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DOI: 10.1055/s-0035-1550336
Die Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist wie eine Therapie
Prof. Manfred Zimmermann ist ein Pionier auf dem Gebiet der Schmerzmedizin in Deutschland – Die zkm traf den Heidelberger Physiologen auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt. Welches therapeutische Potenzial die Erfahrung von Selbstwirksamkeit für Schmerzpatienten hat und wie Schmerzerfahrungen bereits im Mutterleib das weitere Leben prägen können, erzählt er im Interview.Publication History
Publication Date:
07 May 2015 (online)
- Sie haben ursprünglich Physik studiert, beschäftigen sich aber schon seit Jahrzehnten mit dem Thema Schmerz. Was hat Sie bewogen in diese Richtung zu gehen?
- Und danach gingen Sie in die Schmerzforschung?
- Sie sind Gründungsmitglied der wichtigen Schmerz-Fachgesellschaften, wie kam es dazu?
- Sie haben in den 1980er-Jahren gemeinsam mit der Psychologin Hanne Seemann eine Bestandsaufnahme zur Versorgung von Schmerzpatienten gemacht. Was zeigte sich damals, waren die dringlichsten Probleme in der Patientenversorgung, in der Forschung?
- Können Sie ein Beispiel nennen? Wie wurden beispielsweise Patienten mit Tumorschmerzen versorgt?
- Sie haben sich große Verdienste erworben bei der Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Tumorschmerzen. Welches sind die wichtigsten Veränderungen?
- Wie lange hat es gedauert, bis es in den Praxen und Kliniken zum Einsatz kam?
- Was waren die Gründe? Welche Befürchtungen hielten die Ärzte davon ab?
- Es ist ja auch eine Frage der Ausbildung. Wie war damals die Ausbildungssituation?
- In welchen Bereichen sehen Sie die größten Fortschritte in der Schmerzversorgung, auch bezüglich der chronischen Schmerzerkrankungen?
- Welche Rolle spielen die Psyche und soziale Aspekte?
- Sie haben früh den Wert komplementärmedizinischer Verfahren wie der Akupunktur in der Schmerztherapie erkannt. Worauf beruht deren Wirkung bei Schmerzen?
- Wie ist es physiologisch zu erklären?
- Welche Bedeutung hat die Selbstwirksamkeit?
- Müsste das mehr in die Schmerztherapie einfließen?
- Sie haben zur Schmerzwahrnehmung beim Fetus und im frühen Kindesalter geforscht. Früher ging man davon aus, dass sie noch kein Schmerzempfinden haben. Ist bereits der Fetus schmerzempfindlich?
- Wenn der Fetus in dieser Zeit schlechte Erfahrungen macht, ist er dann disponiert für spätere Schmerzerkrankungen?
- In welchem Lebensalter setzt das Schmerzgedächtnis ein?
Zusammenfassung
Prof. Manfred Zimmermann war langjähriger Leiter des Physiologischen Instituts an der Universität Heidelberg. Der Neurophysiologe forschte u. a. zu neuralen Mechanismen des Schmerzes und der Schmerzhemmung, aber auch zu gesundheitspolitischen und epidemiologischen Aspekten der Schmerzversorgung in Deutschland. Seine Arbeiten gelten als Meilensteine bei der Verbesserung der schmerztherapeutischen Versorgung. Zimmermann hat u. a. den BMBF-Förderschwerpunkt „Chronischer Schmerz“ sowie die Schaffung der Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ in Deutschland initiiert.
2004 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande für Verdienste bei der Schaffung einer wissenschaftsbasierten Schmerztherapie und schmerztherapeutischen Versorgung in Deutschland verliehen.
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Keywords
Prof. Manfred Zimmermann - Schmerztherapie - Schmerzgedächtnis - Selbstwirksamkeit - InterviewSie haben ursprünglich Physik studiert, beschäftigen sich aber schon seit Jahrzehnten mit dem Thema Schmerz. Was hat Sie bewogen in diese Richtung zu gehen?
