Zeitschrift für Orthomolekulare Medizin 2015; 2(03): 19-22
DOI: 10.1055/s-0035-1547580
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L-Carnitin − Porträt einer Aminosäure

Stephan Wey
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Dr. med. Stephan Wey
Facharzt für Innere Medizin, Naturheilverfahren, Palliativmedizin, Notfallmedizin
Laufbachstr. 38
77886 Lauf

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Publication Date:
16 October 2015 (online)

 

Zusammenfassung

L-Carnitin hat wichtige Funktionen im mitochondrialen Stoffwechsel; typische Symptome eines Mangels sind Energie-defizit und muskuläre Schwäche. Die Aminosäure hat therapeutisches Potenzial bei verschiedenen Erkrankungen und insbesondere in der Onkologie.


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Carnitin wird endogen aus den essenziellen Aminosäuren Methionin und Lysin in Nieren, Leber und Gehirn gebildet. Hierbei sind Vitamin B3, B6 und C sowie Eisen Cofaktoren. Wichtigste Quelle ist Fleisch ([Tab. 1]), sodass sich bei Menschen mit geringerem Fleischkonsum, Vegetariern oder gar Veganern rasch Mängel einstellen können. Mischköstler nehmen täglich 100-300 mg L-Carnitin durch die Nahrung auf, bei Ovo-Lakto-Vegetariern sind es nur 15-25 % und bei Veganern nur 3-10 % dieser Menge − bei einer Bioverfügbarkeit von 54-87 %.

Tab. 1 L-Carnitingehalt in Lebensmitteln.

Lebensmittel

mg Carnitin/100 g

Lebensmittel

mg Carnitin/100 g

Fleischextrakt

3686

Fleischprodukte

1,2–38,6

Pferd, Känguru

117–166

Meerestiere

1,7–13,2

Kalb

69,7–105

Pilze

1,3–15

Rind

45–143

Milch, Molkereiprodukte

2,1–9,7

Hase

44,1–120

Käse

0,6–12,7

Reh, Hirsch, Elch, Rentier

35–193

Brühen

1,1–6,1

Wildschwein

18–46

Muttermilchersatz

1–4,3

Schaf, Ziege

16,7–190

Speiseöl, Butter, ­Margarine

0–1,1

Hausschwein

14,4–24

Cerealien (Brot, Nudeln, Reis)

0,33–0,75

Kaninchen

10,2–24,4

Gemüse

0,05–0,53

Geflügel

4,3–13,3

Nüsse

0,02–0,67

Wildvögel

3–21,1

Obst

0,01–0,35

Der Gesamtpool der Aminosäure L-Carnitin im Körper beträgt 20-25 g, wobei 98 % in der Herz- und Skelettmuskulatur gespeichert sind. Die renale Ausscheidung beträgt ca. 20 mg/d. Zugeführtes L-Carnitin wird rasch über die Niere ausgeschieden, sobald der Plasmagehalt das renale Resorptionsmaximum von etwa 60-100 µM überschreitet.

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Fleisch ist eine gute Carnitinquelle. © Chris Meier/TVG

Aus kinetischer Sicht ist es daher nicht sinnvoll, L-Carnitin oral in Dosen über etwa 2 g täglich zuzuführen.

Eine toxische Überdosierung ist allenfalls bei Niereninsuffizienz möglich. Erhöhte Ausscheidung findet man bei Diabetikern, Dialysepflichtigen, Langzeitmedikation mit Valproat oder Krebspatienten unter Chemotherapie (s. u.).

Funktionen: L-Carnitin fungiert als Rezeptormolekül für aktivierte Fettsäuren im Cytosol und in Zellorganellen wie den Mitochondrien. Es übt diese Funktion im Wechselspiel mit Coenzym A aus. Langkettige Fettsäuren können nur an L-Carnitin gebunden durch die Mitochondrienmembranen transportiert werden, wo sie in der β-Oxidation (besonders in der Muskulatur) verstoffwechselt werden. Da es die Bereitstellung von Energie in der Zelle besonders in peripheren Muskeln und im Myokard fördert, wirkt L-Carnitin einer Skelettmuskelapoptose entgegen. Es hemmt proinflammatorische Zytokine, aktiviert T-Lymphozyten sowie NK-Zellen und ist mitochondrialer Schutz gegen freie Radikale.

