Psychiatr Prax 2015; 42(05): 237-238
DOI: 10.1055/s-0035-1552638
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychiatrische Intensivstationen – Pro[*]

Psychiatric Intensive Care Units – Pro
Niels C. L. Mulder
Epidemiological and Social Psychiatric Research Institute, Department of Psychiatry, Erasmus MC, Parnassia Psychiatric Institute
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Prof. Dr. Niels C. L. Mulder
Professor of Public Mental Health, Epidemiological and Social Psychiatric Research Institute, Department of Psychiatry, Erasmus MC, Parnassia Psychiatric Institute, University Medical Center Rotterdam, The Netherlands

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Publication Date:
23 June 2015 (online)

 

Pro

Psychiatrische Patienten, die aufgrund einer Krisensituation eine akute stationäre Behandlung, ggf. sogar gegen ihren Willen, benötigen, sollten einen Anspruch auf höchste Qualität in der Behandlung und Pflege haben. Bislang wurden erst wenige Studien durchgeführt, die die Qualität und die Auswirkungen der häufig unfreiwilligen Notfallbehandlungen untersuchten, und dies trotz verschiedener bereits existierender Modelle psychiatrischer Intensivstationen in verschiedenen Ländern. Grundsätzlich ist das Ziel jeder stationären Aufnahme, Patienten wirksam, menschlich und sicher zu behandeln, mit so wenig Zwang wie möglich, und gleichzeitig zu versuchen, die Dauer der stationären Behandlung möglichst kurz zu halten.


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Die meisten Patienten, die eine derartige stationäre Behandlung benötigen, zeigen aufgrund ihrer psychiatrischen Symptome Verhaltensprobleme. Deshalb ist die Sicherstellung einer Behandlung und Pflege von hoher Qualität eine extreme Herausforderung für das klinische Personal. Dies bedarf eines multidisziplinären Teams aus Psychiatern, Pflegekräften, Psychologen und Nutzern von hinreichender Größe. Spezielles Training ist erforderlich für die deeskalative Handhabung akuter Krisen, die Verwendung von Medikamenten in Akutsituationen und den Umgang mit Aggression und Suizidalität. Außer gut geschultem Personal in genügender Besetzung ist nicht zuletzt auch eine spezifische architektonische Gestaltung erforderlich, um ein optimales Behandlungsangebot zu schaffen.

In den Niederlanden haben wir ein spezifisches Modell für die stationäre Behandlung akuter psychiatrischer Patienten geschaffen, die High & Intensiv Care (HIC) genannt wird. In dem HIC-Modell finden sich Elemente sowohl des Recovery-Modells als auch des medizinischen Modells integriert. Personalausstattung und Behandlungsmethoden im HIC-Modell wurden einer Liste praxiserprobter und evidenzbasierter Methoden entnommen, die früher in einer Literaturübersicht erarbeitet worden war [1]. Die Entscheidung, dabei bestimmte spezifische Elemente in das HIC-Modell zu integrieren, wurde durch eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe niederländischer Experten getroffen, die auch Vertreter der Nutzer und von Familienorganisationen einschloss. Zusätzlich zu den Anforderungen an Personalbesetzung und Behandlungsumstände wurden spezifische Anforderungen an die Architektur formuliert, gemäß den Prinzipien des „healing environment“. Dies sind z. B. Ein-Bett-Zimmer, große und helle Aufenthaltsräume und die Verfügbarkeit einer Aufenthaltsmöglichkeit im Freien für Patienten.

Behandlungselemente im HIC-Modell sind u. a. Methoden wie „Die ersten 5 Minuten“, wobei Einstellungen und Verhalten des Personals während der ersten 5 Minuten einer stationären Aufnahme beschrieben werden. Wenn ein Patient auf der Station eintrifft, bemühen sich die Beschäftigten, dass der Patient sich so wohl als möglich fühlt, womit sie eine Reduzierung von Gefühlen von Angst, Aggression und Entfremdung erreichen wollen. Kontakt mit dem Patienten und wesentlichen Bezugspersonen herzustellen, ist dabei der Schlüssel. Zusätzlich spielt eine häufige Risikobeurteilung in Bezug auf aggressives Verhalten eine große Rolle, wobei dreimal täglich während jeder Schicht standardisierte Beobachtungsskalen zur Anwendung kommen [2]. Dadurch erhalten die Beschäftigten zeitnah Informationen über mögliche Risiken für Erregung und Gewalt auf der Station, können dadurch proaktiv intervenieren und Eskalationen vermeiden.