Meine Vorfahren haben mir ein wenig Medizinerblut vererbt. Mein Großvater arbeitete als Dorfbader und versorgte die Kranken mit allen möglichen Verfahren, die nicht invasiv waren. Ich kenne ihn nur aus Erzählungen, habe aber sein Instrumentarium kennengelernt. Er hat mich sehr fasziniert. Dies ist kein starker, aber sicher einer der Beweggründe. Der andere kam mit meiner Diplomarbeit. Ich beschäftigte mich mit Grenzflächenphysik bei Metallen und Nichtmetallen und lernte dabei eher zufällig eine andere Grenzfläche kennen: die Membranen von Nerven.
Nach dem Diplom war ich Assistent am Institut für Elektrobiologie in Karlsruhe und habe dort viel Basiswissen zur Nervenphysiologie erworben. Ich begann, experimentell mit peripheren Nerven von Fröschen zu arbeiten. In meiner Doktorarbeit beschäftigte ich mich mit der „Wirkung von Röntgenstrahlung auf die Erregungsleitung von Kaltblüternerven“, da war ich bereits mit einem Fuß in der Neurophysiologie.
Auf diesem Gebiet gab es Anfang der 1960er-Jahre messtechnisch und methodisch sehr viel Neues und einen großen Bedarf an Physikern und Elektroingenieuren, die das Instrumentarium, das in den Neurowissenschaften eingeführt wurde, beherrschten.
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Und danach gingen Sie in die Schmerzforschung?
Ursprünglich habe ich nicht in der Schmerzforschung gearbeitet. Nach der Promotion ging ich nach Heidelberg an das Physiologische Institut und begann am Zentralnervensystem (ZNS) zu arbeiten, mit einer damals neuen Thematik: der präsynaptischen Hemmung, für deren Entdeckung Eccles 1963 den Nobelpreis erhalten hatte. Ich forschte zur Bedeutung der präsynaptischen Hemmung im Rückenmark bei der Verschaltung von Hautafferenzen, zu Hautsensationen mechanischer und thermischer Art, Schmerz war ganz im Hintergrund. Es ging um den Tastsinn und dessen Kontrolle durch die präsynaptische Hemmung, daraus entstand meine Habilitationsschrift. In dieser Zeit hatte ich einen Zufallsbefund, der im Widerspruch zur damals gerade publizierten Gate-Control-Theorie stand und belegte, dass die Theorie wie von Melzack und Wall behauptet nicht funktionieren kann. Nach der Publikation meiner Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin Science erhielt ich einen Sturm von Zuschriften und Einladungen aus der ganzen Welt, und war ausgehend vom Tastsinn bei den Schmerzmechanismen angekommen. Ich hielt dann auch meinen Habilitationsvortrag an der Medizinischen Fakultät Heidelberg zum Schmerz und wurde ab diesem Zeitpunkt als Schmerzphysiologe wahrgenommen.
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Sie sind Gründungsmitglied der wichtigen Schmerz-Fachgesellschaften, wie kam es dazu?
Nach meiner Entdeckung ging vieles automatisch. Es gab ein großes Interesse an der modernen neurophysiologischen Schmerzforschung. Weil ich einer der ersten war, die sich damit befassten, wurde ich weltweit als deutscher Repräsentant zu wissenschaftlichen Veranstaltungen zum Thema Schmerz eingeladen. 1973 lud der Anästhesie-Professor John J. Bonica nach Seattle zur Gründung einer internationalen Schmerzgesellschaft ein, der IASP, International Association for the Study of Pain. Bonica hatte bereits in der Nachkriegszeit auf die Defizite in der Schmerzbehandlung aufmerksam gemacht, z. B. bei den enorm vielen Kriegsverletzten, die unter starken Schmerzen litten, und für die es keine zufriedenstellende medizinische Behandlung gab.
