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DOI: 10.1055/s-0035-1544932
Heute auf dem Sofa: Johannes Kirchhof
Sabine Hahn im Gespräch mit PflegeexpertenPublication History
Publication Date:
23 January 2015 (online)
Herzliche Gratulation Herr Kirchhof, Sie haben gerade Ihr Bachelorstudium erfolgreich absolviert. Als examinierter Krankenpfleger haben Sie schon vor dem Studium einige Berufserfahrungen gesammelt. Was hat Ihnen das Studium für neue Erkenntnisse gebracht?
Vielen Dank. Als erstes möchte ich hier das Zusammenkommen und den Austausch mit den anderen Kursteilnehmern nennen. Wir hatten von der Uniklinik aus bisher nur wenig Kontakt zu anderen psychiatrisch Tätigen. Über Dorothea Sauter bin ich zum Netzwerk Psychiatrische Pflege gestoßen, aus dem dann die Deutsche Fachgesellschaft Psychiatrische Pflege (DFPP) hervorgegangen ist. Hier bin ich jetzt im Rahmen meiner Möglichkeiten aktiv und freue mich über den Austausch und die Kontakte.Neben den Grundfertigkeiten, die im Rahmen eines Studiums erworben werden, haben wir neue Konzepte, Ansätze und Verfahren kennengelernt, die uns jetzt befähigen, unsere pflegerische Praxis zu prüfen und weiterzuentwickeln.Ein besonderer Höhepunkt des Studiums war meine persönliche „Recovery-Reise“ im vergangenen Jahr. Bei meinen Hospitationen in Kliniken in der Schweiz und in Deutschland bin ich sehr freundlich und offen empfangen worden und konnte von den verschiedenen Erfahrungen bei der Umsetzung des Recovery-Gedankens in die Pflegekonzepte lernen. Vielen Dank bei dieser Gelegenheit nochmal an Sebastian Ruegg aus Zürich, Christian Burr aus Bern und Simone Stuhlmüller aus Wiesloch.
Was ist Ihnen als Pflegefachperson im Kontakt beziehungsweise Umgang mit Patienten besonders wichtig?
Mein Leitmotto ist, sich so zu verhalten, wie man es für sich oder seine Angehörigen wünschen würde. Rogers Grundhaltungen beschreiben die entscheidenden Aspekte einer Begegnung auf Augenhöhe: Echtheit, Wertschätzung und Empathie.Im hektischen Alltag einer Akutstation ist es natürlich oft schwierig, sich „runterzufahren“ und immer die nötige Ruhe und Verständnis aufzubringen. Aber gerade hier kann es schwierige Situationen entschärfen, wenn der Betroffene Geduld und Einfühlung erfährt, nicht Regeln und Ordnung den Ablauf bestimmen.Wenn sich die Mitarbeiter selbst sicher fühlen, weil die personelle Besetzung in Quantität und Qualität gut ist, können sie auch in kritischen Situationen gelassener bleiben und wirken somit deeskalierend.
Sie blicken auf eine längere Berufskarriere zurück. Welche Personen oder Ereignisse haben Sie beruflich wesentlich beeinflusst?
In diesem Monat ist es genau 30 Jahre her, dass ich mit der Krankenpflegeausbildung in der Landesklinik in Lengerich begonnen habe. Die Eindrücke der ersten Jahre waren natürlich besonders prägend. Da lernt man am Modell, orientiert sich an dem, was erfahrene Kollegen tun.Das Thema Bezugspflege nach Kistner und was sie im Idealfall ausmacht, war immer sehr wichtig für mich, diesbezüglich auch die Qualitätsnormen von Abderhalden und Needham.Beeinflusst hat mich außerdem Chris Abderhaldens gewandelte Einstellung zu Pflegediagnosen: weg von der Etikettierung hin zur individuellen Benennung der Probleme und Ressourcen durch den Betroffenen selbst. Und natürlich Michael Schulz, der entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Psychiatrischen Pflege in Deutschland hat und mich, wie viele andere, dazu animiert hat, sich selbst aktiver einzubringen.
Sie haben als Thesenprojekt das Gezeiten-Modell von Phil Barker und Poppy Buchanan-Barker in die Praxis eingeführt. Können Sie bitte für unsere Leserinnen und Leser kurz die Schwerpunkte des Modells zusammenfassen?
