leicht übersehen werden:
-
retroaurikuläre Verletzungen
-
Lippen-/Mundschleimhautblutungen
-
Hämatome und Hautabschürfungen im Bereich des Kehlkopfs, des Nackens und der behaarten
Kopfhaut
Im Bereich des Kopfes sowie der Halsweichteile sollte man auf Hinweise für eine Strangulation,
insbesondere konjunktivale Stauungsblutungen, achten. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung
sollten nicht nur Haut- und Weichteilverletzungen eruiert, sondern
-
Frakturen,
-
Verbrennungen und
-
Verätzungen
aktiv ausgeschlossen werden [1].
Anogenitale Untersuchung
Anogenitale Verletzungen
Die anogenitale Untersuchung erfolgt idealerweise in Kooperation zwischen Rechtsmedizin
und Gynäkologie, um für die Patientin belastende Doppeluntersuchungen zu vermeiden
[1]. Verletzungen im Anogenitalbereich sind eher selten und präsentieren sich in Form
geringer Rötungen, Hämatome oder oberflächlicher Schleimhautverletzungen ([Abb. 4]). Diese sind oft im Bereich der hinteren Kommissur der Labien lokalisiert [7]. Allerdings bedeutet das Fehlen derartiger Verletzungsmuster nicht, dass es zu keiner
Gewaltanwendung und keiner vaginalen Penetration kam. Zunächst sollte man Abstriche
der Oberschenkelinnenseiten sowie der Labien machen. Die Schamhaare müssen ggf. mit
einem Einmalkamm ausgekämmt und mit dem Kamm in einem separaten Behältnis gesichert
werden.
Abb. 4 Typisches genitales Verletzungsmuster mit diskreter Rötung i. B. der hinteren Scheidenkommissur
(Bildnachweis: Institut für Rechtsmedizin Leipzig, Dr. C. König).
Kolposkopie
Neben der Inspektion sollte eine kolposkopische Diagnostik erfolgen, um die Schleimhautverhältnisse
optimal zu beurteilen. Mit einem Spekulum untersucht man die inneren Genitalien auf
Verletzungen, Sekretansammlungen, frische Blutungen und Fremdkörper. Hierbei sollten
mindestens 2 Abstriche im Bereich des Scheideneingangs und des Scheidengewölbes abgenommen
werden. Diese sind durch Abstriche im Bereich der Portio zu ergänzen.
Ultraschall
Um innere Blutungen auszuschließen, vervollständigt eine Untersuchung mittels transvaginalem/abdominellem
Ultraschall die gynäkologische Diagnostik [1].
Perianalregion
Nachdem die Perianalregion inspiziert wurde, sollte man Abstriche im Bereich der Afteröffnung
und aus dem Anus entnehmen. Bei peranalen Blutabgängen sollte man ggf. eine proktologische
Untersuchung ergänzen.
Befund- und Spurensicherung
Befund- und Spurensicherung
Rechtsmedizin
Wenn verfügbar, sollte man zügig zur Erstversorgung konsiliarisch einen Rechtsmediziner
für die Dokumentation und Interpretation der Verletzungen sowie die Sicherung von
weiteren Spuren heranziehen. Ist kein Rechtsmediziner verfügbar, kann man ggf. ein
rechtsmedizinisches Telekonsil einholen. Ursprünglich vom Leipziger Institut für Rechtsmedizin
entwickelt, werden diese mittlerweile von mehreren rechtsmedizinischen Instituten
in Deutschland angeboten [8].
Entnahme von Proben
Biologische Spuren am Körper sollte man gezielt und nur dort asservieren, wo Sekretspuren
erkennbar sind oder wo man sie aufgrund der Opferangaben vermutet. Man sollte die
Haut nicht großflächig mit Asservatentupfern abreiben, da so v. a. die DNA des Opfers
erfasst wird [9]. Die Probenentnahme sollte – wenn möglich – innerhalb von 72 h nach der Tat erfolgen.
Um sie genau zuordnen zu können, sollte man die Befunde und Proben korrekt identifizieren:
mit Dokumentation von Personalien des Patienten, Datum und Lokalisation der Abstrichpräparate
[1].
Lagerung von Proben
Die kontaminationsfreie Entnahme von Abstrichen erfolgt bei trockenen Substanzen mit
einem sterilen, befeuchteten Wattestieltupfer, der im Anschluss getrocknet werden
muss. Eine feuchte Lagerung führt häufig zur Zerstörung der Proben und verhindert
eine verwertbare DNA-Analyse. Feuchtes Spurenmaterial wird mit einem trockenen Tupfer
aufgenommen und anschließend getrocknet. Für solche Zwecke gibt es kommerziell angebotene
Spurensicherungsbestecke ([Abb. 5]). Diese Spurensicherungssets und standardisierte Checklisten gewährleisten
-
die Erhebung aller relevanten Untersuchungsbefunde,
-
die Dokumentation der Verletzungen und
-
die sachgerechte Spurensicherung und -aufbewahrung [9], [10].