Der Frankfurter Arzt Dieter Gross und ich als Wissenschaftler waren als deutsche Repräsentanten bei der Gründungstagung 1973 in Seattle dabei, wir nahmen den Auftrag mit, ein „German Speaking Chapter“ zu initiieren. Schließlich kam es 1975 in Florenz zur Gründung der Gesellschaft zum Studium des Schmerzes für Deutschland, Österreich und die Schweiz (GesDÖS). Um 1990 entstanden aus der GesDÖS schließlich 3 nationale Schmerzgesellschaften, um besser den Anforderungen der Arztausbildung und der Gesundheitspolitik zu entsprechen. Ich war seit der Gründung der GesDÖS aktiv dabei und viele Jahre als Präsident tätig. Seit 1990 firmiert das deutsche Chapter unter dem Namen Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS), neuerdings umbenannt in „Deutsche Schmerzgesellschaft“. Die Gesellschaft besteht in diesem Jahr nunmehr bereits 40 Jahre.
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Sie haben in den 1980er-Jahren gemeinsam mit der Psychologin Hanne Seemann eine Bestandsaufnahme zur Versorgung von Schmerzpatienten gemacht. Was zeigte sich damals, waren die dringlichsten Probleme in der Patientenversorgung, in der Forschung?
Es hat damals kaum Daten zum Schmerz gegeben, weder vonseiten der Ärztekammern noch der Universitäten wurde Bedarf für Forschung und Entwicklung dieses bisher unbedeutenden Randgebiets der Medizin und der ärztlichen Tätigkeit gesehen. Ein Hauptgrund für das nunmehr weltweit wachsende Interesse am Schmerz war das Heer der Kriegsverletzten der beiden Weltkriege. So gelang es uns, das Interesse des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT) an einer Datenerhebung zu wecken. Daraus entstand die Schmerzexpertise von Hanne Seemann und mir, sie wurde bald ein Meilenstein, der viele Innovationen nach sich zog. Zunächst begann Frau Seemann mit einer Umfrage, um zu erfassen, wie viele Schmerzpatienten es überhaupt gibt, ob man unterschiedliche Schweregrade des Schmerzes ausfindig machen kann. Insgesamt haben wir das Wissen in der Schmerzforschung und die Situation in der Versorgung von Schmerzpatienten zusammengestellt. Frau Seemann hat z. B. Fragebögen erstellt und umfangreiches Material zu der Frage erhalten, wie Schmerzpatienten in Kliniken und bei niedergelassenen Ärzten versorgt werden. Während dieser Arbeit ist auch das Heidelberger Schmerztagebuch entstanden, mit dem der Patient seinen Schmerz und die Wirkung der Schmerztherapie im Tagesverlauf dokumentieren konnte.
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Können Sie ein Beispiel nennen? Wie wurden beispielsweise Patienten mit Tumorschmerzen versorgt?
Starke schwer behandelbare Tumorschmerzen treten ja v. a. bei Patienten im finalen Erkrankungsstadium auf. Die Patienten wurden von ihrem jeweiligen Arzt mit seinem schmerztherapeutischen Potenzial behandelt. Es bestand im Wesentlichen im Verschreiben von Medikamenten, in besonderen Notfällen wurden auch neurochirurgische Operationen durchgeführt. Eine sehr invasive Maßnahme war die Chordotomie, bei der Teile des Rückenmarks durchtrennt wurden, meist erfolglos, da die Patienten danach oft noch schwerere Schmerzen hatten. Es zeigte sich, dass das Wissen der Ärzte besonders im terminalen Krankheitsstadium ungenügend ist.
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Sie haben sich große Verdienste erworben bei der Verbesserung der Versorgung von Patienten mit Tumorschmerzen. Welches sind die wichtigsten Veränderungen?
Auf dem ersten internationalen Krebsschmerzkongress 1976 in Venedig wurde etwas eigentlich Altes als etwas Neues entdeckt: der Einsatz von Morphin gegen starke und stärkste Schmerzen. Das Neue war die Entdeckung, das Morphin oral zu geben, anstelle der bisher eingesetzten Injektion.