Das Gezeiten-Modell setzt den Recovery-Gedanken in die Praxis um. Es ist ein philosophisch-metaphorisches Modell, das auf der „Theorie der interpersonalen Beziehung in der Pflege“ von Peplau basiert. Die „Zehn Verpflichtungen“ stellen die Wertebasis des Modells dar. Die „20 Befähigungen“ sind eine Auflistung der erforderlichen Kompetenzen der Pflegepersonen.Die Metapher der Gezeiten beschreibt das Leben als Reise auf dem Ozean der Erfahrungen: Auf dieser Reise kann es zu schwierigen Situationen kommen. Man kann in Stürme oder gar in Seenot geraten. Dann ist es gut, in einen sicheren Hafen geschleppt zu werden. Hier kann man nun alles tun, um das Schiff wieder seetüchtig zu machen. Vielleicht muss danach aber auch eine andere Route gewählt werden, um nicht wieder in schwieriges Gewässer zu kommen.So wird beschrieben, was Pflege zu welchem Zeitpunkt tun muss: Schutz und Sicherheit gewähren, dem Betroffenen die Möglichkeit zum Auftanken zu geben, und schließlich die Probleme tiefer auszuloten, bevor dann die Reise des Lebens wieder fortgesetzt werden kann.Das vierteilige Assessment stellt die praktische Arbeitsgrundlage zur Verfügung: Ein Aufnahme-Assessment, in dem aus Sicht des Betroffenen die Entwicklung beschrieben wird und was im Hier und Jetzt zu tun ist. Selbstaussagen und Krankheitsverständnis werden erfragt, bevor die Bedürfnisse und Probleme nach ihrer Dringlichkeit priorisiert werden. Natürlich werden die Ressourcen festgehalten, auf welche Menschen und Einstellungen man im Genesungsprozess bauen kann. Schließlich wird eine Wunschvorstellung formuliert und Schritte, die dorthin führen können, beschrieben.Im Protokoll der wöchentlichen Sitzung wird der Betroffene für die Wahrnehmung der Veränderungen sensibilisiert. In Zusammenhang gebracht mit dem, was er selbst hierzu beigetragen hat, erlebt der Betroffene Selbstwirksamkeit. Der Monitoring-Bogen dient der beiderseitigen Einschätzung der Gefährdung. Der persönliche Sicherheitsplan hält fest, was der Betroffene und auch die Helfer tun können, um sich sicherer zu fühlen.
Was fasziniert Sie am Gezeiten-Modell?
Der Patient ist kein Objekt der Behandlung, sondern der bestimmende Teil des Genesungsprozesses. In allen Belangen ist seine Einschätzung, seine aktive Rolle gefragt. Gleichzeitig wird aber auch immer gegenübergestellt, was wir als professionelle Helfer beitragen können. Das Verhältnis dieser Anteile hängt natürlich immer von dem jeweiligen Verlauf ab.Der zweite Punkt ist, dass das Modell umfassend ist: Die Haltung und Kompetenzen der Pflegenden werden beschrieben, mit dem Assessment werden die Sichtweisen des Betroffenen, seine Bedürfnisse und Probleme, aber auch seine Ideen und Lösungsansätze in Erfahrung gebracht.Der dritte Punkt ist schließlich die Metapher: Das Bild vom sicheren Hafen ist stimmig, die Betroffenen und wir selbst sprechen ganz häufig in diesen Bildern.
Wie sieht die Umsetzung des Modells nun konkret in der Praxis aus?
Nach Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung im Juli 2013 wurde ein Projektplan zur Einführung erstellt und das Modell der Pflegedirektion und Klinikleitung vorgestellt. Zunächst wurden Barkers „Zehn Verpflichtungen“ bekannt gemacht. Dann wurde das Assessment kopiert und allen Pflegepersonen der drei offenen Stationen zur Anwendung zur Verfügung gestellt. Da das Buch als Manual gestaltet ist und alle Schritte zur Anwendung sehr gut verständlich und ausführlich beschrieben sind, war ich zuversichtlich, dass sich viele Kollegen beteiligen würden.Wir wollten für eine Zwischenauswertung Erfahrungen sammeln, um Auswirkungen und Anpassungsbedarf einschätzen zu können. In zwei Gruppeninterviews und Einzelgesprächen wurden erste Effekte deutlich und der Schulungsbedarf ersichtlich. Von März bis Juli 2014 wurden alle Mitarbeiter der offenen Stationen und der Tagesklinik geschult. Hier wurde zunächst auf Salutogenese und Recovery eingegangen, bevor der Einsatz des Assessments detailliert besprochen und auch in Partnerübungen geprobt wurde.Die Situation auf den zwei geschützten Stationen der Klinik, mit permanenter Überbelegung, erschwert die Einführung hier erheblich. Zum einen, weil noch nicht alle Mitarbeiter geschult sind, zum anderen, weil sie unsicher sind wegen des befürchteten zeitlichen Mehraufwands und angenommenen Limitationen des Modells bei akutpsychotischen Menschen oder Menschen mit erheblichen kognitiven Einschränkungen.
Wie praxistauglich ist das Gezeiten-Modell in der Psychiatrischen Pflege in Deutschland? Beziehungsweise welche Anpassungen mussten Sie vornehmen?