Abb. 5 Spurensicherungsset (Bildnachweis: Institut für Rechtsmedizin Leipzig, Dr. C. König).
Eine umfangreiche Sammlung entsprechender Dokumentationsbögen findet sich unter den
im Infokasten aufgeführten Internetlinks.
Blut- und Urinprobe
Grundsätzlich empfiehlt sich eine Blut- und Urinasservierung zum Nachweis bzw. Ausschluss
eines Betäubungsmittel-, Medikamenten- oder Alkoholkonsums. Eine Haarprobe kann ggf.
zusätzlich gesichert werden. Falls das Opfer eine unerklärte Bewusstlosigkeit oder
Gedächtnislücken schildert, muss man an die Möglichkeit einer unwissentlichen Verabreichung
von kurzwirksamen Narkotika wie z. B. γ-Hydroxybutyrat denken. Da diese Substanzen
z. T. sehr schnell im Blut abgebaut werden, sollte die Blutentnahme und Urinasservierung
so schnell wie möglich erfolgen [9].
Schwangerschaft
Um eine vorbestehende Schwangerschaft auszuschließen, sollte die Analyse von β-HCG
im Serum erfolgen. Das Risiko einer vergewaltigungsassoziierten Schwangerschaft beträgt
5 % [11]. Auf Wunsch der Patientin kann eine Notfallkontrazeption mit Levonorgestrel (z. B.
1-mal PiDaNa® 1,5 mg p. o.) innerhalb von 72 h bzw. Ulipristal (1-mal EllaOne® 30 mg)
innerhalb von 5 d nach Geschlechtsverkehr initiiert werden. In diesem Zusammenhang
muss man die Patientin über arzneimittelassoziierte Risiken und Nebenwirkungen wie
z. B. Übelkeit und Erbrechen, abdominelle Schmerzen und vaginalen Blutabgang aufklären.
Im Falle einer schon vor dem Delikt bestehenden Schwangerschaft sind regelmäßige gynäkologische
Verlaufskontrollen zu empfehlen.
Übertragung infektiöser Erkrankungen
Übertragung infektiöser Erkrankungen
Wann untersuchen?
Nach einem Sexualdelikt muss man die Patientin nicht routinemäßig auf alle sexuell
übertragbaren Krankheiten untersuchen. Liegen jedoch ein entsprechender Verdacht und
klinische Befunde vor, sollten serologische/mikrobiologische Untersuchungen durchgeführt
werden: So kann eine vorbestehende Infektionserkrankung ausgeschlossen und eine durch
den Übergriff übertragene nachgewiesen werden ([Tab. 2]). Außerdem muss die Patientin darauf hingewiesen werden, dass Verlaufsuntersuchungen
entsprechend den virologisch/mikrobiologischen Standards zur Diagnostik von Infektionserkrankungen
notwendig sind. Wie bei anderen Verletzungen auch üblich, sollte man den aktuellen Tetanusimpfstatus
klären.
Tab. 2 Sexuell übertragbare Infektionserkrankungen.
Infektionserkrankung
|
diagnostische Maßnahmen
|
Humanes Immundefizienz-Virus (HIV)
|
Serologie
|
Hepatitis B und C
|
Serologie, PCR
|
Syphilis
|
Serologie
|
Gonorrhö
|
Kultur, PCR
|
Chlamydien
|
Kultur, PCR
|
Trichomonaden
|
Nativausstrich, Kultur
|
Prophylaxe
Bei unzureichender Immunisierung sollte man im Anschluss eine Vakzinierung gegen Hepatitis
B und Tetanus mit der Patientin besprechen und durchführen. Auch eine Postexpositionsprophylaxe
(PEP) muss man ggf. zu diesem Zeitpunkt vornehmen. Dabei sind zu berücksichtigen:
-
ggf. bekannte HIV-Infektion eines bekannten Täters
-
Verwendung von Verhütungsmitteln
-
lokale HIV-Prävalenzen bei unbekanntem Täter
-
Risiko der Transmission in Abhängigkeit von der Art der Penetration (HIV-Transmissions-Risiko
bei analer Penetration: 1–3 Fälle/100 Patienten, bei vaginaler Penetration: 1–2 Fälle/1000
Patienten [12])
Die Patientin sollte man darauf hinweisen, dass unmittelbar mit der Behandlung begonnen
werden muss – die Wirksamkeit der PEP hängt maßgeblich vom Zeitraum zwischen Exposition
und Therapiebeginn ab. Der erstbehandelnde Arzt stellt bei entsprechender Risikokonstellation
die Indikation zur PEP. Ausführliche Informationen zur Indikationsstellung, Durchführung,
Nebenwirkungsprofil und versicherungsrechtlichen Aspekten sind den Internetseiten
des Robert Koch-Instituts sowie der deutschen AIDS-Gesellschaft e. V. (Infokasten)
zu entnehmen.
Dokumentation
Die Beratung sowie die Einverständniserklärung zur PEP müssen dokumentiert werden.
Entsprechende Formulare, die das Robert Koch-Institut zur Verfügung stellt, finden
sich ebenfalls als Internetlinks im [Infokasten].