Die Dame Cicely Saunders, die englische Pionierin der Versorgung von Tumorpatienten, hat mich mit ihrem Vortrag in Venedig tief beeindruckt. Sie gründete und leitete das St. Christopher's Hospice in London, an dem Tumorpatienten im fortgeschrittenen und terminalen Stadium versorgt wurden, v. a. unter Ausschöpfung der Möglichkeiten der Schmerztherapie. Ihre Arbeit wurde zum Modell und Prototyp der heutigen Hospizarbeit. Cicely Saunders sagte sehr deutlich, dass die gängigen Methoden nicht ausreichen, um einen schweren Dauerschmerz zu behandeln. Sie stellte Anwendungsdaten vor, die belegten, dass die Suchtgefahr bei oraler Einnahme von Morphin gering ist, anders als bei Injektionen. Aus der Pharmakologie war bisher bekannt gewesen, dass oral verabreichtes Morphin wirkungslos bleibt, da es im Magen-Darm-Trakt nicht ausreichend resorbiert wird und deshalb auch nicht zum Gehirn gelangt. Als neue Erkenntnis kam nun hinzu, dass die Dosierung bei oraler Gabe 3-fach höher sein muss als bei der parenteralen Injektion, um schmerztherapeutisch wirksame Konzentrationen im ZNS zu erreichen.
Das hat mich bestärkt, einen solchen Kongress auch in Deutschland abzuhalten, der dann 1982 als Heidelberger Krebsschmerz-Kongress verwirklicht wurde. Diese Erkenntnisse wurden zum Schwerpunkt unserer Öffentlichkeitsarbeit. Ich setzte mich dafür ein, dass die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung abgemildert wird, damit Ärzte in den Bereichen, wo es notwendig ist, mehr Morphin einsetzen können. Das war ein Neubeginn des Morphin-Einsatzes, die orale Gabe in höherer Konzentration. Nach 1983 kamen dann zahlreiche Retardtabletten mit Wirkungsdauern bis zu 24 Stunden auf den Arzneimittelmarkt, die ein neues Kapitel der Schmerztherapie eröffneten.
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Wie lange hat es gedauert, bis es in den Praxen und Kliniken zum Einsatz kam?
Fast ein Jahrzehnt. Die erste Generation der Schmerztherapeuten besaß keine Betäubungsmittelrezepte. Sie befürworteten die neuen Erkenntnisse des Morphineinsatzes, setzten sie aber nicht um. In einer Umfrage unter den damaligen Schmerztherapeuten zeigte sich, dass weniger als 10% überhaupt die BtmVV-Rezeptformulare vorhielten, um morphinhaltige Schmerzmedikamente verordnen zu können.
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Was waren die Gründe? Welche Befürchtungen hielten die Ärzte davon ab?
Sie befürchteten die Abhängigkeit ihrer Patienten und Konflikte mit dem Gesetz. Opiate wurden zumeist in Kliniken in den anästhesiologischen Abteilungen zur Versorgung postoperativer Schmerzen angewendet.
Für die meisten niedergelassenen Ärzte war das Betäubungsmittelgesetz eine Taburegion. Die Arbeit mit den Betäubungsmittelrezepten ist mit zahlreichen Auflagen verbunden und es hat damals eine ganze Reihe krimineller Delikte wie Praxiseinbrüche gegeben, um an die Rezepte zu gelangen. Kollegen, denen formale Fehler bei der Veordnung unterliefen, drohten Strafen wie Berufsverbot bis hin zu Gefängnisstrafen, auch wenn sie medizinisch tadellos gehandelt hatten.