Das Modell ist absolut praxistauglich. Statt am Rechner nach dem passenden Etikett für die Probleme zu suchen und dann automatisiert Ziele und Maßnahmen zuzuordnen, erfahren wir jetzt vom Betroffenen selbst, worunter er leidet und was er sich von uns an Unterstützung wünscht. Das entlastet auch die Pflegenden. Das Assessment strukturiert die Gespräche sehr hilfreich, ohne dass man sich einengen lassen muss. Es schafft Transparenz für alle Beteiligten, da der Patient alle Kopien zu seiner Verfügung hat und auch die anderen Berufsgruppen Einblick in die Arbeit der Bezugspflege erhalten.Wir haben das Assessment ergänzt um eine Seite, um aus pflegefachlicher Sicht Unterstützungsbedarf bei Ernährung, Ausscheidung, Sturzgefahr, Risiken aus kognitiver Einschränkung zu erfassen. Wir nutzen hier als Vorlage die „Strukturierte Informationssammlung“, die zur Entbürokratisierung in der Pflege von Roels entwickelt wurde. Auch auf der Rückseite des Protokolls zum wöchentlichen Bezugspflegegespräch sind diese Fragen aufgeführt, so ist die regelmäßige Evaluation gewährleistet.Auf die separate Pflegeplanung können wir dann verzichten. Der Leistungsnachweis wird anhand der Stufen des Betreuungsintensitätsmoduls gestaltet. Somit werden Bedürfnisse und Erfahrungen des Patienten in Erfahrung gebracht und gleichzeitig den Anforderungen an eine Krankenhausdokumentation Genüge getan.
Das Gezeiten-Modell stellt die menschliche Erfahrung, die persönliche Geschichte von psychischen Beeinträchtigungen in das Zentrum der Betreuung und Pflege. Wie verträgt sich das mit den gegenwärtigen Organisationsstrukturen, welche die individuellen Bedürfnisse von Patienten wenig berücksichtigen?
Wenn die Medizin auf die Behandlung der Krankheit, auf die Diagnose und Psychopathologie fokussiert ist, dann ist das Feld der persönlichen Erfahrung und des individuellen Umgangs mit Krankheitsfolgen das originäre Feld der Pflege – das gehört in den Mittelpunkt unseres Interesses und Handelns. Dann können wir das, was wir mittels Gezeiten-Modell mit dem Patienten erarbeitet haben, was wir von seinen Problemen, Bedürfnissen und Zielen kennengelernt haben, in die interdisziplinäre Behandlung einbringen – und zwar viel besser als wir es vorher konnten!
Auf welche Widerstände sind Sie bei der praktischen Umsetzung gestoßen?
Offenen Widerstand gab es überhaupt nicht. Vonseiten der Pflegedirektion wurde meiner fachlichen Expertise vertraut und das Projekt sofort tatkräftig unterstützt.Auf Seiten der Pflege begegneten einige Kollegen dem Projekt mit Skepsis. Manche haben gedacht, „da kommt jetzt wieder so ein Projekt im Rahmen einer Weiterbildung, erstmal abwarten…“ – und haben nicht direkt das Potenzial des Modells für die Patienten, aber auch für die Pflege selbst, erkannt.Vonseiten der ärztlichen Leitung wird das Projekt mit kritischem Interesse gesehen, die Stärkung des Recovery-Gedankens durch ein pflegerisches Konzept wird sehr begrüßt.
Gemäß unserer Zukunftsforschung entwickelt sich die Psychiatrische Pflege weg von der Institution hin in das ambulante Setting und die häusliche Pflege beziehungsweise wird die integrierte Versorgung weiter gefördert. Das Gezeiten-Modell scheint für diese Entwicklung eine ideale pflegerische Ausgangslage zu bieten. Sehen Sie dies auch so?
Unbedingt, die Zukunft der Psychiatrie liegt im ambulanten Bereich. Auf den „sicheren Hafen“ der Klinik wird man natürlich nicht verzichten können und wollen. Aber von Beginn der Behandlung an muss das Lebensumfeld des Betroffenen im Blick sein. Idealerweise findet die Begleitung von dem einen Sektor (stationär oder teilstationär) in den anderen (ambulant) durch die gleiche vertraute Person statt, die um die Erfahrungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse des Betroffenen weiß.
Welche Kompetenzen werden zukünftig für Pflegende vor dem Hintergrund von recoveryorientierten Modellen wichtig werden?
Echtes Interesse an der Person ist Voraussetzung. Als „Holder of Hope“ das Vertrauen des Betroffenen in andere Menschen, aber gerade auch auf sein eigenes Potenzial zu stärken. So sollte die Fähigkeit entwickelt werden, aus einer fürsorglichen Grundhaltung gemeinsam die Erfahrungen zu reflektieren und hieraus tragfähige Strategien und Pläne zu entwickeln.Ein fundiertes Wissen über die Strukturen, über ambulante und rehabilitative Hilfsangebote ist erforderlich, um auch diesen Teil der Pflege im System „Casemanagement“ kompetent ausfüllen zu können.
Meine Schlussfrage an die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner ist, was in ihrem Reisegepäck nie fehlen darf. Ich weiß, Sie haben gerade Ferien. Daher können Sie mir diese Frage sicher spontan beantworten.
Wenn ich länger als zwei Tage von zu Hause weg bin, muss mein Cross-Rad dabei sein. Wir fahren nach Südfrankreich, da erkunde ich dann das wunderschöne Hinterland der Côte d‘Azur, da freue ich mich riesig drauf.