Seit 30 Jahren: Die Kommende-Tagung
Wer einen gedruckten Hinweis auf die Kommende-Tagung vor sich hat und nicht bereits
gehört hat, wovon die Rede ist, geht in der Regel davon aus, es handele sich um die
Ankündigung einer kommenden Tagung. Die Betonung ist jedoch auf der 2. Silbe, also
Komménde-Tagung. Wie das? Die Bezeichnung geht auf die Kommende zurück, den ersten
Tagungsort in Dortmund-Brakel, ehemals Sitz des Deutschen Ritterordens und heutzutage
eine Bildungseinrichtung, wo die halbjährlichen Treffen ab 1985 stattfanden.
Die Differenz zwischen Gesprochenem und Geschriebenem begleitet die Kommende-Tagung:
Die Tagungseinladungen von damals sind nicht archiviert; das, was die Kommende-Tagung
ist, findet sich zumindest für die weiter zurückliegenden Jahre vor der Jahrtausendwende
nicht in Dokumenten und schriftlichen Veröffentlichungen, sondern mehr über „oral
history“: Diejenigen, die dabei waren, können am besten erzählen, wer da war und was
vorgetragen und diskutiert wurde.
In der Kommende trafen sich seit 1985 auf Einladung von Dr. Hanns Philipzen, Chefarzt
der Psychiatrischen Klinik in Bad Driburg, die Leiter von psychiatrischen Kliniken
an Allgemeinkrankenhäusern mit Pflichtversorgung für einen definierten psychiatrischen
Sektor. Die Tagungen beschäftigten sich insbesondere mit der Frage: Was braucht der
Sektor?
Die stationäre psychiatrische Versorgung in wohnortfernen Großkrankenhäusern mit Langzeitstationen
war nach der Psychiatrie-Enquête von 1975 infrage gestellt: Psychiatrische Kliniken
am Allgemeinkrankenhaus traten zunehmend mit dem Anspruch an, die Pflicht- und Vollversorgung
eines Sektors zu übernehmen. Um nichts weniger ging es den Gründervätern des Arbeitskreises:
Die Verzichtbarkeit von Großkrankenhäusern praktisch zu beweisen, indem sie die Vollversorgung
für einen definierten Sektor übernahmen und keine Patienten in Großkrankenhäuser verlegten.
Der Beweis ist mittlerweile längst erbracht: Psychiatrische Kliniken gewährleisten
heutzutage selbstverständlich die Vollversorgung eines Sektors.
Die Kommende war pragmatisch, solidarisch, parteiisch und engagiert. Die Mitglieder
verfolgten ihren Weg konsequent und überzeugt auch gegen Widerstand. Sie waren damals
nur wenige, ca. 25 im Jahr 1986 in der BRD.
Daneben steht die Kommende für gemeindepsychiatrische Behandlungs- und Versorgungsprinzipien,
über deren Realisierung sich die Klinikleiter verständigten und diskutierten: Psychiatrie
mit offenen Türen; Gemeindepsychiatrie in enger Vernetzung mit der Eingliederungshilfe
und dem gemeindepsychiatrischen Verbund, dessen Formen und Inhalte damals erst infolge
der Enthospitalisierung entwickelt wurden; Sozialpsychiatrie im eigentlichen Sinne,
nämlich mit Einbeziehung der Angehörigen und unter Berücksichtigung von Aspekten des
Wohnens, Arbeitens und der Freizeit. Die Kommende suchte nach Wegen zur Umsetzung
dieser Inhalte in die Praxis und ihre Mitglieder gestalteten sie vor Ort aktiv mit.
Wenn ein Chefarzt der Krankenhausverwaltung einen Vorschlag für ein neues Versorgungsprojekt
machte und die zweifelnde Frage zurückkam, ob so etwas denn bereits praktisch erprobt
sei, konnte er nicht selten auf ein anderes Kommende-Mitglied verweisen – in den damaligen
Post-Psychiatrie-Reform-Zeiten ein unschätzbares Plus für gemeindepsychiatrische Projekte,
die noch 10 Jahre zuvor undenkbar waren.
Die Gründung von ackpa im Jahr 1983 verfolgte demgegenüber zunächst andere Ziele:
Einerseits die politische Speerspitze der Abteilungspsychiatrie zu bilden, andererseits
Abteilungen, die noch keine Vollversorgung wahrnahmen, eine Plattform zu bieten –
mit dem Ziel, die Leiter letztendlich von der Pflichtversorgung zu überzeugen.
Hanns Philipzen übergab die Leitung und Moderation des Kommende-Arbeitskreises im
Jahr 1996/1997 an Dr. Thomas Schulte, Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung in Lauterbach.
Auf ihn gingen 2 maßgebliche Neuerungen zurück: Der Umzug der Kommende-Tagung nach
Kassel ins Ludwig-Noll-Krankenhaus, um den Mitgliedern aus den neuen Bundesländern
die Anreise zu verkürzen.
Die zweite Idee, die Dr. Schulte umsetzte, war die Annäherung an ackpa und die Verbindung
der Tagungen von Kommende und ackpa.
So findet seit 2001 die Kommende-Tagung mit ackpa im Frühjahr, die ackpa-Tagung mit
Kommende im Herbst (ab 2015 umgekehrt) statt.
Dr. Schulte übergab die Moderation und Leitung des Kommende-Arbeitskreises im Jahr
2005 an die Autorin. Die „Kommende-Idee“ des praxisnahen, pragmatischen Austauschs
und die etwas anarchische, aber hochwirksame Vernetzung von Ideen und Projekten lebt
weiter. Die „Schätze“ an Erfahrung und Wissen, die sich im Alltag einer jeden psychiatrischen
Klinik ansammeln, werden miteinander geteilt. Powerpoint-Präsentationen sind bis heute
nicht Voraussetzung von Kommende-Beiträgen, auch wenn sie von den meisten Vortragenden
als praktische Unterstützung genutzt werden. Die vorgetragenen Daten sind nicht unbedingt
auf Signifikanz geprüft. Das Berichten, Erzählen und der Austausch hat Vorrang.
Die Kommende trifft sich nun seit 30 Jahren. Dieser kurze geschichtliche Rückblick
verdeutlicht: Psychiatriegeschichte wird jeden Moment, an vielen Orten, durch viele
Menschen, für viele Menschen gemacht.
Dr. Ingrid Munk
Vivantes Klinikum Neukölln
Rudower Straße 48
12351 Berlin
Ingrid.Munk@vivantes.de