Ich habe es mir dann als DGSS-Präsident zur Aufgabe gemacht, die Ärzte mit der Zusatzweiterbildung „Spezielle Schmerztherapie“ zu ermutigen und zu motivieren, im Rahmen der Versorgung von Patienten mit starken Schmerzen auch Arzneimittel nach dem Betäubungsmittelgesetz anzuwenden. Die meisten haben die Rezepte dann auch beantragt und verwendet.
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Es ist ja auch eine Frage der Ausbildung. Wie war damals die Ausbildungssituation?
Die Schmerztherapie war Gegenstand v. a. in der Pharmakologie und in der Anästhesiologie. Im Vergleich zu heute war das Repertoire für die medikamentöse Schmerztherapie sehr gering, ich schätze etwa 5% gegenüber heute. In Fächern wie Orthopädie oder Innere Medizin wurden entsprechende Schmerzen bei speziellen Krankheitsbildern behandelt. Das Armamentarium war klein und so gab es für die Universitätslehrer keinen Grund die Schmerztherapie breiter abzuhandeln.
Bereits 1984 hatte die GesDÖS durch Mehrheitsbeschluss angeregt, für Ärzte eine Zusatzqualifikation in Schmerztherapie einzuführen. Zunächst hatten die Ärztekammern dazu eine gänzlich ablehnende Haltung, sie vertraten die Meinung, dass Ärzte in der Praxis ihrer Aus- und Weiterbildung ausreichend lernen würden, mit Schmerzen umzugehen. Es dauerte weitere 12 Jahre, bis durch Beschluss des Deutschen Ärztetags die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ 1996 eingeführt wurde.
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In welchen Bereichen sehen Sie die größten Fortschritte in der Schmerzversorgung, auch bezüglich der chronischen Schmerzerkrankungen?
Auf allen Gebieten der Schmerzversorgung haben wir große Fortschritte gemacht. Ein wichtiger Zielparameter wurde die Mobilität und deren Erhaltung. Die meisten Schmerzerkrankungen haben etwas mit dem Bewegungssystem zu tun, die Panacea ist deshalb sich zu bewegen, sich herauszufordern. Viele Patienten mit z. B. Rücken- oder Gelenkschmerzen neigen dazu, den Körper ruhig zu stellen, weil sie dann weniger Schmerzen haben. Im Hinblick auf die Schmerzen ist dies kontraproduktiv – Schmerzen brauchen Bewegung.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich mit täglicher Bewegung meine Schmerzprobleme beseitigen bzw. kontrollieren kann. Ich nutze jede Gelegenheit und habe sie in meinen Tageslauf eingebunden. Ein wenig Anstrengung ist günstig, sodass man dabei auch schwitzt. Es hilft zudem, potenzielle krankmachende körperliche Entwicklungen wie Übergewicht, einen Abbau der Muskelmasse und schnelle Ermüdbarkeit zu vermeiden.
Dann können wir heute auf ein großes Arsenal von Medikamenten zurückgreifen, für die verschiedensten Schmerzarten und ohne Gefahr zu laufen, eine Sucht zu entwickeln. Bei dauerhafter Einnahme sollte das Medikament nach einer gewissen Zeit gewechselt werden, um das Risiko von Nebenwirkungen zu reduzieren. Bei Opiaten kann man das Risiko einer Suchtentwicklung minimieren, indem man der oralen Darreichungsform den Vorzug gibt. Ganz wichtig dabei ist die Einnahme in regelmäßigen Zeitintervallen, nicht erst nach Bedarf, also wenn sich der Schmerz mit zunehmender Intensität erneut meldet.
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Welche Rolle spielen die Psyche und soziale Aspekte?
Das positive Denken und die Freude am Leben sind ganz wichtige Aspekte bei der Bewältigung und der Prävention von Schmerzen. Es sind viele kleine Dinge: z. B. sich bewusst zu machen, in welcher begnadeten Situation wir leben; die Dinge nicht als selbstverständlich zu nehmen etwa in der Partnerschaft oder in Freundschaften. Auf diese Weise erzeugen wir positive Stimmungen und machen sozusagen ein Genusstraining mit den eigenen Lebensbedingungen. Nichts ist selbstverständlich. Der Überdruss z. B. in einer Partnerschaft, der in Feindseligkeit übergeht, ist eine Gefahr für chronische Schmerzen.