Ein Mangel wirkt sich klinisch aus als

  • myokardiale Pumpminderung,

  • periphere Muskelschwäche bis hin zu Krämpfen,

  • allgemeine Asthenie,

  • Immunschwäche,

  • Hirnleistungsstörungen,

  • möglicherweise als Beschleuniger einer Alzheimerdemenz.

Durch nicht mitochondrial metabolisierte Fettsäuren kann ein L-Carnitinmangel über den Einbau in Cholesterin oder Triglyzeride zu einer Plaquebildung und verstärkter Arteriosklerose beitragen.

Bei kardiovaskulären Krankheiten kann L-Carnitin durch einen Anstieg der β-Oxidation der Fettsäuren, erhöhte ATP-Level, eine Reduzierung der Blut- und Gewebefettwerte (freie Fettsäuren) sowie eine Steigerung der Durchblutung im Herzen die Herzleistung, Herzkraft und ATP-Produktion verbessern.

Eine optimale Diagnostik umfasst neben dem freien Carnitin im Serum (Norm 2,3-5,7 mg/l) auch das Gesamtcarnitin und die Carnitinester. Ein Mangel wird durch eine optimierte Zufuhr von Muskelfleisch und eine therapeutische Gabe von L-Carnitin erreicht. Neben Kapseln und Trinklösungen bieten sich bei akuten Beschwerden und Mangelnachweis Infusionen an. Die Tagesdosis beträgt dabei 0,5-1 g oral und bis zu 4 g per Infusion.

Therapeutischer Einsatz von Carnitin

Bei koronarer Herzerkrankung (KHK) kann durch Gabe von L-Carnitin die antioxidative Kapazität verbessert werden. In einer placebokontrollierten Studie mit 47 KHK-Patienten wurde über 12 Wochen 1 g L-Carnitin/d oral gegeben. Die Carnitinwerte im Plasma, Malondialdehyd (MDA), Katalase (KAT), Superoxiddismutase (SOD) und Glutathionperoxidase (GPx) wurden vor und nach Intervention gemessen. MDA war signifikant reduziert, die anderen Messwerte signifikant erhöht [1].

In einer Metaanalyse aus 49 randomisierten kontrollierten Studien (n = 1734) wurden durch L-Carnitin-Gabe das LDL-Cholesterin (minus 5,82 mg/dl) und das CRP (minus 3,65 mg/dl) bei chronischer Hämodialyse bei terminaler Niereninsuffizienz signifikant reduziert, wobei der Einfluss auf harte Endpunktdaten noch unklar ist [2].

Eine Metaanalyse bewertete aktuell vier randomisierte kontrollierte Studien zu peripherer Polyneuropathie (n = 523) gegen Placebo und fand signifikant reduzierte VAS-Werte (visuelle Analogskala) bei Patienten durch die Gabe von L-Carnitin besonders bei diabetischer Polyneuropathie. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren (Kopf-)Schmerzen, Brechreiz und Magen-Darm-Reizungen [3].

In einer Kasuistik konnte bei nachgewiesener genetischer Störung der Carnitinbiosynthese durch gezielte Supplementierung bei einem autistischen Jungen die neurologische Entwicklung massiv gefördert werden [4].

Sportler

In einer Doppelblind-Crossover-Studie führte die Zufuhr von 2 g L-Carnitin bei einem Marathonläufer 2 Stunden vor einem Marathon und nach 20 km zu keinen signifikanten Veränderungen der Laufzeit, des Respirationsquotienten, der Plasmakonzentrationen der Kohlenhydratmetaboliten (Glukose, Laktat, Pyruvat), der Fettmetaboliten (freie Fettsäuren, Glycerol, β-Hydroxybutyrat) sowie der Enzyme (Kreatinkinase, Laktatdehydrogenase). Bei einem submaximalen Lauftest am Morgen nach dem Marathonlauf wurden ebenfalls keine Veränderungen der gemessenen Parameter festgestellt.