In der HIC-Station integriert befindet sich eine zusätzliche Intensiveinheit (intensive care unit, ICU) für Patienten mit ausgeprägten Verhaltensproblemen. Hier kann eine kontinuierliche 1:1-Begleitung so lange wie nötig durchgeführt werden. Für extreme Umstände mit besonders ausgeprägten Verhaltensproblemen steht ein Isolierraum zur Verfügung, der maximal 24 Stunden benutzt werden kann. Jeder dort befindliche Patient wird kontinuierlich beobachtet. Zwang einschließlich Zwangsmedikation und Isolierung kommt nur zur Anwendung, wenn keine anderen Behandlungsmöglichkeiten mehr verfügbar sind. In den Niederlanden wird eine notfallmäßige Zwangsmedikation inzwischen als legitime Intervention angesehen in Fällen, in denen Patienten eine Gefahr für sich selbst oder andere auf der Station darstellen. Im Hinblick auf die Verletzung der Patientenautonomie werden Isolierung und Zwangsmedikation dabei als gleichwertig angesehen. Wenn daher in einer Notfallsituation eine Entscheidung über Isolierung oder Medikation ansteht, müssen der mögliche Schaden und Nutzen abgewogen werden. In jedem Fall müssen Zwangsmaßnahmen dokumentiert werden, die Daten werden regelmäßig mit den Mitgliedern des HIC-Behandlungsteams diskutiert. Die entsprechenden Daten müssen auch an ein nationales Register gemeldet werden, mithilfe dessen Qualitätsvergleiche im Sinne eines Benchmarkings angestellt werden.

Die Bestandteile des HIC-Modells fließen in eine „HIC Model Fidelity Scale“ (Modelltreue-Skala) ein, die gegenwärtig validiert wird. Wir beabsichtigen, diese Skala zu nutzen, um Zusammenhänge zwischen den Bestandteilen des HIC-Modells und Outcomeparametern wie der Zahl aggressiver Vorfälle, Zwangsmaßnahmen, Patientenzufriedenheit und Aufenthaltsdauer zu untersuchen.

In den Niederlanden wird das HIC-Modell von Professionellen, Nutzerorganisationen, Management und Versicherungsgesellschaften gut angenommen, weil es ein gut definiertes Modell darstellt, das die beste verfügbare Behandlung sicherstellen soll. Dies hat zu einer weitverbreiteten Implementierung des HIC-Modells in den Niederlanden geführt. Das HIC-Modell erlaubt auch eine wissenschaftliche Evaluation, weil es sich in der Model Fidelity Scale operationalisieren lässt, die die verfügbaren Behandlungsoptionen, Personalbesetzung und Aspekte der Architektur abbildet. Insofern kann das HIC-Modell zukünftig basierend auf wissenschaftlicher Evidenz weiter optimiert werden.


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Niels C. L. Mulder

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* Übersetzung: Tilman Steinert, Ravensburg


  • Literatur

  • 1 Voskes Y, Theunissen J, Widdershoven G. Best Practices rondom dwang reductie in de Geestelijke Gezondheidszorg. Amsterdam: VUMC & GGZ Nederland; 2011
  • 2 van de Sande R, Nijman H, Noorthoorn EO et al. Reduction of aggressive incidents and seclusion by means of short term risk assessment on acute psychiatric wards, a cluster randomized trial. British Journal of Psychiatry 2011; 199: 473-478

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Niels C. L. Mulder
Professor of Public Mental Health, Epidemiological and Social Psychiatric Research Institute, Department of Psychiatry, Erasmus MC, Parnassia Psychiatric Institute, University Medical Center Rotterdam, The Netherlands

  • Literatur

  • 1 Voskes Y, Theunissen J, Widdershoven G. Best Practices rondom dwang reductie in de Geestelijke Gezondheidszorg. Amsterdam: VUMC & GGZ Nederland; 2011
  • 2 van de Sande R, Nijman H, Noorthoorn EO et al. Reduction of aggressive incidents and seclusion by means of short term risk assessment on acute psychiatric wards, a cluster randomized trial. British Journal of Psychiatry 2011; 199: 473-478

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