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Sie haben früh den Wert komplementärmedizinischer Verfahren wie der Akupunktur in der Schmerztherapie erkannt. Worauf beruht deren Wirkung bei Schmerzen?
Die klassische Interpretation besagt, dass die Wirkung auf einer Gegenirritation beruht. Eine Stimulationsmethode, die schmerzhaft sein kann und auf diese Weise einen anderen Schmerz hemmt. In der Komplementärmedizin wendet man eine große Bandbreite solcher Stimulationsmethoden an, die auf dieser alten Regel basieren. Das ist in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten. Ich bin ein Anhänger dieser Methoden, das erste Feld, zu dem ich v. a. tierexperimentell geforscht habe, war die repetitive elektrische Nervenstimulation, damals eine Art Modell auch für die Akupunktur.
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Wie ist es physiologisch zu erklären?
Alle Stimulationsmethoden führen zunächst zu vielfältigen Erregungsvorgängen, die wir auch subjektiv verspüren. Die neuronalen Erregungsvorgänge generieren jedoch immer auch Hemmungsvorgänge, das ist ein generelles Funktionsprinzip des Nervensystems. Durch Auswahl und Abstufung der therapeutischen Stimulation kann man den erwünschten hemmenden Effekt optimieren. Ich habe mich in meiner wissenschaftlichen Arbeit nicht nur mit der Weiterleitung und Ausbreitung eines Schmerzes im ZNS beschäftigt, eine Frage bei unseren Untersuchungen war vielmehr auch, ob und wie die Schmerznachricht im ZNS gehemmt werden kann. Dabei habe ich auch das Potenzial der „absteigenden Hemmung“ vom Gehirn zum Rückenmark entdeckt, bekannt als „Descending Inhibition“. Alle Reize, die in unseren Körper eindringen, lösen auch Hemmungsvorgänge in diesem „Descending Inhibitory Control System“ aus, das einen wichtigen Funktionsbereich im „Periaquäduktalen Grau (PAG) des Hirnstamms“ besitzt. Die Grundmechanismen der absteigenden Hemmung wurden physiologisch und pharmakologisch im Tierexperiment erforscht. Heute kann man die Funktion des PAG bei der Schmerzkontrolle auch in Studien der Bildgebung am menschlichen Gehirn sichtbar machen.
Auf diesen Erkenntnissen fußt die Entwicklung der Stimulationsmethoden zur Schmerzhemmung. Das erste Gerät zur Schmerztherapie durch Rückenmarkstimulation wurde 1974 durch die US-Firma Medtronic in Deutschland eingeführt. Bei dieser Gegenirritationsmethode nehmen die Patienten ein Kribbeln im stimulierten Bereich wahr und gleichzeitig die Dämpfung eines dort vorhandenen Schmerzes. Diese Schmerzdämpfung kann nach Abschalten der Stimulation für ca. 1 Stunde anhalten.
Kurz darauf wurde die Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) eingeführt, ein Verfahren das nach meiner Ansicht viel zu wenig propagiert und eingesetzt wird, leider. Das Verfahren ist nicht nur wirksam und kostensparend, der Patient kann damit die Selbstwirksamkeit schulen.
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Welche Bedeutung hat die Selbstwirksamkeit?
Das Konzept der Selbstwirksamkeit wurde besonders in der psychologischen Forschung propagiert: Es gibt Personen, die überzeugt sind, dass ihr Funktionieren und insbesondere ihr Gesundheitsstatus stark selbstbestimmt sind. Am anderen Ende stehen Menschen, die ihren Gesundheitsstatus eher als extern bestimmt erleben und meistens auch Beratung und Hilfe im Gesundheitssystem (also beim Arzt) suchen.
