Aktuelle Dermatologie 2015; 41(04): 121
DOI: 10.1055/s-0035-1547034
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Evidenz-basierte Medizin: Ist es der Königsweg?

Evidence Based Medicine: Is it the Silver Bullet?
C. E. Orfanos
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult.Constantin E. Orfanos
Thunerstraße 10
12205 Berlin

Publication History

Publication Date:
13 April 2015 (online)

 

Evidenz-basierte Verfahren in Diagnostik und Therapie werden heute wie ein Mantra beschworen, apodiktisch als der Weg gepriesen, der zum gesicherten Wissen führt. Doch allmählich müssen auch die heißesten Anhänger der Evidenz-basierten Medizin (EbM) einräumen, dass EbM-Verfahren für die Therapieentscheidung an Grenzen stoßen und für den Patienten nur eingeschränkt Vorteile bringen. Statistische Signifikanz ist keinesfalls mit klinischer Relevanz gleichzusetzen. Aus dem Ausland kommen kritische Stimmen [1], und auch bei uns melden sich Stimmen der Kritik [2]. Empirisches Wissen und Können kann nicht ad acta gelegt und durch kein noch so ausgeklügeltes Verfahren kontrollierter Studien ersetzt werden. Mittels Vergleichsstudien wird das Ergebnis in der Gruppe ausgewertet, nicht aber der Wert einer Behandlung beim Einzelnen. Kann durch Computerprogramme und statistische Berechnungen, Evidenz-basierte Scores und dergleichen der Arzt ersetzt werden? Sicher nicht, die angebotene Evidenz müsste gründlich hinterfragt und mit der eigenen klinischen Erfahrung verglichen, ergänzt oder gar korrigiert werden, nur dann kann es zu einer validen ärztlichen Entscheidungsfindung kommen. Es ist verständlich, dass viele Ärzte zögern und Zweifel verspüren, die ärztliche Empirie bleibt meist auf der Strecke, wird teilweise als unwissenschaftlich diskriminiert.

Doch je gründlicher wir die Medikamentenwirkung wissenschaftlich analysieren, desto klarer stellt sich heraus, dass die Reaktion des Patienten auf ein Medikament von genetischen Einflüssen, epigenetischen Faktoren und weiteren individuellen Begleitkriterien abhängig ist. Die EbM als dominierende Richtschnur bringt Nachteile mit sich, einschließlich der Gefahr, die ärztliche Entscheidungsfreiheit mittels vorgegebener Evidenzstufen einzuschränken, ebenso wie den Willen des Arztes sie überhaupt wahrzunehmen. Eine vorgefertigte Antwort auf die Behandlungsfrage ist zweifellos der bequemste Weg und damit attraktiv, die kritische Hinterfragung des Erfahrenen bleibt oft aus, der Unerfahrene wähnt sich auf dem rechten Weg, beide fühlen sich abgesichert. Damit wird aber die Qualität der Heilkunst reduziert. Bereits von Beginn der EbM-Ära hat man in den USA trefflich formuliert, „abscence of evidence is not evidence of absence“, fehlender Nachweis (von Wirksamkeit) ist kein Nachweis von Unwirksamkeit. Die ärztliche Erfahrung bleibt komplementär valide und ist unverzichtbar.

Dazu kommt, dass die Formalisierung der Wirksamkeitsprüfverfahren für Medikamente die Kosten in immense Höhen treibt, die klinische Forschung wurde inzwischen von den Händen motivierter Ärzte genommen und der pharmazeutischen Industrie überlassen, wo sie von Marktinteressen beherrscht wird. Von den großen Pharmafirmen werden potenzielle Medikamente nur dann weiter erforscht und geprüft, wenn sie hohe Umsätze versprechen, rasche Zulassungen werden wegen marginaler Vorteile bei Subgruppen von Kranken angedacht und spätere Indikationserweiterungen kalkuliert.

Es ist bedauerlich, dass als Folge dieser Trends wertvolle ärztliche Erfahrungen rudimentär bleiben und in den wissenschaftlichen Journalen wenig wertgeschätzt werden, sie wandern oft in den Abfallkorb der Geschichte. Unter dem hohen ökonomischen Druck in den Praxen und wegen der mangelhaften staatlichen Finanzierung der Universitäten konzentriert sich die medizinische Forschung immer mehr auf die großen Forschungsinstitute und die Laboratorien der pharmazeutischen Hersteller. Für den Arzt beschränkt sie sich auf Vergleichsstudien mittels marktgerechter vorjustierter Protokolle, die ihm vorgelegt werden und die er zu befolgen hat. Derartige Studien können ethische Konflikte mit sich bringen. Früher wurden in den Universitätszentren die neuen Medikamente erforscht, und die ersten Praxiserfahrungen auf Fachtagungen mit aller Vorsicht vorgetragen. Heute feiert die Finanzwelt die Börsengänge der Biotech-Unternehmen und ihre neuen Einführungen auf den Wirtschaftsseiten der Tagespresse. Hauptthemaen sind die Reaktion der Aktienkurse, die Investitionssummen und die zu erwartenden Umsätze. Soll man also die Bedürfnisse der Industrie voranstellen, auf die ärztliche Erfahrung verzichten und das Vorgehen des Arztes mittels Evidenz-basierter Richt- und Leitlinien automatisieren?

Mir scheint, das Ende der traditionellen Humanmedizin wäre damit nicht weit, die Ärzteschaft müsste EbM-orientiertes Wissen kritisch abwägen, es mit empirischem Wissen bereichern und den Einzelkranken in den Vordergrund stellen. Gründliche Debatten über die ärztliche Entscheidungsfindung im Einzelfall und den wachsenden Bedarf des kranken Menschen an Zuwendung und individueller Betreuung sind gerade in der Dermatologie fällig.


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Prof. Dr. Constantin E. Orfanos

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  • Literatur

  • 1 Greenhalgh T, Howick J, Maskrey N (for the Evidence Based Medicine Renaissance Group). Evidence based medicine: a movement in crisis?. Br Med J 2014; 348: g3725
  • 2 Leiß O. Evidenzbasierte Medizin: Kein L’art pour l’art, sondern zum Nutzen der Patienten. Dtsch Ärztbl 2015; 112 A-130 / B-114 / C-110

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Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult.Constantin E. Orfanos
Thunerstraße 10
12205 Berlin

  • Literatur

  • 1 Greenhalgh T, Howick J, Maskrey N (for the Evidence Based Medicine Renaissance Group). Evidence based medicine: a movement in crisis?. Br Med J 2014; 348: g3725
  • 2 Leiß O. Evidenzbasierte Medizin: Kein L’art pour l’art, sondern zum Nutzen der Patienten. Dtsch Ärztbl 2015; 112 A-130 / B-114 / C-110

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