Auch bei einem Fahrradergometertest an der anaeroben Schwelle konnte kein Einfluss von Carnitin auf die Erholung der untersuchten Athleten festgestellt werden [5].

An der Deutschen Sporthochschule Köln wurde Sprintern kurzfristig (7 Tage) jeweils 3 g L-Carnitin/d verabreicht. Bei einer intensiven Laufbandergometerbelastung und einem 200-m-Lauf konnten keine positiven Effekte auf Leistungsfähigkeit, Herzfrequenz und Laktatansammlung sowie auf spiroergometrische Parameter (beim Ergometertest) gemessen werden [6].

Möglicherweise kann die Einnahme von L-Carnitin die sportliche Leistung und die Muskelermüdung dann positiv beeinflussen, wenn die Probanden an einem (grenzwertigen) Mangel leiden. Gerade bei den sportmedizinischen Daten zeigt sich einmal mehr, wie wichtig eine gezielte Diagnostik und daraus abgeleitete Entscheidung zu evtl. therapeutischer Supplementierung ist. Eine ungezielte Nahrungsergänzung ist zu vermeiden.


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L-Carnitin in der Onkologie

Studien zufolge weisen bis zu 80 % der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen einen Mangel an L-Carnitin auf, der vom Organismus nicht ausgeglichen werden kann [7]. Gründe hierfür können ein nutritiver Mangel bei zu geringer Zufuhr von Fleisch- oder Wurstprodukten oder der Substrate für die L-Carnitin-Synthese (Eisen, Vitamine B3, B6, C oder L-Methionin) sein.

Eine erhöhte renale Ausscheidung von L-Carnitin findet man bei Krebspatienten unter Chemotherapie mit Platinsubstanzen, besonders

  • Cisplatin (Hemmung der renalen Rückresorption um das Zehnfache durch Bildung unphysiologischer Carnitinester),

  • Doxorubicin (Störung der L-Carnitinsynthese oder des Carnitintransporters OCTN2) oder

  • Ifosfamid (Bildung Chloroacetyl-Carnitin) [8].

Der „nerve growth factor“ als potentes Neuroprotektivum steigt unter dem Einfluss von L-Carnitin an und es kann als ein mögliches Therapeutikum der chemotherapiebedingten Polyneuropathie bei onkologischen Patienten eingesetzt werden [9].

In den letzten 10 Jahren haben sich kleinere Studien mit der Reduktion der chemotherapieassoziierten Neuro- (z. B. Paclitaxel oder Cisplatin) und Kardiotoxizität (z. B. Anthrazykline) sowie der Minderung von Fatigue im Kontext antineoplastischer medikamentöser Therapien befasst.

Im Rahmen einer aktuellen randomisierten, placebokontrollierten, multizentrischen, prospektiven, doppelblinden Studie (CARPAN) wurde bei 72 Patienten mit fortgeschrittenem Pankreaskarzinom untersucht, ob die Therapie mit L-Carnitin (2 × 2000 mg/d p. o.) einen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat. Die Ergebnisse dieser Studie belegen stabilere Lebensqualitäts- und Gewichts- sowie tendenziell günstigere Überlebensdaten. Während sich das Gewicht in der Kontrollgruppe um durchschnittlich 1,4 % verringerte, nahm das Gewicht in der Carnitingruppe um 3,4 % signifikant zu. Auch die mediane Überlebenszeit verlängerte sich von 399 auf 519 Tage und die Aufenthaltszeit im Krankenhaus verringerte sich von 41 auf 36 Tage (nicht signifikant) [6].


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Dr. med. Stephan Wey ist seit 2002 als hausärztlicher Internist mit den Schwerpunkten Ernährung, orthomolekulare Medizin, komplementäre Onkologie und Hyperthermie niedergelassen. Regelmäßige Vortragstätigkeit, Vorstandsmitglied der Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde e. V. und der Deutschen Gesellschaft für Hyperthermie e. V.