Die beiden unterschiedlichen Selbstkonzepte bewirken auch unterschiedliches Verhalten, das für den Gesundheitsstatus relevant ist. So wird der stark selbstbestimmte Schmerzpatient mit einem TENS-Gerät spielend experimentieren und eine optimal schmerzhemmende Gerätefunktion ermitteln. Der eher fremdbestimmte wird eine vom Arzt vorgeschlagene TENS-Einstellung übernehmen und beibehalten.
Aus den beiden Beispielen wird die Rolle von Gesundheitserziehung klar, die den aktiven Patienten fördern soll: Der Patient macht die Erfahrung, dass er seinen Status selbst unter Kontrolle hat, die Kontrollüberzeugung wirkt wie eine eigenständige schmerztherapeutische Methode, mit einem zusätzlichen schmerztherapeutischen Effekt.
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Müsste das mehr in die Schmerztherapie einfließen?
Ja, unbedingt – hier könnte der Beruf des Gesundheitspädagogen ansetzen, um Gesundheitspotenzial durch die Einstellung des „Patienten“ zu mobilisieren, sozusagen zur Verstärkung der Arztrolle. Gesundheitspädagogen hatten übrigens eine solche Funktion in der DDR.
Patienten sind nicht gewohnt, Selbstwirksamkeit überhaupt wahrzunehmen, das hat auch etwas mit der traditionellen Art der Interaktion zwischen Arzt und Patient zu tun. Ein Patient, der Selbstwirksamkeit erfährt, kann sehr stark eigene Heilkräfte mobilisieren, gedanklich, durch Einsicht, im Tageslauf und auch weil er experimentieren kann, was ihm gut tut und er selbst unter Kontrolle hat. Die Psychologie wendet dieses Konzept schon lange an, für Ärzte ist es oft noch etwas Neues, einem Patienten die Kompetenz der Selbstwirksamkeit zu übermitteln.
Die Placeboforschung, die Fabrizio Benedetti in Turin neu entdeckt hat, arbeitet im Grunde genommen stark am Konzept der Selbstwirksamkeit eines Menschen. Sie vermittelt Überzeugungsmöglichkeiten wieder. Nach meiner Ansicht vermittelt ein guter Arzt seinem Patienten die Überzeugung, dass er an seiner Schmerzkrankheit etwas ändern kann: durch Bewegung, Ernährung, gedanklich, mit Medikamenten usw. Viele Fehler, die wir von Kind auf machen, können wir ändern und so unseren Gesundheitsstatus verbessern.
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Sie haben zur Schmerzwahrnehmung beim Fetus und im frühen Kindesalter geforscht. Früher ging man davon aus, dass sie noch kein Schmerzempfinden haben. Ist bereits der Fetus schmerzempfindlich?
In meiner ersten Arbeit zur Frage der Schmerzempfindlichkeit beim Fetus (1990) bin ich zu einem Ja gekommen. Es gibt Untersuchungen, die im Ultraschall zeigen, dass der Fetus z. B. bei einer Amniozentese die Nadel wahrnimmt und ihr ausweicht, nach der 22. Schwangerschaftswoche reagiert er stärker. Ein Film aus dieser Zeit „Der stumme Schrei“ zeigte dramatische Bilder einer Abtreibung im Ultraschall. Man sah, wie der weit ausgereifte Fetus nach der 22. Woche ganz massiv reagiert.
In diesem Entwicklungsstadium werden die afferenten Nerven vom Thalamus zum Kortex durchgeschaltet, es entstehen Verbindungen zur Hirnrinde mit einer höheren Art der Verarbeitung. Im EEG sind Änderungen in der Wahrnehmungsfähigkeit erkennbar, die Erkennungsfähigkeit des Feten ändert sich.