Psychische Traumatisierung
Psychische Traumatisierung
Frühzeitige Hilfe
Neben den physischen Verletzungen kommt es bei einem überwiegenden Teil der Patientinnen
zu einer psychischen Traumatisierung [13]. Die entsprechenden Befunde muss man sorgfältig dokumentieren. Es ist sinnvoll,
frühzeitig psychosoziale Hilfe zu veranlassen, um Folgeschäden zu vermeiden bzw. zu
minimieren. Dem behandelnden Arzt sollten regionale Beratungs-und Hilfsangebote bekannt
sein. Regionale und überregionale Hilfsangebote sind u. a.:
-
Autonomes Frauenhaus Leipzig, Tel.: 03 41/4 79 81 79
-
Frauennotruf Leipzig, Tel.: 03 41/3 91 11 99, http://www.frauennotruf-leipzig.de
-
Bundesweites „Hilfstelefon Gewalt gegen Frauen“: 08 00/11 60 16
-
Weißer Ring, Opfernotruf & Info-Telefon (24 h): 0 18 03/34 34 34
Weitere Versorgung
Gibt es Hinweise auf eine vorliegende Eigengefährdung, sollte man unmittelbar eine
fachpsychiatrische Mitbeurteilung und ggf. stationäre Behandlung veranlassen. Bei
Entlassung aus der Klinik muss ausgeschlossen sein, dass die Patientin in eine erneute
unmittelbare Gefährdungssituation gerät. Ist dies nicht gewährleistet, ist die stationäre
Aufnahme oder Unterbringung in einer entsprechenden Schutzeinrichtung indiziert. Hierbei
sollten die behandelnden Ärzte kooperativ mit den zuständigen Sozialdiensten und den
lokalen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten.
Medikolegale Aspekte
Schweigepflicht
Bei patientenbeauftragter Untersuchung gilt prinzipiell die ärztliche Schweigepflicht.
Nach der Untersuchung erhält die Patientin eine Bescheinigung über Ort und Zeit der
Untersuchung sowie über die erhobenen Asservate; diese kann ggf. den Ermittlungsbehörden
vorgelegt werden. Wenn die Patientin zur polizeibeauftragten Untersuchung kommt, ist
der Arzt durch die polizeilich durchzuführende Schweigepflichtentbindung von der selbigen
befreit. Ist die Patientin zur Aussageverweigerung berechtigt, z. B. wenn es sich
bei dem Täter um einen Familienangehörigen handelt, darf die Entbindung von der Schweigepflicht
zurückgenommen werden [1].
Aufbewahrung der Beweise
In Abhängigkeit regionaler Gegebenheiten kann das erhobene Beweismaterial an das zuständige
Institut für Rechtsmedizin weitergeleitet und dort für eine bestimmte Frist aufbewahrt
werden. Die Geschädigte muss sich somit nicht unmittelbar für oder gegen eine Strafanzeige
entscheiden. Erst nach Beauftragung durch die Staatsanwaltschaft wird das Beweismaterial
analysiert.
Fazit
Die Versorgung von Opfern sexualisierter Gewalt ist eine komplexe Aufgabe, die sowohl
medizinische, psychologische als auch rechtliche Aspekte beinhaltet. Eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit in der zentralen Notaufnahme und ein abgestimmtes Vorgehen sind Grundlage
für eine optimale Patientenversorgung und die Sicherung vorhandener Spuren, die einen
wichtigen Aspekt bei der juristischen Beurteilung darstellen. Die Verwendung von Checklisten
und Spurensicherungssets sowie regelmäßige Schulungsmaßnahmen können die Versorgung
von Opfern sexueller Gewalt erleichtern und optimieren.
Checkliste zur Versorgung von Vergewaltigungsopfern [
1]
-
Erstkontakt Patient-Arzt
-
Anamneseerhebung (gynäkologische Anamnese, Zyklus, Kontrazeption, letzter einvernehmlicher
Geschlechtsverkehr)
-
Untersuchung
-
1. Schritt: Abstriche oral
-
2. Schritt: Sicherstellen der Kleidung (Papiersack)
-
3. Schritt: körperliche Untersuchung mit Spurensicherung und Dokumentation auf Untersuchungsbögen
-
4. Schritt: Blut- und Urinproben
-
5. Schritt: gynäkologische Untersuchung und Spurensicherung
-
6. Schritt: Abstriche Anus/Rektum
-
7. Schritt: weiterführende Diagnostik (bildgebende Verfahren etc.)
-
Klinische Behandlungsmaßnahmen: Versorgung behandlungsbedürftiger Verletzungen, Verabreichung
bzw. Verschreibung von Antikonzeptiva, Impfung sowie medikamentöse Therapie inkl.
Postexpositionsprophylaxe (PEP) bei Möglichkeit der Übertragung von infektiösen Krankheiten
-
Psychosoziale Betreuung der Opfer mit Verweis auf spezifische Beratungsstellen und
Betreuungseinrichtungen
Hinweis
Erstpublikation in: Lege Artis 2014; 4: 250–256