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  • Literatur

  • 1 Lee BJ, Lin JS, Lin YC, Lin PT. Effects of L-carnitine supplementation on oxidative stress and antioxidant enzymes activities in patients with coronary artery disease: a randomized, placebo-controlled trial. Nutr J 2014; 13: 79-
  • 2 Chen Y, Abbate M, Tang L et al. L-Carnitine supplementation for adults with end-stage kidney disease requiring maintenance hemodialysis: a systematic review and meta-analysis. Am J Clin Nutr 2014; 99: 408-422
  • 3 Li S, Li Q, Li Y et al. Acetyl-L-Carnitine in the Treatment of Peripheral Neuropathic Pain: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized Controlled Trials. PloS one 2015; 10: e0119479-
  • 4 Ziats MN, Comeaux MS, Yang Y et al. Improvement of regressive autism symptoms in a child with TMLHE deficiency following carnitine supplementation. Am J Med Gen Part A 2015; DOI: 10.1002/ajmg.a.37144. [Epub ahead of print]
  • 5 Colombani P, Wenk C, Kunz I et al. Effects of L-carnitine supplementation on physical performance and energy metabolism of endurance-trained athletes: a double-blind crossover field study. Eur J Appl Physiol Occup Physiol 1996; 73: 434-439
  • 6 Billigmann P, Siebrecht S. Physiologie des L-Carnitins und seine Bedeutung für Sportler. Hannover: Schlütersche; 2004
  • 7 Cruciani RA, Dvorkin E, Homel P. L-carnitine supplementation for the treatment of fatigue and depressed mood in cancer patients with carnitine deficiency: a preliminary analysis. Ann NY Acad Sci 2004; 1033: 168-176
  • 8 Jin HW, Flatters SJ, Xiao WH. Prevention of paclitaxel-evoked painful peripheral neuropathy by acetyl-L-carnitine: effects on axonal mitochondria, sensory nerve fiber terminal arbors, and cutaneous Langerhans cells. Exp Neurol 2008; 210: 229-237
  • 9 Visovsky C, Collins M, Abbott L et al. Putting evidence into practice: evidence-based interventions for chemotherapy-induced peripheral neuropathy. Clin J Oncol Nurs 2007; 11: 901-913
  • 10 Kraft M, Kraft K, Gärtner S et al. L-Carnitine-supplementation in advanced pancreatic cancer (CARPAN) − a randomized multicentre trial. Nutr J 2012; 11: 52-

Korrespondenzadresse

Dr. med. Stephan Wey
Facharzt für Innere Medizin, Naturheilverfahren, Palliativmedizin, Notfallmedizin
Laufbachstr. 38
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  • 1 Lee BJ, Lin JS, Lin YC, Lin PT. Effects of L-carnitine supplementation on oxidative stress and antioxidant enzymes activities in patients with coronary artery disease: a randomized, placebo-controlled trial. Nutr J 2014; 13: 79-
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  • 5 Colombani P, Wenk C, Kunz I et al. Effects of L-carnitine supplementation on physical performance and energy metabolism of endurance-trained athletes: a double-blind crossover field study. Eur J Appl Physiol Occup Physiol 1996; 73: 434-439
  • 6 Billigmann P, Siebrecht S. Physiologie des L-Carnitins und seine Bedeutung für Sportler. Hannover: Schlütersche; 2004
  • 7 Cruciani RA, Dvorkin E, Homel P. L-carnitine supplementation for the treatment of fatigue and depressed mood in cancer patients with carnitine deficiency: a preliminary analysis. Ann NY Acad Sci 2004; 1033: 168-176
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  • 10 Kraft M, Kraft K, Gärtner S et al. L-Carnitine-supplementation in advanced pancreatic cancer (CARPAN) − a randomized multicentre trial. Nutr J 2012; 11: 52-

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Fleisch ist eine gute Carnitinquelle. © Chris Meier/TVG