Die Perinatalmedizinerin Birgit Arabin hat damals verschiedene Stressreaktionen beim Fetus untersucht und nachgewiesen, dass nach der 22. Woche deutliche Reaktionen erkennbar sind. Z. B. kann man den Fetus durch Schallreize von außen aus seinem schlafähnlichen Zustand „aufschrecken“ und auf diese Weise eine Stresssituation auslösen, die Herzfrequenz des Fetus steigt. Die Ultraschallanalysen ergaben, dass aus den starken Schallreizen verlängerte Reaktionen beim Fetus resultieren.
Es handelt sich um unbewusste Wahrnehmungen, die im Gehirn Spuren hinterlassen. Wir wissen heute, dass das Gehirn starke oder andauernde Schmerzsituationen speichert. Diese Schmerzerlebnisse bestimmen auch unsere Schmerzempfindlichkeit und Leidensfähigkeit im späterem Leben. Die Leidensfähigkeit beginnt beim Fetus. Sein Gehirn kann die Erlebnisse zwar noch nicht einordnen, aber es bleiben Spuren im Gehirn zurück. Es liegt nahe, dass die Fähigkeit zur Spurenanlage auch die weitere Entwicklung des Gehirns mitbestimmt.
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Wenn der Fetus in dieser Zeit schlechte Erfahrungen macht, ist er dann disponiert für spätere Schmerzerkrankungen?
Ja. Es gibt eine Untersuchung von Anna Taddio. Sie hat gezeigt, dass Neugeborene Ersterfahrungen von Schmerzen massiv erleben und speichern. Nach der Geburt durchlaufen sie Untersuchungen und Impfungen, u. a. wird ihnen mit einem Lanzettenstich Blut aus der Ferse entnommen. Taddio hat dann die Schmerzreaktionen bei Knaben verglichen, die eine Zirkumzision erhielten, eine Gruppe war bei den Eingriffen als Säugling durch ein Lokalanästhetikum geschützt, die andere nicht.
Sie fand heraus, dass Babys, die in der frühen postnatalen Zeit bei allen Eingriffen durch ein Lokalanästhetikum geschützt waren, später weniger schmerzempfindlich reagierten, gegenüber denen, die nicht geschützt waren und die Eingriffe ohne Analgesie erlebten. Dies ist ein Beleg dafür, dass die Reaktions- und Wahrnehmungsfähigkeit des ZNS für Schmerzen durch Leiden in einer frühen postnatalen Phase erhöht wird. Jeder Schmerz trägt das Risiko in sich, dass die Schmerzempfindlichkeit für später geprägt wird und bestehen bleibt – als eine Art von Schmerzgedächtnis.
Deshalb wird heute empfohlen, diese Eingriffe mit einer Analgesie zu verbinden und jeden Schmerz in der frühen Kindheit zu vermeiden.
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In welchem Lebensalter setzt das Schmerzgedächtnis ein?
Unser Gedächtnis ist mit Bildern und Sprache verbunden. Wir erinnern uns an traumatische Erlebnisse auch noch nach langer Zeit. Der Säugling besitzt dies noch nicht, aber es gibt Spuren in seinem Gehirn, die sich als Schmerzgedächtnis äußern können. Die Theorie besagt, dass die erhöhte Schmerzempfindlichkeit aus Schmerzerfahrungen in der Fetal- oder frühen postnatalen Lebensphase entsteht und die Schmerzempfindlichkeit von Erwachsenen beeinflusst. Es existieren zahlreiche retrospektive Untersuchungen von v. a. Schmerzpatientinnen, die frühkindlichen Schmerz erlebt haben, dazu zählen auch seelische Schmerzen, Prügelstrafen, Missbrauch. Die Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass diese traumatischen Erlebnisse unsere Schmerzempfindlichkeit im späteren Leben erhöhen.
Wir können heute sagen, das Schmerzgedächtnis beginnt in einer sehr frühen Lebensphase, und ich behaupte bereits beim Fetus.
Herzlichen Dank für das Gespräch .
Interview: Anke Niklas
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